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Arbeiter Bauern Präsidenten
Maurice Lemoine Le Monde diplomatique 11. November 2005
In Bolivien wird am 18. Dezember gewählt. Aussichtsreicher
Kandidat ist ein indianischer Sozialist
In Huanuni, auf dem Altiplano, dem Andenhochland, wird Zinn abgebaut. Anderswo
gibt es Gold, Kupfer, Antimon, Silber oder Zink. Oder Erdöl und Erdgas – also
die Rohstoffe, an denen sich der innerbolivianische Konflikt entzündet hat.
Doch in Huanuni ist es nur Zinn, was in 240 Meter Tiefe, in der beklemmenden
Dunkelheit kilometerlanger Stollen, dem Erdinnern entrissen wird. Vierundzwanzig
Stunden am Tag sind hier 850 Bergleute am Werk, für einen Monatslohn von
1000 Bolivianos, etwa 125 Euro. „Wir arbeiten sogar am Sonntag“,
sagt einer, „dafür kriegen wir drei Mita.“ Mita ist ein Tagesverdienst.
Wer seinen freien Tag opfert, verdient das Dreifache.
Hier hat keiner etwas zu verlieren. Wenn es sein muss und nicht anders geht,
ziehen die Mineros nach La Paz hinunter, mit Dynamitstangen in der Hand. „Wir
hatten Tote, aber wir haben dafür gesorgt, dass Goni und Mesa gehen mussten.“
Mit „Goni“ ist Gonzalo Sänchez de Lozada gemeint, der ultraliberale,
aus dem Movimiento Nacionalista Revolucionario (Nationalistische Revolutionäre
Bewegung, MNR) hervorgegangene Präsident, der im Oktober 2003 durch einen
blutigen Volksaufstand gestürzt wurde. [1] Carlos
Mesa war sein Vizepräsident und Nachfolger; nach dreiwöchigen Unruhen
musste er seinerseits am 6. Juni 2005 zurücktreten. Seit 1985 haben alle
Regierungen, rechte wie (angeblich) linke, wirtschaftlich die Vorgaben des Dekrets
Nummer 21060 befolgt: Privatisierung der Minen, der Telekommunikation, des Luft-
und Schienenverkehrs, der Wasser- und Stromversorgung, der Erdöl- und Erdgasförderung.
Als bei der Privatisierung der Zinnbergwerke 25 000 Mineros entlassen wurden,
war das ein schwerer Schlag auch für den Gewerkschaftsdachverband COB (Central
Obrera Boliviana), denn die Kumpel waren seine Kerntruppe gewesen, sein Fleisch
und Blut sozusagen. Der COB bildete seit der Revolution vom April 1952 ein Gegengewicht
zur Staatsmacht. In den langen Jahren der Diktatur bis 1982 war er es gewesen,
der den Militärs die Stirn bot. Die zahlreichen Betriebsschließungen
und der ideologische Schock von 1989, als die Berliner Mauer fiel, ließen
die marxistisch geprägte Bewegung schließlich auseinander brechen.
Sie hatte, so schien es jedenfalls, keine Aufgabe mehr. Der Soziologe Alvaro
Garcia Linera drückt es so aus: „Die Gesellschaft schuf sich neue
Instrumente der Interessenvertretung und der politischen Aktion: die in territorialen
Netzwerken organisierte soziale Bewegung.“
Die Ersten, die aufbegehrten, waren die in Syndikaten organisierten Kokabauern
der Region Chapare. Mit dem Anbau der alten Kulturpflanze (die bis heute in einigen
Gebieten Boliviens legal angebaut wird) zogen sie den Zorn Washingtons auf sich.
Beim Kreuzzug gegen den Drogenhandel wurden Plantagen vernichtet und die Bauern
kriminalisiert. Den Widerstand der „Cocaleros“ führte Evo Morales
an, ein Mann vom Volk der Aymara.
1997 wurde er Abgeordneter für Cochabamba, zwei Jahre später Chef der
neu gegründeten Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo, MAS),
die eher ein Bündnis sozialer Organisationen darstellte als eine konventionelle
Partei.
Im Jahre 2000 kam es in der Stadt Cochabamba zu Massenprotesten gegen die Betreiber
der Wasserversorgung: Bechtel, ein multinationaler Konzern, musste aufgeben und
das Land
verlassen. Bolivien kam in Bewegung, es gärte. Bei der Präsidentschaftswahl
vom Juni 2002 unterlag Morales um Haaresbreite, doch die MAS stellte 36 Abgeordnete.
