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Florian Gerster fordert massive Kürzungen bei der Arbeitslosenunterstützung
Dietmar Henning 8. März 2002


Der designierte Chef der Bundesanstalt für Arbeit lässt die Katze aus dem Sack

Kaum hat Bundeskanzler Gerhard Schröder den sozialdemokratischen Sozialminister von Rheinland-Pfalz Florian Gerster zum zukünftigen Vorstandschef der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg (BA) ernannt, erklärt dieser im Magazin Der Spiegel, wie er sich die Reform der Behörde vorstellt: vor allem mit massiven Kürzungen bei den Arbeitslosen und einem grundlegenden Umbau des gesamten Sozialsystems.

Gerster zeichnet verantwortlich für das kürzlich auf Bundesebene eingeführte sogenannte „Mainzer Modell“ und sieht sich selbst in seiner Rolle als BA-Chef als „Manager eines Dienstleistungsunternehmens“.

In dem Interview verlangt er, die Bezugsdauer für ältere Arbeitslose solle von derzeit 36 Monaten schrittweise herabgesetzt werden. „Es hat seinen guten Grund, dass diese schon heute in der Regel zwölf Monate beträgt“, sagt er. Bei der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sollen die Leistungen auf das bedeutend niedrigere Sozialhilfeniveau zurückgeführt werden. Der Erwiderung der Spiegel-Redakteure: „Sagen Sie es doch ehrlicher: Sie wollen die Arbeitslosenhilfe abschaffen“, widerspricht er nicht.

Die Gelder, die jetzt in „weniger effiziente Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen“ investiert werden, sollen in Zukunft vor allem zur Subventionierung von Unternehmen zur Etablierung eines Niedriglohnsektors genutzt werden. Auf die Frage: „Verstehen wir Sie richtig? Sie wollen den Parkhauswächter lieber bezuschussen, als ihn zum Web-Designer umzuschulen“, antwortet Gerster: „Was hat es für einen Sinn, einem 50jährigen Gerüstbauer eine teure Computerumschulung zu finanzieren, mit der er dann doch keine Anstellung auf dem Arbeitsmarkt findet.“

Unterstützt wurden diese Vorschläge von der CDU/CSU und dem nordrhein-westfälischen SPD-Vorsitzenden und Sozialminister Harald Schartau. Letzterer strebt auf Landesebene einen sehr ähnlichen Weg beim Um- und Abbau der sozialen Sicherungssysteme an, wie ihn Gerster auf Bundesebene angekündigt hat. Schartau kritisierte in einem Gespräch mit der Rheinischen Post lediglich die Vorgehensweise Gersters. Er selbst verfolgt zwar dieselben Ziele, allerdings ohne groß für Schlagzeilen zu sorgen. Auch Schartau will den Druck auf Arbeitslose erhöhen. „Die Versicherten-Mentalität ‚Ich habe eingezahlt, also kriege ich jetzt auch was raus‘, müsse um den Gedanken der Pflicht zur Gegenleistung ergänzt werden“, zitiert die Rheinische Post Schartau.

Die anfängliche Kritik von Seiten der SPD und Grünen an Gersters jüngsten Äußerungen haben die gleiche Grundlage. Über bevorstehende harte Kürzungen im Sozialsystem sind sich innerhalb der SPD alle einig. Gerster wurde in Berlin nicht zufällig bereits als Bundesminister für eine mögliche Große Koalition nach den Bundestagswahlen gehandelt und nun auch nicht zufällig zum neuen Chef der Bundesanstalt für Arbeit ernannt. Immerhin hat Gerster im Spiegel- Interview nur das angekündigt, was er seit langem in aller Öffentlichkeit fordert.

