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Vom
Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat
Daniel Kreutz [1] 25.
November 2002
Zur neoliberalen Systemveränderung in Deutschland
Mit der deutschen Vereinigung wurde 1990 nicht nur das Kapitel des ostdeutschen
„Sozialismus“, sondern auch das des westdeutschen „rheinischen
Kapitalismus“ geschlossen.
Seither wurden die bereits seit den späten 1970er Jahren zunehmenden sparpolitischen
Maßnahmen des „Sozialabbaus“ – im Sinne einer sukzessiven
Reduzierung von Sicherungsniveaus – erweitert um eine Dimension grundlegender
Strukturveränderungen und Paradigmenwechsel am System des „rheinischen
Sozialstaats“ selbst. Die immer noch gebräuchlichen Begrifflichkeiten
des „Sozialabbaus“ oder auch des „Umbaus des Sozialstaates“
greifen in so weit zu kurz, als sie die Dimension dieser Systemveränderung
gegen den Sozialstaat selbst nicht erfassen. die seit Beginn der 1990er Jahre
vor dem Hintergrund von so genannter „Standortdebatte“ (Globalisierung)
und Vereinigungsfolgen die herrschende deutsche Sozialpolitik maßgeblich
prägt.
I. Grundbedingungen
des „rheinischen“ Sozialstaats
Der den westdeutschen Nachkriegskapitalismus prägende Sozialstaatskonsens
zwischen
Lohnarbeit und Kapital verdankte sich wesentlich vier Faktoren:
1. Die scharfe soziale Spaltung des Weimarer Kapitalismus im Gefolge der Weltwirtschaftskrise
von 1928, die als wichtige Voraussetzung für den Siegeszug der Nazis galt,
sowie die Verstrickung von Großkapital und Hochfinanz in die Katastrophe
von 1933 hatten den Kapitalismus nach 1945 in eine tiefgreifende Legitimationskrise
gebracht.[2]
Der Rekonstruktion einer marktwirtschaftlichen Ordnung in Westdeutschland konnte
nur dadurch gesellschaftliche Akzeptanz gesichert werden, indem sie mit dem Versprechen
wirksamer sozialer Regulierung verbunden wurde, um das Wiederaufleben eines demokratiegefährdenden
sozialen Krisenszenarios wie im späten Weimar auszuschließen.
2. Die (maßgeblich von Adenauers Politik der Westintegration
herbeigeführte) deutsche Teilung machte Mechanismen des sozialen Ausgleichs
zur inneren Stabilisierung des „Frontstaats BRD“ erforderlich, um
„systemgefährdende“ Radikalisierungen gewerkschaftlicher Kämpfe
zu vermeiden.[3]
3. Der „Nachkriegsboom“ mit hohen Wachstumsraten ermöglichte
sozialen Fortschritt und sozialstaatlichen Ausbau vielfach auch ohne zugespitzte
Verteilungskonflikte. Der Anspruch der Arbeitnehmerschaft auf Teilhabe an den
Wachstumsund Produktivitätsgewinnen war dem Grunde nach nicht umstritten.
4. Nicht zuletzt durch die wiederholt unter Beweis gestellte Fähigkeit der
Gewerkschaftsbewegung zum Arbeitskampf bestand ein relatives Kräftegleichgewicht
zwischen Kapital und Arbeit. Da keine Seite in der Lage war, die andere machtpolitisch
zu dominieren, entwickelten sich vielfältige Formen des institutionalisierten
Interessenausgleichs.
Der Sozialstaatskonsens war gleichsam ein „historischer Kompromiss“
zu beiderseitigem Nutzen. Er sicherte einerseits die Einbindung der sozialdemokratisch
geführten Gewerkschaftsbewegung in die kapitalistische, wirtschaftlich wie
politisch in den Westen eingebundenen Wirtschaftsordnung und ermöglichte
andererseits die Realisierung sozialen Fortschritts – bis hin zu den Bestrebungen,
in Schule und Hochschule Klassenbarrieren beim Zugang zu Bildung abzubauen.
Die vielzitierte „soziale Marktwirtschaft“ war weniger ein „System“
als das Ergebnis des Klassenkompromisses aufgrund des relativen Gleichgewichts
der Kräfte, die weiterhin entgegengesetzte Gestaltungsziele im Rahmen des
Sozialstaatskonsenses verfolgten: während die Gewerkschaften und die politische
Linke soziale Regulierungen gegenüber dem Markt auszubauen suchten, verfolgten
Arbeitgeber und liberalkonservative Politik die gegenteilige Zielsetzung. Auf
Grund der objektiven Interessengegensätze blieb das relative Gleichgewicht
der Kräfte und die „sozialpartnerschaftliche“ Einhegung von Konflikten
stets prekär.
II. Vom „Vollbeschäftigungsstaat“
zur Instrumentalisierung der Massenerwerbslosigkeit
Der „rheinische“ Sozialstaat war strukturell auf Vollbeschäftigung
(Abwesenheit von Massenerwerbslosigkeit) ausgerichtet. Vollbeschäftigung
zählte zu den obersten staatspolitischen Zielen. Dies war nicht nur Ausdruck
des allgemeinen Wachstumsoptimismus, sondern auch der hegemonialen, aus der Weimarer
Katastrophe herrührenden Überzeugung, dass Massenerwerbslosigkeit –
insbesondere wenn sie dauerhaft auftritt – erhebliche Gefährdungspotentiale
für das friedliche Zusammenleben, die soziale Integrationsfähigkeit
der Gesellschaft und die Stabilität von Demokratie (und die wirtschaftliche
Prosperität) freisetze. Die Vorstellung dauerhaft gesicherter (wenngleich
patriarchalisch strukturierter) Vollbeschäftigung prägte maßgeblich
die Strukturen sozialer Sicherheit: der garantierte Zugang zu angemessener sozialer
Absicherung war Teil des sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsve
rhältnisses; Vollbeschäftigung war für eine stabile Finanzbasis
der paritätisch beitragsfinanzierten Sozialversicherung unerlässlich.
Steuerfinanzierte Sozialsysteme (wie Sozialhilfe, Kindergeld, Wohngeld) hatten
demgegenüber lediglich ergänzende Funktionen. Dem Verfassungsgebot von
der „Sozialpflichtigkeit des Eigentums“ entsprechend herrschte allerdings
weithin Konsens, dass die wirtschaftlich Starken (Arbeitgeber und Vermögensbesitzer)
auch steuerlich angemessen zur Finanzierung des Sozialstaats beizutragen haben.
Das weitgehend durch Arbeitsrecht und Flächentarifverträge regulierte
(patriarchalische) Normalarbeitsverhältnis galt als selbstverständlicher
Ausfluss des (z.B. in der NRW-Landesverfassung ausdrücklich verankerten)
Anspruchs der Arbeitnehmerschaft, an der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen
im Sozialstaat gleichberechtigt mitzuwirken.
Stagnative Wirtschaftsentwicklungen ließen die Verteilungsspielräume schrumpfen
und führten zu vermehrten Verteilungskonflikten. Mit der wiederauflebenden
Massenerwerbslosigkeit [4] begann die Erosion der Finanzbasis
der Sozialversicherung.
Der Aufbruch von Frauen aus dem partiarchalischen Lebensmodell der Hausfrauenehe
zugunsten selbstbestimmterer und ökonomisch unabhängigerer Lebensformen
stellte zugleich neue Anforderungen an den Arbeitsmarkt und die gesellschaftliche
Organisation von Erziehungs- und Pflegearbeit. Seit der „rheinische“
Sozialstaat derart in die Krise geriet, war die Bindung von sozialer Sicherheit
an Erwerbsarbeit vielfältiger und oft berechtigter Kritik ausgesetzt. So
wurde von feministischer Seite zu Recht der regelhafte Ausschluss von Frauen
aus der über Erwerbsarbeit vermittelten sozialen Sicherung angegriffen.
Die rationalisierungsbedingt wachsende Arbeitsplatzlücke und steigende
Erwerbslosigkeit führte ebenfalls
zu Forderungen nach einer stärkeren Entkoppelung von Erwerbsarbeit und sozialer
Sicherung durch verstärkte Steuer – statt Beitragsfinanzierung, um
auch Erwerbslosen eine uneingeschränkte Absicherung zu ermöglichen.