Mit den Kommunalwahlen von 2004 wurde sie zur stärksten politischen Kraft
des Landes.
Neben der MAS ist eine Vielzahl von Organisationen aktiv: die mächtige Einheitsgewerkschaft
der Landarbeiter Boliviens (CSUTCB), soziale Basis der sehr radikalen indigenen
Bewegung Pachacuti (Movimiento Indigena Pachacuti, MIP); die Bewegung der Landlosen
Boliviens (MST-B); die Überreste des COB mit seinen regionalen Arbeitervereinigungen
(GOR); die Kooperativen; die Koordinationsgruppen Wasser und die Stadtteilkomitees – vor
allem die von El Alto. Dort, in der gigantischen Slumstadt, eine Viertelstunde
oberhalb von La Paz, wo 800 000 ehemalige Bauern und Mineros, zumeist Indios,
im ockerfarbenen Staub des Altiplano leben, hat die Vereinigung der Nachbarschaftskomitees
(Fejuve) den Kampf mit der zum Wassermulti Suez Lyonnaise gehörenden Aguas
de Illimani aufgenommen und gewonnen. [2] Und vom Kampf ums Wasser zum Kampf
ums Gas ist es nur ein Schritt ...
Außer seinen Ölvorkommen besitzt Bolivien die nach Venezuela zweitgrößten
Erdgasvorkommen Lateinamerikas. Nach der Verfassung sind die natürlichen
Ressourcen „unter der Erde“ unveräußerliches Eigentum
des Staates. Doch mit einem Taschenspielertrick sprach das im April 1996 erlassene
Gesetz Nummer 1689 das Eigentum an Erdöl und Erdgas der Privatwirtschaft
zu, sobald es aus dem „unveräußerlichen“ Untergrund an
die Oberfläche kommt. Prospektion, Ausbeutung, Transport, Verarbeitung und
Vermarktung wurden fortan den Multis überlassen. Die nach dem Gesetz von
1996 entdeckten Erdöl- und Erdgasvorkommen galten als „neu“ und
wurden mit lediglich 18 Prozent Steuern belastet, während bei den „alten“ (die
vielfach mit plumpen Tricks zu neuen gemacht wurden) noch 50 Prozent abzuführen
waren. Präsident Sánchez de Lozada verfolgte ein gigantisches Projekt
zur Ausfuhr von verflüssigtem Erdgas nach Kalifornien. Für die Unternehmensgruppe
Pacific LNG hätte es saftige Gewinne bedeutet, für das Land aber den
Ausverkauf. Obendrein sollte die Gaspipeline durch Chile verlaufen, das, seit
Bolivien im Salpeterkrieg von 1879 seinen Zugang zum Meer verlor, als „Erbfeind“ gilt.
Die Bevölkerung erhob sich. „Goni“ ließ in die Menge schießen
und musste am Ende außer Landes fliehen. Nachfolger wurde Vizepräsident
Carlos Mesa.
Die Hauptforderungen der sozialen Bewegung waren: Rückführung der natürlichen
Ressourcen in nationales Eigentum, Verstaatlichung der Erdöl- und Gasförderung
und Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Bei einem Referendum am
18. Juli 2004 votierten 70 Prozent der Bevölkerung für die Wiederverstaatlichung
der Erdgas-und Erdölindustrie.
Am 21. Oktober verabschiedete der Kongress ein neues Gesetz, das die staatliche
Beteiligung am Ölgeschäft erweitert und eine direkte Steuer von 32
Prozent auf die Förderung einführt (was zusätzlich zu den bereits
erhobenen 18 Prozent eine Abschöpfung von 50 Prozent bedeutet). Präsident
Mesa kritisierte dieses Gesetz als „überzogen“ und „konfiskatorisch“.
Für die einen, darunter die MAS, ist es ein Schritt nach vorn. Andere -
COB, Pachacuti und die Fejuve – sehen darin Verrat, sie fordern die entschädigungslose
Verstaatlichung ohne Wenn und Aber.