Der als „Modernisierer“ betitelte Diplom-Psychologe Gerster setzt sich seit langem vehement für einen grundlegenden Wechsel in den Sozialsicherungssystemen ein. Schon vor fünf Jahren erhob er unzweideutige Forderungen in seinem Buch Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Gewinner und Verlierer im Sozialstaat. „Angesichts der Überlastung unserer Volkswirtschaft im internationalen Wettbewerb können nicht alle sozialpolitischen Errungenschaften der letzten Jahre beibehalten werden“, schrieb er darin. In dem Kapitel „Die Überwindung des Wohlfahrtsstaates“ verlangt er die „Hilfe zur Selbsthilfe: Rückkehr zur Subsidiarität“ und hebt die Bedeutung der „Mitwirkung und Eigenverantwortung“ in den Vordergrund.

Zum Schluss seines Buchs schreibt er auch, dass „die wirtschaftliche und soziale Krise in Deutschland objektive Ursachen“ habe. „Eine hoch entwickelte Industriegesellschaft, eine durch Kriege, Diktatur und Teilung belastete Nation tut sich schwer, nach Jahrzehnten beispiellosem wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Friedens die gesellschaftlichen Folgen der deutschen Einheit und den schärferen internationalen Wettbewerb zu bewältigen.“

Gersters Antwort auf die „gesellschaftlichen Folgen der deutschen Einheit und den schärferen internationalen Wettbewerb“ verfährt nach dem altbekannten Muster: nehmt von den Armen (den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern) und gebt den Reichen (den Unternehmern). Er hat dabei die uneingeschränkte Unterstützung der gesamten Bundesregierung. Wenn also in einer ersten Reaktion auf Gersters Äußerungen der CDU/CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber forderte, der Bundeskanzler müsse umgehend erklären, welche Arbeitsmarktpolitik der Kanzler vertritt, „die von Herrn Gerster oder die von Herrn Riester“, dann liegt dies völlig daneben. Riester und Gerster schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich.

So ist der jüngste Vorstoß von Bundesarbeitsminister Walter Riester, die Arbeitslosenstatistik neu zu ermitteln, durchaus im Sinne von Gerster. Dabei ging es nämlich weniger darum, die Arbeitslosenzahlen mit einem Rechentrick doch noch unter 3,5 Millionen zu drücken. Damit CDU/CSU und FDP Riesters Vorhaben nicht so billig für Wahlzwecke nutzen können, wurde es auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben. Es geht bei diesem Vorhaben vor allem darum, zunächst die Stimmung gegen Arbeitslose zu schüren, die „sowieso nicht mehr auf Arbeitssuche“ seien, um in einem zweiten Schritt diesen „Arbeitsunwilligen“ auch die finanzielle Unterstützung zu entziehen.

Die Personengruppe, die Riester ausdrücklich genannt hatte, waren die älteren Arbeitslosen, die angeblich eh nicht mehr arbeiten wollten, weil sie auf den Renteneintritt warten. Gemeint sind die 28 Prozent oder 1,2 Millionen 50- und über 50-jährigen der insgesamt 4,3 Millionen Arbeitslosen. Wenn sie nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, warum sollten sie dann Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung erhalten? Das ist die Frage, die sofort in die Diskussion getragen werden wird.


Die Hartz-Kommission

Wie die Reform der Bundesanstalt für Arbeit, sprich die Kürzungen letztlich genau aussehen, wird spätestens im August von der neu eingesetzten Kommission unter der Leitung von VW-Personalvorstand Dr. Peter Hartz konkreter dargelegt werden. Die von Hartz geleitete, angeblich „unabhängige“ Kommission wird die Mechanismen des Um- und Abbaus der Arbeitslosenversicherung ausarbeiten. Der VW-Manager Hartz ist die Personifizierung der „Modernisierer“ aus den Reihen der Sozialdemokraten, Gewerkschaften und Grünen, die sich anschicken, nach den Bundestagswahlen die Einschnitte ins Sozialsystem durchzusetzen.