Teils
wurde dabei allerdings übersehen: nicht die Vollbeschäftigungsorientierung
des Sozialstaats (und damit die lohnbezogene Beitragsfinanzierung der Sozialversicherung)
ist das Problem, sondern das Unvermögen des Sozialstaats, das Vollbeschäftigungsversprechen
auch unter ungünstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und auch gegenüber
Frauen einzulösen. Bestrebungen für eine erneuerte, zukunftsfähige
Sozialstaatlichkeit werden sich dem Ziel einer „Neuen Vollbeschäftigung“
[5] um so mehr stellen müssen.
Als die Finanzierungsprobleme der beitragsfinanzierten Sozialversicherung aufgrund
der strukturellen Erwerbslosigkeit offenkundig wurden, reagierte die Politik zunächst
mit „Sozialabbau“ und Kurs auf steuerliche Entlastungen der Wirtschaft.
Die Entdekkung des Rotstifts als wichtigem Werkzeug der Sozialpolitik datiert
aus der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Schon die sozialliberale Regierung
unter Helmut Schmidt („Die Pferde müssen wieder saufen“) huldigte
der Vorstellung, dass „Wachstum und Beschäftigung“ insbesondere
durch Entlastungen der „Leistungsträger“ (Arbeitgeber) stimuliert
werden müssten. Mit dem Haushaltsstrukturgesetz 1981 wurde erstmals der sozialhilferechtliche
Bedarfsdeckungsgrundsatz in Frage gestellt, indem der Teuerungsausgleich der Sozialhilfesätze
eingeschränkt wurde. Gegen die Sparpolitik der sozialliberalen Koalition
mobilisierten die Gewerkschaften 1982 zu bundesweiten Demonstrationen. [6]
Die 1980er Jahre wurden das Jahrzehnt des „Sozialabbaus“, d.h. einer
Absenkung von Sicherungsniveaus und Einschränkung sozialrechtlicher Ansprüche
der Versicherten und Leistungsbeziehenden. Die Liste der gesetzgeberischen Eingriffe
in das soziale Leistungsrecht ist bei weitem zu umfangreich, um sie hier wiedergeben
zu können. Die von Stichwortgebern aus Arbeitgeberverbänden inspirierte
Philosophie der konservativ-liberalen Koalition zielte darauf, durch „maßvolle“
Leistungskürzungen und „Ausgabendisziplin“ die Sozialsysteme
finanziell zu stabilisieren und zugleich mit einer angebotsorientierten Politik
der Deregulierung des Arbeitsmarktes (Begünstigung prekärer Beschäftigungsformen
jenseits gesicherter „Normalarbeit“ und Abbau „überzogener“
Arbeitnehmerrechte) und steuerlicher Entlastungen der Arbeitgeber das Wirtschaftswachstum
zu stimulieren. Gleichwohl ließ der wirtschaftliche Aufschwung in der zweiten
Hälfte der 1980er Jahre das Phänomen der „Entkoppelung von Wachstum
und Beschäftigung“ deutlich hervortreten und widerlegte schlagend die
Philosophie, dass „die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und
die Arbeitsplätze von übermorgen“ seien.
Von gleichsam „strategischer“ Bedeutung für die weitere Entwicklung
wurde indes, dass die Leistungskürzungen bei der Arbeitslosenversicherung
in Verbindung mit dem einsetzenden Druck zur Annahme unterwertiger Beschäftigung
den Schrecken der Erwerbslosigkeit für die beschäftigten ArbeitnehmerInnen
sukzessive erhöhten. Dies steigerte den disziplinierenden Druck der Massenerwerbslosigkeit
und e rschwerte gewerkschaftliche Gegenwehr in den Betrieben. Die aktive Wahrnehmung
von Arbeitnehmerrechten aus Betriebsverfassung und Tarifvertrag erschien zunehmend
als persönliches Risiko. Zudem hatte die Änderung des Paragraphen
116 AFG zum „Anti-Streik-Paragraphen“ [7] die „kalte
Aussperrung“ zu einer scharfen Waffe gegen die Gewerkschaften gemacht.
Das gesellschaftliche Kräfteverhältnis wurde sukzessive zu Gunsten
der Kapitalseite zu verschoben. Seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre
verlagerten die Tarifauseinandersetzungen ihr Thema von Verbesserungen für
die Beschäftigten zunehmend hin zur
Abwehr offensiver Deregulierungsbestrebungen der Arbeitgeber – mit allenfalls
mäßigem Erfolg.
III. Neoliberale Revolution
gegen den Sozialstaat
Die Verwendung des Begriffs „Revolution“ rechtfertigt sich daher,
dass der neoliberal inspirierte Gesellschaftsumbau nahezu sämtliche Lebens-
und Politikbereiche erfasst und grundlegend umkrempelt. Näher beleuchtet
werden im Folgenden allerdings nur die Grundzüge von Veränderungen,
die sich auf den Sozialstaat auswirken.
Der Zusammenfall von internationaler Rezession und vereinigungsbedingtem Zusammenbruch
der ostdeutschen Wirtschaft Anfang der 1990er Jahre sorgte dafür, dass die
von Arbeitgeberverbänden und liberalkonservativer Politik machtvoll inszenierte
Diskussion über eine akute Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland
im „globalisierten“ Wettbewerb auch in der Alltagswahrnehmung plausibel
erschien. Gleichwohl handelte sich um eine interessengeleitete „Gespensterdebatte“,
die auf nichts anderes zielte, als die Wirtschaft endlich von den Kosten eines
angeblich „überbordenden“ Wohlfahrtsstaats zu entlasten.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung schrieb
damals:
„Die Diagnose einer Strukturkrise für Westdeutschland
wird mit dem Schlagwort von der Gefährdung des „Standorts Deutschland“
Reaktion auf die Arbeitskämpfe in der Metall- und Druckindustrie zur Durchsetzung
der 35-Stunden-Woche 1984 vorangetrieben. Das ist nunmehr das dritte Mal in gut
10 Jahren, daß eine Diskussion dieser Art geführt wird. Geradezu reflexartig
wird jede konjunkturelle Abschwächung von Interessenvertretern und Politikern
als Standortkrise gedeutet und werden die gleichen Rezepte zur dauerhaften Gesundung
angeboten. ... Offenbar bieten nun die strukturelle Schwäche der ostdeutschen
Wirtschaft und die Rezession im Westen erneut Gelegenheit, mit noch größerer
Härte als zuvor die Standortfrage voranzutreiben.“ [8]
Und:
„In der Standortdebatte wird ein Problem diskutiert, das es
in der behaupteten Art weder jetzt gibt, noch in der Vergangenheit in Deutschland
gab. Keine empirische Untersuchung der jüngsten Zeit und keine Untersuchung
in den Jahren davor hat einen tiefgreifenden Mangel an internationaler Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Industrie nachweisen können.“ [9]
Mit dem Zusammenbruch des „Realsozialismus“ und der deutschen Vereinigung
war auf Seiten der Wirtschaft das Erfordernis, sozialen Frieden durch sozialen
Ausgleich zu sichern, restlos entfallen. „Wir müssen die Krise jetzt
nutzen, denn jetzt sind die Menschen reif“, verkündete Arbeitgeber-Chef
Olaf Henkel 1992 in Anwesenheit des Kanzlers vor dem CDU-Wirtschaftsrat; der soziale
Friede dürfe „nicht länger zur Monstranz gemacht werden“.
Damit wurde der Sozialstaatskonsens abschließend
einseitig aufgekündigt. Die Motive sind schlicht verteilungspolitischer Natur.
Die Arbeitgeber suchen sich der „marktfremden“ Kosten, die ihnen die
Mitverantwortung für die Finanzierung des Sozialstaats auferlegte, zu entledigen.
Im Zentrum der neoliberalen Offensive stehen seither die „Steuer- und Abgabenbelastung
der Wirtschaft“ und die „Arbeitskosten“ generell, insbesondere
aber die als „Lohnzusatzkosten“ bezeichneten Sozialversicherungsbeiträge.