Das Problem ist, dass die Protestgruppen sich nur in Krisenzeiten zusammenschließen,
ansonsten aber heillos zersplittert sind. „Territoriale, ideologische,
religiöse, klassenspezifische Gegensätze“ konstatiert García
Linera, der als Chefideologe der sozialen Bewegung gilt, „und das“,
er lächelt, „ist noch milde ausgedrückt. [...] In bestimmten
Momenten gibt es regionale oder lokale Zusammenschlüsse, die sich um sehr
alltägliche Anliegen kümmern: Wasser, Strom, Brennstoff. In Spannungszeiten
entwickelt sich das zu einer Kraft, es kommt zu gemeinsamen Aktionen, die auf
dem Höhepunkt der Konfrontation in eine Massenbewegung münden. Sobald
das gemeinsame Ziel erreicht ist, zersplittert das Ganze wieder.“ Im Wahlkampf
von 2002 war Evo Morales von Washington und der bolivianischen Rechten als „Narco-Cocalero“, „Handlanger
von Chávez und Castro“, „Freund der Farc-Guerilla [Kolumbiens]“ bezeichnet
worden. Jetzt wettern die Hardliner der sozialen Bewegung .gegen ihn: „Evo
ist ein Verräter“, schimpft COB-Chef Jaime Solares, „er hat
versprochen, für die Verstaatlichung zu kämpfen, aber weil er mit der
Regierung unter einer Decke steckt, hat er es nicht getan.“ Es zirkulieren
Flugschriften, in denen behauptet wird, Evo Morales spiele eine Rolle bei den
Plänen der CIA und des State Department zur Zerschlagung der sozialen Bewegung.
Der MAS-Vorsitzende gibt sich gelassen: „Es gab keinen Pakt mit Mesa, keinerlei
Bündnis. Wenn Maßnahmen schlecht sind, lehnen wir sie ab. Wenn sie
gut sind, wie die Abhaltung des Referendums, unterstützen wir sie.“ In
der Tat ist die MAS wieder in die Offensive gegangen, als sich zeigte, dass Präsident
Mesa die Probleme auszusitzen versuchte, weil er auf das Erlahmen der Protestbewegung
spekulierte. Da gärte es wieder in Bolivien, und die Unruhe ließ sich
durch nichts besänftigen. Radikale, Gemäßigte, Bauern, Städter
zogen in den Kampf, während sich die neoliberale Rechte um die weißen
Eliten der reichen Provinzen im östlichen Tiefland, Santa Cruz und Tarija,
organisierte. Die dortigen Bürgerkomitees streben nach regionaler Autonomie
und wollen, dass jede Provinz frei über ihre finanziellen und natürlichen
Ressourcen verfügen kann. Gemeint sind Erdöl und Gas, deren bedeutendste
Vorkommen unter ihren Füßen liegen.
Es zirkulierten Gerüchte über einen Staatsstreich. Die Leute von El
Alto marschierten nach La Paz hinunter, in die Stadt der Weißen, der herrschenden
Klasse, der Staatsmacht. Es wurde davon geredet, einen revolutionären Volksrat
einzusetzen, als Vorstufe zu einem Arbeiter-und-Bauern-Staat unter der Führung
des COB. Evo Morales verurteilte die Ambitionen der „Nación Camba“ (der
Separatisten von Santa Cruz) und setzte sich für eine Lösung im Rahmen
der Verfassung ein.
Die Protestbewegung gegen die Mesa-Regierung bestand aus unzähligen von
flexiblen, opportunistischen Organisationen, die untereinander Bündnisse
und Abkommen schlossen und sich dann wieder gegenseitig in den Rücken fielen
und sich bis aufs Blut bekämpften. Gleichwohl schaffte sie es, das Land
im Mai und Juni 2005 lahm zu legen und Präsident Mesa am 6. Juni zum Rücktritt
zu zwingen.
Nach der Verfassung hätte Kongresspräsident Hormando Vaca Díez
aus Santa Cruz die Nachfolge antreten sollen; er gehört der konservativen
MIR [3] an. Ihn unterstützten die traditionellen Parteien: Nueva Fuerza Republicana
(NFR), Acción Democrática Nacional (ADN) und Movimiento Nacionalista
Revolucionario (MNR, Partei des Expräsidenten Lozada). Niemand wollte diesen
Großgrundbesitzer, diesen Gehilfen der Erdöllobby. Dann wurde der
Name Mario Cossio (MNR) ins Spiel gebracht: Der Präsident der Abgeordnetenkammer
ist ebenfalls ein ehemaliger Verbündeter Gonis.
Angesichts eines drohenden Bürgerkriegs ernannte der Kongress schließlich
am 10. Juni Eduardo Rodriguez zum Staatspräsidenten. Er war bisher Präsident
des Obersten Gerichtshofs gewesen und als solcher allein befugt, Neuwahlen anzusetzen.