Peter Hartz ist seit 45 Jahren Mitglied der IG Metall. Über die Gewerkschaft wurde er vor 25 Jahren Arbeitsdirektor der Dillinger Hütte-Saarstahl AG (DHS). Gemeinsam mit Oskar Lafontaine (SPD), dem damaligen Ministerpräsidenten im Saarland, und seinem Bruder Kurt Hartz, der als saarländischer IG-Metall-Chef die SPD-Landtagsfraktion leitete, spielte er als Arbeitsdirektor von Saarstahl eine Schlüsselrolle bei der systematischen Zerschlagung der saarländischen Stahlindustrie und der Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen. Nach „erfolgreich“ getaner Arbeit im Auftrag der Stahlindustrie wurde Hartz 1992/93 auf Betreiben des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und dem damaligen IG-Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler über die SPD-IGM-Seilschaft in den VW-Vorstand gehievt.

Hartz führte bei VW die Vier-Tage-Woche ein, senkte damit das Lohnniveau deutlich, flexibilisierte die Arbeitszeit und organisierte einen schleichenden Arbeitsplatzabbau. Das kürzlich umgesetzte Projekt „5000 mal 5000“, das dem VW-Konzern 20 Prozent an Personalkosten einspart, weil es sich die massive Arbeitslosigkeit zunutze macht, ist maßgeblich von Hartz in Zusammenarbeit mit SPD und Gewerkschaft ausgearbeitet worden.

Die „langfristige Neustrukturierung“ der Bundesanstalt für Arbeit, für die die Kommission unter Hartz eingesetzt wird, lässt also einiges erwarten – nur nicht, dass sie die Interessen der Arbeitslosen berücksichtigt. Denn bei der „Reform“ oder „Neustrukturierung“ geht es mitnichten um die Frage der schlechten Vermittlung. Die gesamte Debatte über dieses eine Thema hat vor allem erreicht, vom eigentlichen Problem, dem der wachsenden Massenarbeitslosigkeit, abzulenken.

Dies liegt allen Berliner Parteien am Herzen, da sie keine positive Antwort darauf haben. Mit zunehmendem technischen Fortschritt sinkt der Bedarf an menschlicher Arbeit. Immer weniger Menschen produzieren immer mehr Güter, Waren und Dienstleistungen. Aber anstatt diese Entwicklungen der Technologie gesellschaftlich-fortschrittlich zu nutzen, indem die notwendige Arbeit auf alle gleichermaßen verteilt wird, sozusagen eine Arbeitslosigkeit im positiven Sinne geschaffen wird, führt der Einsatz modernster Technik unter den bestehenden Verhältnissen, der Produktion nach Maßgabe des Profits – oder juristisch ausgedrückt: dem Privateigentum an den Produktionsmitteln – zu einem Anschwellen der Arbeitslosenzahlen und der Verelendung der arbeitenden Bevölkerung. Immer mehr Menschen werden aus dem Arbeitsprozess gedrängt und damit von der Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.

Die offizielle Politik reagiert darauf, indem sie den Druck auf die Arbeitslosen erhöht, Leistungen kürzt und einen Niedriglohnsektor aufbaut. Bereits im Jahre 1995 beschrieben die beiden Spiegel-Redakteure Hans-Peter Martin und Harald Schumann in ihrem Buch „Die Globalisierungsfalle“ dieses Szenario. Eine der zentralen Aussagen des Buches lautete, dass im kommenden Jahrhundert weltweit nur noch 20 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung Arbeit und ein ausreichendes Einkommen haben werden: „Ein Fünftel aller Arbeitsuchenden werden genügen, um alle Waren zu produzieren und die hochwertigen Dienstleistungen zu erbringen, die sich die Weltgesellschaft leisten kann. Diese 20 Prozent werden damit aktiv am Leben, Verdienen und Konsumieren teilnehmen; egal in welchem Land.“ Die restlichen 80 Prozent dagegen würden „gewaltige Probleme bekommen“.

Die „gewaltigen Probleme“ haben einen Namen: SPD, Gewerkschaften, Grüne, PDS, CDU/CSU und FDP.
 8. März 2002