Diese vor allem deshalb, weil sie nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die
ArbeitnehmerInnen belasten und sich daher am Besten für eine populistische
Skandalisierung eigneten. Dabei stehen die Beitragserhöhungen Anfang der
1990er Jahre nicht zuletzt in Zusammenhang mit der einseitigen Überwälzung
von Folgelasten der deutschen Vereinigung: die Sozialversicherungsträger
im Westen haben die strukturellen Defizite der ostdeutschen Sozialversicherungsträger
vorrangig aus Eigenmitteln auszugleichen. In der gesetzlichen Rentenversicherung
etwa belief sich der Transfer zwischen 1991 und 1999 auf 112 Mrd. DM. [10]
Die herrschenden Diskussionen über einen „Umbau“ des Sozialstaats
in den 1990er Jahren vollzogen einen heimlichen Paradigmenwechsel: Sie zielen
nicht länger darauf, eine neue finanzielle Stabilisierung der Sozialversicherung
auf dem Wege des Abbaus der Erwerbslosigkeit zu erreichen. Das Vollbeschäftigungsziel
des alten Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) wurde schließlich mit der
Generalreform zum SGB III gestrichen, Massenerwerbslosigkeit in der öffentlichen
Diskussion „endgültig“ von einem gesellschaftlichen zu einem
individuellen Defizit umdefiniert. Die strukturelle Massenerwerbslosigkeit wird
seither als gegeben hingenommen und die Frage heißt nun, wie die Sozialversicherung
so zurückgeschrumpft werden kann, dass sie trotz der arbeitsmarktbedingten
Einnahmeausfälle wirtschaftlich funktionieren kann. In dieser Entkoppelung
von sozialer Sicherung und Beschäftigung liegt ein konzeptioneller Bruch
mit einem konstitutiven Paradigma des „rheinischen“ Sozialstaats.
Damit wird der mit der Erwerbslosigkeit verbundene faktische Rückzug der
Wirtschaft aus ihrer Mitverantwortung für die Sozialversicherung gleichsam
auf die „konzeptionelle Ebene“ übertragen.
Die unter den seither herrschenden Doktrinen der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik
vorangetriebenen Steuer- und Abgabenentlastungen zugunsten der Wirtschaft vertiefen
nicht nur die Finanzkrise der beitragsfinanzierten Sozialversicherung, sondern
auch die der öffentlichen Haushalte. Damit produziert die neoliberal inspirierte
Politik selbst jene „Sachzwänge“, auf die mit vermehrter „Sparpolitik“
in sozial relevanten Ausgabenbereichen reagiert wird. Der neue shareholder-Kapitalismus
unter dem Regime der deregulierten internationalen Finanzmärkte verkehrt
den Verfassungsgrundsatz von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, dessen Gebrauch
der Allgemeinheit dienen soll, ins Gegenteil: Die sozialen Sicherungssysteme werden
ungeachtet wachsender Anforderungen durch die soziale Krise gleichsam der Reichtumsförderung
tributpflichtig; sozial unverantwortliche Arbeitsplatzvernichtung und kostensenkender
Druck auf die verbleibenden Beschäftigten dient der einseitigen Befriedigung
der Aktionäre.
Es geht nicht nur um den „Rückzug der Politik“ aus der Wirtschaft,
sondern auch um einen möglichst weitgehenden Umbau öffentlicher und
sozialstaatlicher Infrastrukturen nach dem Vorbild ökonomischer Wettbewerbsmärkte
– gleichsam eine „Ökonomisierung des Politischen“, die
die „Entpolitisierung der Ökonomie“ ergänzt. Das quer durch
die Sozialpolitik geisternde Wort von der „Kundenorientierung“ deutet
die Analogie zu normalen Güter- und Dienstleistungsmärkten an. Damit
gelingt es auch, die frühere, emanzipatorisch orientierte Kritik an bevormundenden,
bürokratischen Strukturen, wie sie insbesondere von den Grünen formuliert
wurde, teilweise zur Legitimation des marktförmigen Umbaus heran zu ziehen.
Dabei hat auch die Debatte um „Kundenorientierung“ im Sozialbereich
gespenstische Züge: Kunde am Markt ist nämlich stets der, der bezahlt.
Dies sind die auf soziale Leistungen angewiesenen Menschen nur ausnahmsweise,
nämlich dort, wo sie als Selbstzahler auftreten. Ansonsten fällt die
Kundenrolle im Sozial- und Gesundheitswesen den Kostenträgern (Sozialversicherungsträger,
Sozialhilfeträger) zu. Unter dem Druck von „Beitragsstabilität“,
„Haushaltskonsolidierung“ und Anforderungen zur Steigerung der „Wirtschaftlichkeit“
nutzen die Kostenträger ihre Marktmacht, um die Vergütungen für
die Träger sozialer Einrichtungen und Dienstleistungen zu drücken. Nicht
zufällig sind es gerade Tarifverträge mit sozialen und arbeitsmarktpolitischen
Trägern, die (für Beschäftigte in arbeitsmarktpolitischen Programmen)
Niedrigentlohnung unterhalb früherer Tarifstandards ermöglichen.
Gegenüber den „Modernisierungsverlierern“ werden systematisch
die Schrauben angezogen. Ihnen tritt der „workfare state“ in bemerkenswertem
Gegensatz zu seiner „liberalen“ Etikettierung um so mehr als „strafender
Staat“ gegenüber. Die qualitative Verschlechterung der Absicherung
bei Erwerbslosigkeit und die mit dem „Lohnabstandsgebot“ legitimierte
relative Absenkung des Sozialhilfeniveaus, kombiniert mit schärferen Auflagen
für die Leistungsberechtigten, öffnet der Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen
und Arbeitsentgelten nach unten neue Spielräume. Orientiert an US-amerikanischen
Vorbildern soll jede Arbeit besser sein als keine.
In den damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne bestand Mitte der 1990er
Jahre Zurchaus ein Bewusstsein über den „radikalreformerischen“,
systemverändernden Charakter der konservativ-liberalen Politik. So hieß
es etwa im ersten rotgrünen Koalitionsvertrag in NRW von 1995:
„Mit ihrer Politik sozialer Demontage und der Begünstigung
der wirtschaftlich Starken zu Lasten der Schwachen gefährdet die amtierende
Bundesregierung den Fortbestand des Sozialstaats und die Zukunftsperspektiven
der solidarischen Gesellschaft in Deutschland. Deshalb besteht eine Hauptaufgabe
nordrhein-westfälischer Landespolitik darin, darauf hinzuwirken, dass die
Demontage des Sozialstaats durch die Bonner Koalition gestoppt und Perspektiven
für eine solidarische Weiterentwicklung des Sozialstaats eröffnet werden.“
Im Folgenden werden anhand einiger Bereiche wesentliche Veränderungen
(1990 – 1998) knapp skizziert.
1. Pflegeversicherung
Prototyp einer „post-sozialstaatlichen“ Sozialversicherung wurde die
Pflegeversicherung (SGB XI), deren Leistungen aus Gründen der „Beitragsstabilität“
von vornherein auf eine unzureichende „Grundabsicherung“ mit nicht
dynamisierten Festbeträgen reduziert sind und die einseitig von den abhängig
Beschäftigten finanziert werden muss [11]. Die die sozialstaatliche
Sozialversicherung tragenden Strukturprinzipien der paritätischen Finanzierung
durch Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen und des „vo rrangigen“ Sicherungssystems,
das im Regelfall eine Inanspruchnahme subsidiärer Sozialhilfeleistungen entbehrlich
macht, wurden aufgegeben.
Das SGB XI zielt nicht auf eine durchgreifende Verbesserung der schon vormals
prekären Pflegequalität, sondern darauf, ein Gutteil der bislang über
die Sozialhilfe finanzierten Pflegeaufwendungen von den öffentlichen Haushalten
auf die Versichertengemeinschaft zu überwälzen. Mit dem SGB XI wurden
zugleich die pflegerischen Infrastrukturen in einen ökonomischen Wettbewerbsmarkt
verwandelt, Dies bedeutet nicht nur ungehinderten Marktzugang für privat-gewerbliche
Investoren, für die Pflege der Kapitalverwertung dient, sondern auch den
Zwang für alle öffentlichen und freigemeinnützigen Pflegeeinrichtungen,
sich „als Unternehmen“ am Markt zu behaupten. Die Erbringung der menschlichen
Dienstleistung Pflege wird zergliedert in abrechnungsfähige Einzelleistungen
mit oft realitätsfremden Minutenwerten. Insbesondere die Kommunalverbände
(die Kommunen sind Kostenträger für die über das SGB XI hinausgehenden
Aufwendungen, soweit die Pflegebedürftigen diese nicht selbst bezahlen können)
nutzen ihre starke Position als Kostenträger, um in den Pflegesatzverhandlungen
als Preisdrücker zu agieren. In Folge dessen hat sich die Situation der Pflegebedürftigen
wie der professionell Pflegenden seit Einführung der Pflegeversicherung weiter
verschlechtert. Verletzungen der Menschenwürde sind unvermeidlicher Alltag.