Er veranlasste einen Nationalpakt, der das Land aus dem Chaos führen sollte,
und legte, nachdem der Kongress einer Verfassungsreform zugestimmt hatte, das
Datum für die Neuwahlen zunächst auf den 4. Dezember 2005 fest.
Für die MAS war das ein großer Schritt nach vorn: Evo Morales befindet
sich in ausgezeichneter Ausgangsposition für den Präsidentschaftswahlkampf. „Das
ist eine historische Wahl“, meint Alex Contreras, Leiter der „Schule
des Volkes 1. Mai“ von Cochabamba, und gibt damit einem sehr verbreiteten
Gefühl Ausdruck. „Nach diesen zwanzig Jahren des Rückbaus des
demokratischen Systems ist die Volks-, Sozial- und Indigenenbewegung nur einen
Schritt von der Macht entfernt.“
Freilich: Nachdem sie vereint gesiegt haben, stehen sich die beiden großen
Blöcke der Sozialbewegung wieder unversöhnlich gegenüber. Beide
verfugen über eine mehrheitlich indigene Basis, beide sind sowohl in der
Stadt als auch auf dem Land präsent. Die Radikalen, die sich um COB, MIP
und Fejuve scharen, sind vor allem im Gebiet der Aymara auf dem Altiplano aktiv,
in der kämpferischsten Region des Landes. Diese Gruppen sind stark ethnisch
geprägt. Die Gefolgschaft der MAS stützt sich ebenfalls auf eine hauptsächlich
ländliche Basis: Bauern in den Regionen Yungas, Chapare, Sucre, Potosi,
Oruro und Santa Cruz; landlose Bauern und Indigenenvereinigungen im Osten. Die
MAS kann aber auch auf Teile der städtischen Arbeiterschaft und Angestellten
zählen und pflegt Beziehungen zu den Berufsverbänden. Sie vermeidet
es, ethnische Zugehörigkeit zum Maßstab zu machen, und integriert
Menschen, die weder den Indigenas noch den Weißen zugerechnet werden, in
stärkerem Maße. Ihren politischen Ansatz könnte man als eher „national“ bezeichnen.
Im Quartier des COB beschwört Jaime Solares in glühenden Worten die
Arbeiter-und-Bauern-Revolution, das heißt die Machtergreifung durch den
Volksaufstand. Der Mann lehnt jeden Kompromiss ab und bedient sich eines bedeutungsschweren
Vokabulars: „Wir Arbeiter glauben, dass ein Bürgerkrieg oder eine
Revolution bevorsteht.“
Die Anhänger des COB sind indessen nicht sehr zahlreich, doch sie kompensieren,
wie ein Beobachter der bolivianischen Gesellschaft feststellt, „ihre geringe
Mobilisierungskapazität mit einer ultraradikalen Rhetorik, die so etwas
wie das schlechte Gewissen der Linken widerspiegelt. Solares weiß, dass
seine Worte nicht realistisch sind, aber es ist ihm egal, solange er damit die
gemäßigtere MAS in die Enge treiben kann. Er schlägt Kapital
aus seiner Position, in der er es sich leisten kann, unverantwortlich daherzureden.“ Dasselbe
ließe sich von Roberto de la Cruz sagen, dem COR-Chef in El Alto. Er macht
viele Vorschläge, einer radikaler als der andere: Volksversammlung einberufen,
Stosstrupps gegen die Cambas schicken, nationale Befreiungsarmee aufstellen.
Doch bei aller ideologischen Wirrköpfigkeit, in krisenhaften Situationen
handelt er sehr entschlossen und kann auch seine Leute mitreißen. Ähnliches
gilt für Abel Mamani, den Vorsitzenden der Fejuve von El Alto: Er weiß,
dass Widerstand notwendig ist. Und wenn er Widerstand leistet, setzt er auf Sieg.
Felipe Quispe, der Anführer des MIP und der Bauern des CSUTBC, befehligte
in den 1990er-Jahren die Guerilla Tupac Katari. Er saß fünf Jahre
im Gefängnis. Man nennt ihn Malku (malku – Kondor in der Aymara-Sprache).