2. Arbeitslosenversicherung/Arbeitsverwaltung
In der Arbeitslosenversicherung sorgten weitere Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen
für eine stärkere Annäherung von Sicherungsniveaus und –qualität
an die Sozialhilfe, obwohl bereits ein Drittel der registrierten Erwerbslosen
ohne Leistungsanspruch blieben. Hervorzuheben ist insbesondere die automatische
jährliche Absenkung um 3 v.H. bei der Arbeitslosenhilfe (ALHI). Der disziplinierende
Schrecken der Langzeiterwerbslosigkeit erreichte dadurch eine neue, bislang unbekannte
Qualität. Insbesondere durch die Aufhebung des Berufsschutzes [12]
wurde die „Zumutbarkeit“ neuer Arbeitsverhältnisse erheblich
verschärft. Nach entsprechender Dauer der Erwerbslosigkeit kann auch der
Ingenieurin eine Putzstelle zugemutet werden. Die Beauftragung privat-gewerblicher
Dritter mit Aufgaben der Arbeitsvermittlung leitete die Privatisierung eines „Kerngeschäfts“
der Arbeitsverwaltung ein. Insbesondere in der Jugendberufshilfe löste der
Zwang zur Ausschreibung von Aufträgen durch die Arbeitsämter einen Preiswettbewerb
aus, in dem sich teils neue Großanbieter mit fragwürdigen Beschäftigungsverhältnissen
gegen bewährte und engagierte Träger durchsetzten. Mit der – schließlich
auch „förderschädlichen“, d.h. nicht mehr kompensierbaren
– Kürzung der ABM-Entgelte auf 80 vH des tariflichen bzw. ortsüblichen
Arbeitsentgelts brach der Gesetzgeber mit dem Grundsatz „gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ und leitete die Deregulierung des Arbeitsmarkts zugunsten
verstärkter Niedriglohnbeschäftigung ein. Ausgebaut wurden dagegen solche
Instrumente der Arbeitsmarktpolitik, die eher Angebote an Arbeitgeber als an Erwerbslose
sind: Lohnkostenzuschüsse und „betriebsnahe“ Qualifizierung,
auch unterhalb anerkannter Berufsabschlüsse.
Insgesamt wandelten sich Arbeitslosenversicherung und Arbeitsverwaltung von einem
Instrument der Absicherung und Hilfe für Erwerbslose immer stärker zu
einer „wirtschaftsnahen Dienstleistung“.
3. Gesundheitswesen/Gesetzliche Krankenversicherung
Die Gesundheitsreformen unter der Kohl-Regierung in den 1990er Jahren basierten
– ähnlich der Standortdebatte – auf einer Geisterdiskussion über
eine angebliche „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen. Tatsächlich
blieben die Ausgaben gemessen an gesamtwirtschaftlichen Parametern (Bruttoinlandsprodukt)
relativ konstant [13], während die Scherenentwicklung von
Einnahmen und Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) vor allem auf
die arbeitsmarktbedingten Einnahmeausfälle und Mehraufwendungen (Armut macht
krank!) zurückzuführen ist. Die Eingriffe in die GKV setzten erstens
mit der Ausweitung der Zuzahlungsbelastung von Kranken den Weg eines „kalten
Ausstiegs“ aus der paritätischen Finanzierung von Leistungen des Gesundheitswesens
sowie aus dem Solidarprinzip der GKV, wonach die Gesunden für die Kranken
einstehen, fort. Zweitens wurden die Weichen auf einen
Umbau des Gesundheitswesens nach dem Vorbild ökonomischer Wettbewerbsmärkte
gestellt. Dies betrifft einerseits den Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungsträgern,
dessen für einzelne Kassen ruinöse Auswirkungen (Risikoselektion) sogleich
mit dem Risikostrukturausgleich (RSA) abgefedert werden mussten. Andererseits
betrifft dies die Beziehungen zwischen Kassen und Leistungserbringern: Krankenhäuser
müssen fortan zunehmend wie renditeorientierte „Wirtschaftsunternehmen“
agieren, um sich „am Markt zu behaupten“. Simulierte Preise (Fallpauschalen,
Sonderentgelte) und der Sparzwang der sektoralen Budgetierung führten zu
einer weitergehenden Ökonomisierung des Arzt-Patienten-Verhältnisses.
Die Frage, ob der Patient sich „rechnet“, beeinflusst zunehmend die
Zumessung von Leistungen.
Der beabsichtigte Umbau der GKV nach dem Beispiel der privaten Krankenversicherung
(Einführung von Beitragsrückgewähr, Selbstbehalten), die Aufspaltung
des Leistungskatalogs in versicherungsfinanzierte Pflichtleistungen und privat
abzusichernde Wahlleistungen oder die von Arbeitgeberverbänden geforderte
Einfrierung der Arbeitgeberbeiträge scheiterte am Widerstand der damaligen
rot-grünen Opposition.
4. Sozialhilfe
In der Sozialhilfe wurde der Bedarfsdeckungsgrundsatz mit willkürlichen bundesrechtlichen
Deckelungen der jährlichen Regelsatzanpassungen und der nachfolgenden Koppelung
an die Rentenanpassung vollends zur leeren Floskel, während das armenpolizeiliche
Instrumentarium der „Missbrauchsbekämpfung“ und der Sanktionen
gegen Hilfeberechtigte, die „zumutbare“ Arbeit „verweigern“,
qualitativ verschärft wurden. So wurde der frühere Ermessensspielraum
der Sozialämter, bei „Arbeitsverweigerung“ Leistungskürzungen
zu verhängen, durch eine Muss-Vorschrift abgelöst; nur die gänzliche
Streichung der Hilfe bleibt noch „Ermessensentscheidung“. Seither
ist die Sicherung des Existenzminimums an Verhaltensvoraussetzungen der EmpfängerInnen
jenseits einer gegebenen Bedürftigkeit geknüpft.
Das Sozialhilferecht des „rheinischen“ Sozialstaats hatte weitestgehend
auf Vorbedingungen für den Leistungsbezug verzichtet, da die Sozialhilfe
die materielle Einlösung des Verfassungsgebots vom Schutz der unteilbaren
Menschenwürde darstellte. Es sollte der Mensch per se einen Anspruch auf
das für ein würdiges Leben Notwendige [14] haben,
damit niemand genötigt sei, sein Dasein in menschenunwürdigen Verhältnissen
zu fristen. Der Grundsatz der Unteilbarkeit der Menschenwürde wurde in doppelter
Weise gebrochen:
a. Das im Zuge der Einschränkung von Art. 16 GG (Grundrecht
auf Asyl) neu geschaffene Asylbewerber-Leistungsgesetz grenzt die asylsuchenden
Flüchtlinge aus dem Schutz- und Hilfebereich des BSHG aus. Dieses rassistische
Sondergesetz bewertet die Menschenwürde der Betroffenen um mindestens ein
Fünftel niedriger, verweigert ihnen einen selbstständige Lebensführung
und schränkt den Zugang zu medizinischer Versorgung empfindlich ein.
b. Anspruch auf das Existenzminimum hat nur noch derjenige, der nachweislich aktiv
und bedingungslos (bis hin zur sozialhilferechtlichen Pflichtarbeit ohne Arbeitnehmer-Status)
auf die Vermeidung seiner Sozialhilfeberechtigung hinwirkt, Wer dem nicht nachkommen
kann oder will, wird zur Erlangung des Existenzminimums gleichsam „von Staats
wegen“ auf Existenzsicherungskriminalität oder Straßenbettelei
verwiesen.
In der Behindertenhilfe wurden die Beziehungen zwischen Sozialhilfeträger
und den Trägern (Anbietern) der sozialen Hilfen im Interesse von „mehr
Transparenz und Wirtschaftlichkeit“ in marktförmiger Weise verändert.
Die Entwicklung zielt in die gleiche Richtung wie im Gesundheitswesen und in der
Altenpflege.
5. Tarifpolitik
Die Tarifpolitik der 1990er Jahre könnte überschrieben werden mit „Tarifdemontage
per Tarifvertrag“.. Durch Massenerwerbslosigkeit und arbeitsmarktpolitische
Deregulierung geschwächt, hielten die Gewerkschaften der ideologischen Offensive
der „Standortsicherer“ nicht Stand, zumal sozialdemokratische „Modernisierer“
auch in ihren Reihen vermehrt an Gewicht gewannen. In einer Welle einzelbetrieblicher
Erpressungen von Betriebsräten wurden zur „Standort- und Beschäftigungssicherung“
kostensenkende und oft tarifwidrige Vereinbarungen getroffen [15].
Die Tragfähigkeit der Flächentarifverträge wurde „von unten“
her ausgehöhlt; der Schrecken der Erwerbslosigkeit lähmte wirksam die
Fähigkeit von Belegschaften und Gewerkschaften, die Tarifrechte zu wahren.
Die immer wütenderen Angriffe der Arbeitgeber gegen den Flächentarifvertrag
beantworteten die Gewerkschaften mit dem Angebot zur „Reform“ derselben.
So wurden vormals untertarifliche „Einstiegslohngruppen“ für
neu eingestellte Erwerbslose und vielfältige Arbeitszeitflexibilisierungen
ermöglicht, die in Richtung der Arbeitgeber-Vision von der „atmenden
Fabrik“ zielen. Hatte im „rheinischen Kapitalismus“ die konfliktfähige
IG Metall faktisch die Tarifführerschaft im Geleitzug der DGB-Gewerkschaften
inne, wurde nunmehr die sozialpartnerschaftliche IG BCE (vormals IG Chemie) zur
Speerspitze tarifpolitischer „Modernisierung“.
Mit Klaus Zwickels Angebot zu einem „Bündnis für Arbeit“,
in das er als Gegenleistung für einen Beschäftigungsaufbau lohnpolitische
Zurückhaltung einzubringen versprach, war die letzte Bastion gegen die von
Arbeitgebern und Regierung ve rlangte „Lohnzurückhaltung“ gefallen.
Damit hatten auch die Gewerkschaften akzeptiert, dass es den von den Neoliberalen
behaupteten Zusammenhang von Lohnhöhe und Beschäftigung gebe. Die Tarifpolitik
der Lohnzurückhaltung begünstigt die Arbeitgeber nicht nur in der Primärverteilung
zwischen Gewinn- und Erwerbseinkommen. Sie geht zugleich zu Lasten der Sozialversicherung,
deren Beitragseinnahmen weiter zurückgehen; zu Lasten der RentnerInnen, deren
Rentenanpassung der Nettolohnentwicklung folgen; schließlich zu Lasten der
Sozialhilfeberechtigten, seit die Regelsatzentwicklung in systemwidriger Weise
an die Rentenanpassung gebunden wurde.
IV. Zur Sozialpolitik von Rot-Grün
1998 wurde erstmals eine amtierende Bundesregierung durch Wahlen abgelöst.
Von der neuen, rot-grünen Regierung erwarteten viele WählerInnen einen
Politikwechsel zu mehr sozialer Gerechtigkeit–mehr Verteilungsgerechtigkeit
gegen das Auseinanderdriften von Reich und Arm, wirksamere Bekämpfung der
Erwerbslosigkeit und mehr Stabilität der sozialen Sicherung. Wer indes die
sozialdemokratische Politik auf Landesebene [16] in den 1990er
Jahren und die politische Entwicklung der Grünen im gleichen Zeitraum intensiver
beobachten konnte, konnte bereits damals kaum zweifeln, dass sich solche Erwartungen
bald als Illusion erweisen würden. Statt die neoliberale Revolution gegen
den Sozialstaat zurückzudrängen, wird sie von der Regierung der Neuen
Mitte [17] in bislang unbekannter Weise vorangetrieben. Die
nachfolgenden Beispiele mögen dies veranschaulichen:
Rentenreform
Auch die rot-grüne Rentenreform wurde mit einer „Geisterdebatte“
legitimiert: ähnlich wie bei den Gesundheitsreformen wurde eine systemsprengende
„Kostenexplosion“ behauptet, für die die „demografische
Entwicklung“ verantwortlich sei. Maßgeblich für die finanzielle
Tragfähigkeit der GRV ist aber nicht das zahlenmäßige Verhältnis
zwischen jüngeren und älteren Generationen, sondern das von Beschäftigungsstand,
Entgelthöhe und Produktivitätsentwicklung abhängige Beitragsvolumen.
Die rotgrüne Rentenreform brach mit gleich drei Strukturprinzipien der Gesetzlichen
Rentenversicherung (GRV):
- mit der paritätischen
Finanzierung – unmittelbarer Ausfluss des Sozialstaatsgebots und der Sozialpflichtigkeit
des Eigentums: um eine annähernd gleichhohe Alterssicherung zu erlangen,
haben ArbeitnehmerInnen zukünftig allein von ihnen finanzierte Privatversicherungen
abzuschließen.
- mit dem Grundsatz der „Lebensstandardsicherung“, der 1957 in die GRV eingeführt
wurde und der nach herrschender Meinung mit einem Rentenniveau von 70 vH erfüllt
war: das Rentenniveau sinkt in Folge der Reform sukzessive auf zirka 64 vH. [18]
- mit der „ordnungspolitischen
Zentralität“ der GRV, d.h. ihrer zentralen Bedeutung für den Regelfall
einer angemessenen Alterssicherung.
Die Reform baut gezielt die soziale Rente zugunsten einer Teilprivatisierung
des Altersrisikos
ab. Dabei ist die kapitalgedeckte Privatvorsorge nicht besser geeignet als die
umlagefinanzierte soziale Rente, der „demografischen Herausforderung“
zu begegnen. Sie setzt im Gegenteil die Alterssicherung zusätzlichen Risiken
der deregulierten Finanzmärkte aus. Die Reform entfaltet einen Systemwettbewerb
zwischen GRV und Privatrente, der zugunsten letzterer entschieden werden wird,
wenn sich unter jüngeren Beschäftigten individuelle Rendite-Kalküle
gegen das Prinzip der intergenerativen Solidarität durchsetzen. Bei Fortsetzung
des herrschenden, politisch verursachten Meinungsklimas wird dies auch eintreten.
Die Schlüsselfrage cui prodest? (wem nützt es?) ist leicht beantwortet:
Die Reform dient dem Rückzug der Arbeitgeber aus ihrer Mitverantwortung für
die Finanzierung der Alterssicherung und eröffnet den privaten Finanzdienstleistern
einen gigantischen neuen Markt. Dafür nimmt die Regierung nicht nur die absehbare
Wiederbelebung der Altersarmut in Kauf, sondern lässt auch – ungeachtet
allfälliger öffentlicher Finanznot – eine „Anschubfinanzierung“
in Form von zehn Milliarde Euro „Riester-Förderung“ springen.
Auf der Verliererseite stehen vor allem Frauen und Langzeiterwerbslose: Frauen,
weil sie in der GRV aufgrund ihrer Benachteiligung am geschlechtshierarchischen
Arbeitsmarkt schon bisher oft nur Renten in Höhe des Sozialhilfeniveaus erreichten
und in der Privatvorsorge wegen ihrer höheren Lebenserwartung diskriminiert
werden; Langzeiterwerbslose wegen der zuvor mit dem Eichel‘schen Sparpaket
(1999) vollzogenen Umstellung der Bemessungsgrundlage für ihre entenversicherungsbeiträge,
die von der Bundesanstalt für Arbeit an die GRV zu entrichten sind. Die Beiträge
werden seither statt vom Bemessungsentgelt für die Arbeitslosenunterstützung(früheres
Erwerbseinkommen) nur nach den erheblich niedrigeren Zahlbeträgen der Arbeitslosenunterstützung
bemessen. Dadurch wurde auch die GRV zusätzlich finanziell geschwächt.
Steuerpolitik
Die rot-grüne Steuerpolitik setzt die Umverteilung „von unten nach
oben“, von öffentlichen Haushalten zu Arbeitgebern und Vermögensbesitzern
vehement fort: drastische Senkung der Spitzensteuersätze, massive Entlastungen
für die Wirtschaft – bis hin zur Eröffnung eines neuen Markts
für den Handel mit Unternehmen und Unternehmensanteilen, deren Veräußerungsgewinne
steuerfrei gestellt wurden. Selbst die neoliberale Denkfabrik der Arbeitgeber,
das Institut der Deutschen Wirtschaft (iw), reagierte auf die „große“
rot-grüne Steuerreform mit unverhohlener Begeisterung.
Die „Öko“-Steuer sollte ursprünglich über die Einnahme-
wie die Ausgabeseite den Wandel zu ökologisch nachhaltigem Wirtschaften fördern.
Rot-Grün stellte auf der Einnahmeseite die energiefressenden Wirtschaftszweige
davon frei und nutzte die Ausgabenseite als Instrument zur Absenkung der Rentenversicherungsbeiträge.