Sein Fernziel ist es, Kollasuyo [4] wiederherzustellen: „Wir
wollen unseren eigenen Bundesstaat aufbauen, unsere eigene Regierung mit einem
indigenen Präsidenten, unsere eigene Armee und unsere eigene Wirtschaft
als Nachkommen von Huayna Capac, dem Herrscher der Inkas.“ Er betrachtet
die gegenwärtige Situation unter dem Aspekt eines Kriegs der Rassen und
lehnt die q’ara (Nichtindios) von rechts und von links unterschiedslos
ab. Die jüngsten Ereignisse kommentiert er mit den Worten: „Das Volk
hat gesiegt. Es hat Mesa und die MAS, die mit ihm paktiert hat, in die Enge getrieben.“
Das sind politische und ideologische Gegensätze, aber auch, vielleicht sogar
hauptsächlich, Führungskämpfe und Unverträglichkeiten unter
den Caudillos. Der ältere Felipe Quispe verträgt es schlecht, wenn
der jüngere Evo Morales, ein cobrizo [5] wie
er, ihm den Rang abläuft. Seine Hausmacht, die CSUTCB, hat sich deshalb
in zwei Fraktionen gespalten.
Auch auf der zweiten Führungsebene gibt es Reibungen. Abel Mamani, der Anführer
der Fejuve von Alto, akzeptiert zwar die moralische Autorität von Evo Morales,
will sich ihm aber nicht unterordnen. Mit einem gewissen Neid beobachtet er,
wie die MAS sich als einzige der aus den spontanen Aktionen hervorgegangenen
politisch-sozialen Gruppen von einer lokalen zu einer nationalen Kraft entwickelt
hat. Die übrigen Führer träumen davon, ein neues politisches Instrument
zu schaffen, doch keiner hat die Mittel dazu.
Enttäuschte Ambitionen spielen wohl eine Rolle, wenn Jaime Solares wettert: „Evo
hat nie für die Arbeiter oder das Proletariat gesprochen, es geht ihm nur
um die Kokabauern, Territorien und die [indigene] Identität.“ Seine
Absicht dagegen ist es, mit Felipe Quispe eine große revolutionäre
Allianz zu bilden. Aber niemand auf dem ganzen Kontinent vertritt den Indigenenstandpunkt
radikaler als gerade Quispe. Sehr zukunftsträchtig ist es also nicht, wenn
der COB-Chef Seite an Seite mit dem Malku und seiner MIP die Vizepräsidentschaft
anstrebt. Abel Mamani hingegen hat erklärt, dass er 2006 erneut die Massen
mobilisieren werde, wenn seinen Forderungen nicht entsprochen wird. Er habe beschlossen,
die MAS oder die „Gruppe der Sechs“ (G6) zu unterstützen, also
die Koalition der Bürgermeister von La Paz, Cochabamba, Potosi, Sucre, Oruro
und Cobija, die sich als die „moderne Linke“ bezeichnen, obwohl sie
in politischer Praxis und Theorie kaum Gemeinsamkeiten haben.
Die Organisationen in der zweiten Reihe komplizieren die Sache zusätzlich. „Was
sie tun, hat nichts mit den grundlegenden Problemen zu tun“, meint Alex
Contreras, „sondern damit, über wie viel Macht jeder von ihnen im
Kongress verfügen kann, mit oder gegen die MAS.“
Verstaatlichung und neue Verfassung
Auf dieser Grundlage kann es – jedenfalls bislang – keine sicheren
Bündnisse geben. Evo Morales bemerkt dazu seufzend: „Uns Lateinamerikanern
fällt es leichter, einen Präsidenten zu stürzen, als einen Präsidenten
zu machen.“ Er fügt hinzu: „Die Beteiligung aller wäre
wünschenswert. Aber man muss die Lage eben gründlich analysieren. Ich
vertrete keine maximalistische Position und bin nicht für den bewaffneten
Kampf, den Volksaufstand, den Staatsstreich. Ich setze auf einen Wandel des wirtschaftlichen
und sozialen Modells, der auf das Bewusstsein des Volkes und auf Demokratie baut.“
Ist das nun eine Krise mit vorrevolutionärem Charakter, in der es kein geeignetes
politisches Instrument gibt? Sicher ist das nicht. Denn die Basis folgt nicht
unbedingt denen, die sie angeblich vertreten. Nestor Guillen, der Sprecher des
Stadtteils Villa el Ingenio und ein Mitglied der Fejuve, berichtet, die Kundgebungen
in El Alto seien ursprünglich von den Anführern organisiert worden: „Companeros,
auf die Straße!“, hieß es dann. Nach und nach änderte
sich das. In den Stadtteilen ergreifen jetzt die Bewohner die Initiative. Die
Forderung, zu einer Demonstration aufzurufen, geht von der Basis aus und richtet
sich an die Führung. „Die Mobilisierung in El Alto hängt nicht
von der Fejuve ab, sondern davon, ob die Stadteile und Blocks in ihren Versammlungen
beschließen, dass jetzt gehandelt werden muss. Ohne das kann Mamani einberufen,
was er will, es kommt kein Mensch.“ So haben sich die Bewohner von El Alto
trotz des Boykottaufrufs ihres Chefs massenhaft am Gasreferendum beteiligt und
dadurch implizit der MAS Recht gegeben. Es ist zu vermuten, dass sie der Bewegung
so viel politisches Vertrauen entgegenbringen, dass sie sie auch wählen
werden.