RentnerInnen, Erwerbslose und Sozialhilfeberechtigte müssen die Beitragsentlastung
der Wirtschaft mitfinanzieren. Von einem ökologischen Lenkungsinstrument
ist allein das Etikett übrig geblieben. Sozialhilfepolitik
Schon die sozialhilferechtlichen Veränderungen unter der Regierung Kohl wurden
im Konsens mit den SPD-geführten Landesregierungen vorgenommen, da das BSHG
zu den im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetzen zählt. [19]
Oft handelte es sich dabei um „Kompensationsgeschäfte“, die Länder
und/oder Kommunen für bundespolitisch verursachte Mehrausgaben durch Einsparungen
bei der Sozialhilfe entschädigen sollten. Rot-Grün hat keinen Versuch
unternommen, die Verschärfung des Arbeitszwangs und die willkürlichen
Deckelungen der Regelsatzentwicklung aus der Kohl-Ära zu korrigieren. Stattdessen
wurde das sozialhilferechtliche Erbe angenommen und fortgeführt.
Zur Beflügelung der sparpolitischen Kreativität von
Kommunen und Ländern dient die neugeschaffene Experimentierklausel im BSHG,
die die Länder zu Modellversuchen mit der Pauschalierung von Sozialhilfeleistungen
ermächtigt, zu denen Hilfeberechtigte auch gegen ihren Willen herangezogen
werden können. Die Umstellung früherer Einzelleistungen auf Pauschalbeträge,
die auch „angespart“ werden können, lässt die leistungsrechtlichen
Unsicherheiten wachsen; das „Schonvermögen“ [20],
über das Hilfeberechtigte leistungsunschädlich verfügen können,
wird in eine Grauzone gerückt.
Einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel erfuhr der Begriff „bedarfsorientierte
Grundsicherung“: Zielte dies Projekt in der früheren sozialpolitischen
Reformdiskussion (auch bei SPD und Grünen) nicht zuletzt auf deutliche Verbesserungen
des Sicherungsniveaus, um Armut und Ausgrenzung besser zu begegnen, erfuhr es
in der rot-grünen Regierungspolitik eine Umdeutung zu einer „Zugangserleichterung“
zur Sozialhilfe unter Bestätigung des gegebenen, seit langem unzureichenden
Niveaus. So schützt die „Grundsicherung im Alter“ als Flankierung
der Riester‘schen Rentenreform keineswegs vor einem Leben in Armut, sondern
erleichtert lediglich die Geltendmachung von bestehenden Sozialhilfeansprüchen.
Das Sozialhilfekapitel des ersten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung
klärt denn auch darüber auf, dass Rot-Grün sich die Position ihrer
Vorgänger zu eigen gemacht hat, Sozialhilfebezug nicht als Armut, sondern
als „bekämpfte Armut“ anzusehen.
Arbeitslosenversicherung
Die leistungsrechtlichen Ergebnisse der Kohl-Ära werden zunächst unverändert
fortgeführt.
Auf dieser Grundlage wird von Landes- wie Bundesebene mit verschiedenen Modellprojekten
[21] die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
politisch und administrativ vorbereitet. Zu rechnen ist mit einer Überführung
der ALHI in die Sozialhilfe sowie mit einer Überleitung der arbeitsmarktpolitischen
Zuständigkeit für den Personenkreis der Langzeiterwerbslosen zum Sozialamt
oder zu neuen Strukturen der kommunalen Sozialverwaltung („Sozialagenturen“),
die dann gleichermaßen für erwerbslose Sozialhilfeberechtigte Leistungsanspruch
an die Arbeitsverwaltung zuständig sind. Mit der „Zusammenführung“
droht die Ausgrenzung der großen Zahl der Langzeiterwerbslosen aus der „vorrangigen“
Zuständigkeit der Arbeitsverwaltung, gleichsam ihre „Aussteuerung“
aus der Arbeitslosenversicherung.
Zur Legitimation wird neben dem Umstand, dass es sich auch bei der ALHI um eine
steuerfinanzierte, nicht eigentumsrechtlich geschützte Leistung handle, auf
die hohe Überschneidung der Personenkreise sowie auf die gegebene relative
Nähe des Leistungsrechts von ALHI und Hilfe zum Lebensunterhalt verwiesen. Geflissentlich verschwiegen
wird dabei, dass beides Ergebnis der Kohl‘schen Sozialstaatsdemontage ist.
Gesundheitspolitik
Spektakuläre neue Eingriffe haben auf diesem Feld noch nicht stattgefunden.
Die von der alten Bundesregierung geschaffenen ordnungspolitischen Weichenstellung
in Richtung von „mehr Markt“ wurden zunächst übernommen
und mit der Gesundheitsreform 2000 von Gesundheitsministerin Fischer (Grüne)
fortgeführt. Bestrebungen ihrer Nachfolgerin Schmidt (SPD) zur kostendämpfenden
Regulierung des Pharma-Marktes (Einführung einer „Positivliste“
für Medikamente, gesetzliche Preisabschläge) wurden auf Druck der Pharmakonzerne
zurückgenommen.
Für die erste Hälfte der kommenden Wahlperiode wird allerdings eine „große“ Gesundheitsreform
erwartet. Im Wirtschaftsbericht 2001 deutete der Bundeswirtschaftsminister die
Richtung an. Darin wird zum einen angeregt, zur Stärkung des „Wettbewerbselements“
im Gesundheitswesen den Kassenwettbewerb zu verstärken und die Kassen zu
ermächtigen, statt der gemeinsamen und einheitlichen Verträge mit Verbänden
Einzelverträge mit Leistungserbringern abzuschließen. Letzteres zielt
auf das „Einkaufsmodell“, womit sich die Kostenträger die kostengünstigsten
Anbieter heraussuchen und einen Preiswettbewerb unter Arztpraxen und Krankenhäusern
auslösen können. Zum anderen wird analog zur Rentenreform auf den „Einstieg“
in eine kapitalgedeckte Privatvorsorge in der Kranken- und Pflegeversicherung
orientiert. [22] Dazu sollten die Arbeitgeberbeiträge als
Lohn ausgezahlt und somit von den direkten Lohnkosten entkoppelt werden. Das Europäische
Parlament orientierte bereits zuvor mit der Annahme des „Rocard-Berichts“
auf den Aufbau eines Systems privater Zusatz-Krankenversicherungen in Europa.
Nicht unbeachtlich in diesem Kontext sind auch de WTO-Verhandlungen über
ein „Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS),
das auch für Gesundheitsdienstleistungen Folgen hinsichtlich Privatisierung
und „Vermarktlichung“ erwarten lässt.
Dass sich Bundesgesundheitsministerin Schmidt bislang einem Systembruch analog
der Rentenreform widersetzt, ist kaum Anlass zur Entwarnung. Der Druck der Arbeitgeberverbände,
von CDU und FDP sowie sozialdemokratischer „Modernisierer“ in dieser
Richtung bleibt unverändert hoch.
Bildung und Ausbildung
Die Strategie der „Vermarktlichung“ öffentlicher Infrastrukturen
macht auch vor dem öffentlichen Bildungswesen nicht halt. Die chronisch unterfinanzierten
und mit überalterten Kollegien besetzten Schulen sollen zukünftig als
selbständig wirtschaftende Aggregate mit jeweils eigenen Profilbildungen
in Wettbewerb zueinander treten. Dazu werden die Schulleitungen mit quasi-unternehmerischen
Kompetenzen in der Bewirtschaftung ihrer Sach- und Personalbudgets ausgestattet
und ihre Möglichkeiten zur Einwerbung von Drittmitteln („public-private-partnership“)
durch Aufhebung des Werbeverbots erweitert. In Folge dieser gegenwärtig auch
im rot-grünen NRW erprobten Konzeption dürfte sich die Ungleichheit
von Lernbedingungen und Bildungschancen an den Schulen – insbesondere zu
Lasten der Hauptschulen–vergrößern. Gleichwohl gilt das vorrangige
Interesse der neu-sozialdemokratischen Bildungspolitik nicht mehr der kompensatorischen
Benachteiligtenförderung, sondern der Förderung von Leistungseliten.
Die im Hochschulbereich implementierten Strategien zielen in die gleiche Richtung.
Die alten soialen Barrieren beim Hochschulzugang aus der Zeit vor den sozialdemokratischen
Bildungsreformen der 1970er Jahre leben verstärkt wieder auf.
Mitte der 1990er Jahre entwickelte sich eine dramatische Ausbildungsplatzkrise
– in Ostdeutschland vor allem als Folge der Deindustrialisierung, in Westdeutschland
in Folge der Anpassung des Ausbildungsplatzangebots an die rückläufigen
Personalplanungen der Unternehmen und ihre kurzfristigen Renditekalküle bei
gleichzeitig wachsenden Zahlen der SchulabgängerInnen. Die „Neue Sozialdemokratie“
ignoriert die Verfassungspflicht der Arbeitgeber zur Bereitstellung eines ausreichenden
und auswahlfähigen Ausbildungsplatzangebots, um sich stattdessen ihren Begehrlichkeiten
nach kostensenkenden Deregulierungen in der Berufsschule zu öffnen, ihre
Kritik an der (maßgeblich sparpolitisch verursachten) mangelnden schulischen
Vorbildung der AusbildungsplatzbewerberInnen, ihrer angeblich mangelnden Flexibilität
in der Berufswahl sowie ihrer angeblich mangelnden Mobilität zu verstärken.
V. „Dritter Weg“
und „aktivierende Sozialpolitik“
Auch wenn Neoliberalismus und „Dritter Weg“ der „Neuen Mitte“
oder der „Neuen Sozialdemokratie“ von derselben angebotsorientierten
Wirtschaftspolitik ausgehen, beide auf die Ablösung des welfare state durch
den workfare state bzw. den „Wettbewerbsstaat“ zielen, dessen Kernaufgabe
in der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft liegt,
und sich die Ergebnisse für die betroffene Bevölkerung nur wenig unterscheiden
dürften, ist beides nicht identisch. Während die Neoliberalen recht
geradlinig auf die Schaffung „amerikanischer Verhältnisse“ mit
weitest gehender Privatisierung sozialer Risiken zielen, verspricht der „Dritte
Weg“ zwischen „rheinischem“ (oder auch westeuropäischem)
Sozialstaat und dem sozialstaatsfreien angloamerikanischen Modell die Aufrechterhaltung
bzw. Schaffung sozialer Basisregulierungen. An die Stelle der gleichsam „nackten“
neoliberalen Angriffe der alten Regierung setzt die Neue Mitte die Kombination
von „Fördern und Fordern“. Die Verschärfung der Repression
gegen Transferleistungsbeziehende und der Abbau sozialstaatlicher Garantien wird
legitimiert durch „fördernde“ Anmutungen, die aufgrund der Koppelung
mit Sanktionsandrohungen kaum „Angebote“ genannt werden können.
Wo der Neoliberalismus soziale Ausgrenzungsprozesse – etwa durch Langzeit-
und Dauererwerbslosigkeit–hinnimmt, verspricht der „Dritte Weg“
soziale Inklusion in die Erwerbsgesellschaft durch die Politik der „Zweiten
Chance“. Arbeitsmarkt- und Sozialstrukturen sollen als „Trampolin“
fungieren, das Erwerbslose in den Arbeitsmarkt zurück befördert. Soziale
Gerechtigkeit wird nicht mehr mit Verteilungsgerechtigkeit übersetzt, sondern
mit „Chancengerechtigkeit“. Dahinter steht die Vorstellung von einer
Marktgesellschaft, in der Staat dem Einzelnen „gerechte Chancen“ garantieren
soll, sich aber um die höchst ungleichen Ergebnisse nicht mehr zu kümmern
braucht.
Die Veränderung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten durch die Politik
des „Dritten Weges“ geht in Richtung des neoliberalen Modells. Ob
sie tatsächlich gleichsam „auf halbem Wege“ zum Stehen gebracht
werden kann, oder ob die Marktradikalen daran anknüpfend ihre weitergehenden
Utopien durchsetzen können, bliebe ohnehin der Entwicklung der gesellschaftlichen
und politischen Kräfteverhältnisse überlassen.
„Fördern und Fordern“ ist das Leitmotiv der „aktivierenden Sozialpolitik“
der Neuen Sozialdemokratie [23]. Die vom Bundeskanzler ausgelöste
„Faulenzer-Debatte“ verdeutlichte, dass auch sie Erwerbslosigkeit
und andere soziale Problemlagen nicht mehr als gesellschaftliches, sondern als
individuelles Problem definiert. Man spricht hier von einer „blame the victim“-Politik
[24]. Der Bezug sozialer Transferleistungen wird zur „Belohnung“
für aktive Anstrengungen der Betroffenen, den (Wieder-)Anschluss an die Erwerbsgesellschaft
zu finden, Leistungsentzug zur „Bestrafung“ derer, die es dabei an
Engagement vermissen lassen. Auf Grund der unverändert großen Angebotslücke
an regulären Arbeitsplätzen zielt die „Zweite Chance“ vor
allem auf bad jobs und Pflichtarbeit im Niedriglohnbereich, auf dessen Ausweitung
insbesondere die Benchmarking-Arbeitsgruppe des „Bündnis für Arbeit
und Wettbewerbsfähigkeit“ hinarbeitet. Ende 2001 wächst der Druck
auf den Bundesarbeitsminister, sich einer erweiteren „Erprobung“ von
Kombilohn-Modellen zu öffnen. [25] Internationale
Vergleiche belegen indes, dass deregulierte Arbeitsmärkte die Chancen eines
sozialen (Wieder-)Aufstiegs in die reguläre Erwerbsgesellschaft nicht vergrößern,
sondern eher verringern und die soziale Ungleichheit zu- statt abnimmt.
Die arbeitsmarkt- und vermittlungsorientierte „aktivierende
Sozialpolitik“ führt unter den Ausgegrenzten und von Ausgrenzung Bedrohten
zu systematischen Selektionseffekten („creaming the poor“). Wo die
Quote erfolgreicher Vermittlungen in den ersten Arbeitsmarkt als maßgebliches
Erfolgs- und Effizienzkriterium gilt, dessen Erfüllung auch für die
wirtschaftliche Zukunft der Träger arbeitsmarktpolitischer Angebote und sozialer
Arbeit wesentliche Bedeutung gewinnt [26], ist eine Konzentration
der Aktivitäten auf den Personenkreis derer, die die jeweils größeren
Vermittlungserfolge versprechen, eine unumgängliche Folge. Daher kommt es
andererseits zu einer ve rstärkten Abwendung von denjenigen, die mit besonderen
sozialen Schwierigkeiten – oft als Folgeerscheinung langfristiger Ausgrenzung
– belastet sind und daher der Hilfe und Unterstützung am meisten bedürften.
Sie werden um so mehr zur Zielgruppe entrechteter Pflichtarbeit im Niedriglohnbereich.
VI. Politische Schlussbetrachtung
Nur die „Neue Sozialdemokratie“ an der Regierung hat die Fähigkeit,
den Systemwechsel vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat in den Kernbereichen tatsächlich
zu vollziehen. Nur sie kann die traditionell sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften
in den neuen Wettbewerbskorporatismus [27] der „Bündnisse
für Arbeit“ einbinden und gewerkschaftliche Widerstandspotenziale wirksam
entschärfen. [28] Der Systembruch in der Rentenversicherung
etwa wäre einer CDU-geführten Regierung gegen den Widerstand der Gewerkschaften
und der damaligen rot-grünen Opposition – sowie womöglich auch
eines „sozialstaatskonservativen“ Norbert Blüm – zweifellos
nicht möglich gewesen. [29] Ausgerechnet der Regierungswechsel,
der eine politische Wende Deutschlands zu mehr sozialer Gerechtigkeit in Zeiten
der neoliberalen Globalisierung bringen sollte, wurde zum „größten
anzunehmenden Unfall“ für die Perspektiven der Sozialstaatlichkeit.
Der Wandel der SPD zur Partei der Neuen Mitte ist ebenso
wenig rückholbar wie der „rheinische“ Sozialstaat. Gleiches gilt
für die Grünen. Die PDS hat sich trotz der spektakulären Einbrüche
in der rot-grünen Wählerschaft im Westen als nicht aufbaufähig
erwiesen und hält die Herstellung ihrer Koalitionsfähigkeit mit der
Neuen Mitte für ihre wichtigste Aufgabe. Ein glaubwürdiger und durchsetzungsfähiger
Protagonist einer sozialstaatlichen Alternative zu Neoliberalismus und Neuer Mitte
ist im Parteiengefüge auf absehbare Zeit außer Sicht. Die Regierungsalternativen
reduzieren sich auf zwei verschiedene Varianten neoliberaler Veränderung.
Träger des Kampfes für eine zukunftsfähige Alternative können
vorerst nur zivilgesellschaftliche Oppositionsbewegungen sein, die das Motto „Eine
andere Welt ist möglich“ der globalisierungskritischen Attac-Bewegung
in neue, realitätstaugliche Reformstrategien übersetzen. Dabei rücken
vor allem die Fragen einer gesellschaftlich sinnvollen Verteilung des real existierenden,
aber immer stärker privatisierten Reichtums in den Vordergrund. Ansätze,
sich dieser Aufgabe anzunehmen, gibt es. [30]
Der vorliegende Text beschränkte sich auf die Darstellung und Deutung einiger
Züge der gesellschaftspolitischen Systemveränderung in Deutschland.
Doch die Skizzierung von politischen Handlungsmöglichkeiten für eine
sozialstaatliche Alternative zu Neoliberalismus und Neuer Mitte und ihre öffentliche
Artikulation ist entscheidend auch für die Chancen erfolgreicher Gegenwehr
gegen kommende Akte der neoliberalen Revolution. Denn aktive Gegenwehr entwickelt
sich weniger aus der bloßen Ablehnung herrschender Politikmuster, die zudem
gebetsmühlenartig als „alternativlos“ dargestellt werden, sondern
eher aus der Erkenntnis, das Alternativen dennoch möglich sind.
Fußnoten:
- Der Autor war von 1990 bis 2000 Sprecher der grünen NRW-Landtagsfraktion
für Arbeit, Gesundheit und Soziales, bei den Koalitionsverhandlungen 1995
Verhandlungsführer der Grünen für diese Bereiche; 1997-1999 Mitglied
des Koalitionsausschusses. Er hat die Grünen wegen ihrer „Wandlung
zum Gegenteil ihrer selbst“ Mitte 2000 verlassen und ist seither parteilos.
[back]
- Es sei daran erinnert, dass auch das Ahlener Programm der
CDU damals für „Sozialismus“ optierte. [back]
- Der in linksgewerkschaftlichen Aktionen bis in die 80er Jahre
gebrauchte Slogan „Ist der Lohn zu niedrig, denkt man leicht verfassungswidrig“
spielte demonstrativ mit diesem Zusammenhang. [back]
- 1974 – im Jahr der „Ölkrise“ –
überstieg die registrierte Erwerbslosigkeit erstmals wieder die Millionengrenze.
[back]
- Auf der Grundlage drastisch verkürzter Regelarbeitszeiten
und eines Neuen Normalarbeitsverhältnisses, das die Erfordernisse der „weiblichen“
Erwerbsbiografie als Regelfall zugrunde legt. [back]
- Am Tag der Aktionen hatte die FDP allerdings den Koalitionsbruch
bereits vollzogen und die Empörung richtete sich an der SPD vorbei gegen
die marktradikalen Liberalen („Lambsdorff-Papier“). [back]
- Mit der Änderung verweigerte die Bundesregierung Arbeitnehmern,
deren Betrieb wegen der „Fernwirkung“ eines Streiks (fehlende Zulieferung/Aufträge)
die Produktion einschränken muss, die Zahlung von Kurzarbeitergeld, so dass
sie ans Sozialamt verwiesen wären. Es handelte sich um eine gezielte Reaktion
auf die Arbeitskämpfe in der Metall- und Druckindustrie zur Durchsetzung
der 35-Stunden-Woche 1984. [back]
- DIW-Wochenbericht 26-27/93 v. 8.7.1993 [back]
- DIW-Wochenbericht 1-2/94 v. 6.1.1994 [back]
- Sachgerechter wäre es gewesen, die Folgelasten der westlichen
Deindustrialisierungspolitik in Ostdeutschland als vereinigungsbedingte Folgelast
aus dem Steueraufkommen zu tragen und hierzu gezielte Steuererhöhungen vorzunehmen.
Entsprechende Forderungen aus SPD und Grünen blieben jedoch Tabu. [back]
- Das Gesetz kennt zwei Möglichkeiten: entweder die ArbeitnehmerInnen
entrichten den vollen Beitragssatz einschließlich Arbeitgeberanteil (Sachsen),
oder die Länder streichen zur Kompensation des Arbeitgeberbeitrags einen
regelmäßig auf einen Werktag fallenden Feiertag (alle übrigen).
[back]
- Die Aufhebung des Berufsschutzes erscheint wegen der Garantie
der Berufswahlfreiheit verfassungsrechtlich bedenklich; sie steht zudem in krassem
Gegensatz zu den allfälligen Forderungen nach Qualifizierung: da berufliche
Qualifikationen bei länger andauernder Erwerbslosigkeit nun auch förmlich
entwertet werden und keine soziale Schutzfunktion mehr haben, wird Qualifizierungsmotivation
abgebaut. [back]
- Dies gilt seit 1975 sowohl für die Ausgaben der GKV
als auch für die Gesundheitsausgaben insgesamt. [back]
- Dass das soziokulturelle Existenzminimum in den Regelleistungen
der Hilfe zum Lebensunterhalt erheblich zu niedrig bemessen ist, ist eine andere,
zusätzliche Frage. [back]
- Eine der spektakulärsten Erpressungen hat auch noch
öffentlich weithin Furore gemacht: das „VWModell“ zur Beschäftigungssicherung.
Die Belegschaft wurde vor die Wahl gestellt, ob sie die vom Unternehmen erwünschte
Kostenreduzierung entweder durch Massenentlassungen oder durch Verzicht auf tarifliche
Ansprüche erbringen wollte. [back]
- Das seit 1995 rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen
war für die SPD der entscheidende Testlauf für Rot-Grün im Bund.
Die Ablösung von Johannes Rau durch Wolfgang Clement, einen neoliberal orientierten
Technokraten, im Jahre 1996 drückte die Vollendung der Hegemonie der „neuen
Sozialdemokratie“ in ihrem Stammland an Rhein und Ruhr aus. Nicht zuletzt
kommt Bodo Hombach, der Tony Blairs „Dritten Weg“ für die SPD
adaptierte, aus NRW. [back]
- Zu Konzeption und Strategie der Neuen Mitte vgl. Dräger/Buntenbach/Kreutz,
Zukunftsfähigkeit und Teilhabe – Alternativen zur Politik der rot-grünen
Neuen Mitte, VSA-Verlag, Hamburg 2000 [back]
- Die auch von den Gewerkschaften verbreitete Behauptung, das
Netto-Rentenniveau sinke mit der Reform nicht unter 67 vH ignoriert, dass zugleich
die Formel zur Bestimmung des Netto-Rentenniveaus verändert wurde. Auf Basis
der vorherigen Berechnungsweise ergibt sich eine Absenkung auf zirka 64 vH. [back]
- Dies gilt ähnlich für die Gesundheitsstrukturgesetz
(1992) und die Einführung der Pflegeversicherung. Nicht zu Unrecht war daher
teils von einer „informellen Großen Koalition“ die Rede. [back]
- Nach Paragraph 88 Absatz 1 BSHG sind kleinere Guthaben (allein
Lebende: 2500 DM) vom vorrangigen Einsatz des Vermögens zur Existenzsicherung
ausgenommen. [back]
- Neben dem Bundesprojekt MoZArT, sind hier auch Landesprojekte
wie „Sozialagenturen“ (NRW) zu nennen. Bund, Länder und Gemeinden
müssen kooperieren, weil die Bundesanstalt für Arbeit der Zuständigkeit
des Bundes, die Sozialämter der kommunalen Selbstverwaltung unter Aufsicht
der Länder unterliegen. [back]
- Das von Bundesgesundheitsministerin Schmidt Ende 2001 vorgelegte
Eckpunktekonzept für die Gesundheitsreform 2003 vermeidet allerdings jede
... [back]
- Siehe hierzu ausführlich: Achim Trube/Norbert Wohlfahrt,
„Der aktivierende Sozialstaat“ – Sozialpolitik zwischen Individualisierung
und einer neuen politischen Ökonomie der inneren Sicherheit, in WSI Mitteilungen
01/200. [back]
- „Klage das Opfer an“ [back]
- In diese Richtung drängten insbesondere das rot-grüne
NRW sowie die grüne Bundestagsfraktion. [back]
- Teils über entsprechende „Zielvereinbarungen“,
teils über Prämiensysteme für erfolgreiche Vermittlungen findet
„Fördern und Fordern“ auch Anwendung auf die Trägerlandschaft.
[back]
- Gemeint ist die institutionalisierte Zusammenarbeit von Arbeitgebern
und Gewerkschaften bzw. Betriebsräten zu Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit.
[back]
- Die heftige Kritik der Arbeitgeber an der rot-grünen
Reform der Betriebsverfassung verkennt, das die Existenz arbeitsfähiger Betriebsräte
eine unverzichtbare Voraussetzung ist, um den Wettbewerbskorporatismus auf der
einzelbetrieblichen Ebene zu verallgemeinern. [back]
- Gleiches gilt für die Remilitarisierung der Außenpolitik
und den Ausbau eines starken Sicherheitsstaates nach innen. [back]
- vgl. das von der „Initiative für einen Politikwechsel“
vorgelegte „Memorandum für einen Politikwechsel“: www.barkhof.uni-bremen.de/kua/memo/docs/m1601.pdf
[back]
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