Felipe Quispe hat den Ast abgesägt, auf dem er saß: Nachdem er 2002
als einziger von sechs Kandidaten der MIP ins Parlament eingezogen war, legte
er schon bald sein Mandat mit der Begründung nieder, er arbeite lieber im
ländlichen Raum und mache dort die politische Arbeit, die er immer gemacht
habe. Wenn man ihn fragt, ob er ins Parlament zurückkehren möchte,
sagt er mit der ihm eigenen Direktheit: „Ich bin nicht zum Abgeordneten
geboren, ich bin zum Präsidenten geboren.“ Diese Episode hat ihre
Spuren hinterlassen. Nestor Guillen meint: „Damit beweist er doch, dass
er nicht das Zeug zum Politiker hat. Don Evo [Morales] hat sein Mandat wirklich
ausgeübt; er hat immer gezeigt, dass er gegen solche Sachen ist, er ist
am Ball geblieben und hat weitergekämpft.“
Die MAS hat fraglos entscheidend an Boden gewonnen, als sie am 20. August dieses
Jahres den Soziologen Alvaro García Linera für die Vizepräsidentschaft
nominierte. García hat früher in der Guerilla von Felipe Quispe gekämpft
und saß wie dieser bis 1995 im Gefängnis. Er sagt offen: „Ich
habe einer Guerillagruppe angehört, ich bereue es nicht, ich bin noch derselbe
wie vor fünfzehn Jahren, nur meine Methoden sind heute anders.“
Innerhalb der sozialen Bewegung identifizieren sich viele mit dieser Aussage.
García Lineras Ernennung hat der MAS denn auch sehr viel Zulauf beschert:
sechs Bauernvereinigungen, Bergbaukooperativen, wichtige regionale Gewerkschaften
in Oruro, Potosi und Cochabamba, die Transportarbeiter von El Alto und sogar
die Fejuve. [6] Da García Linera als einer
der einflussreichsten Intellektuellen Boliviens gilt, hat seine Kandidatur der
MAS außerdem bei der Mittelschicht Sympathien verschafft; damit ist sie
auch in Universitätskreise und die Studentenschaft vorgedrungen.
Bei den Umfragen liegt die MAS weit vorn, mit stark steigender Tendenz. Stärkster
Rivale von Evo Morales ist Jorge Quiroga, der von vielen traditionellen Parteien
unterstützt wird. Quiroga hatte in den Jahren 2001/2002 schon einmal das
Präsidentenamt inne und war damals Mitglied der ADN (Nationalistische Demokratische
Aktion, Partei des einstigen Diktators und später demokratisch gewählten
Präsidenten Hugo Banzer).
Das neoliberale Lager versucht einstweilen, Zeit zu gewinnen und die Wahlen zu
verschieben. Angesichts der schweren Krise und des drohenden Bürgerkriegs
hatte man sich gemeinsam in einer politischen Übereinkunft auf diese vorgezogene
Wahl geeinigt und sich dabei buchstabengetreu an die Verfassung gehalten.
Am 4. August gingen die Abgeordneten von Santa Cruz vor das Verfassungsgericht:
Man habe den Artikel 60 der Konstitution missachtet, der die Zahl der Sitze in
der Abgeordnetenkammer auf der Basis der letzten Volkszählung festlegt.
Sie fand 2001 statt. Bei der gebotenen Eile war sie nicht berücksichtigt
worden. Sie weist jedoch eine höhere Einwohnerzahl für die Städte
La Paz, Santa Cruz und Cochabamba aus, die dadurch mehr Sitze bekommen müssten.
Das Verfassungsgericht nahm am 22. September die Beschwerde an, was neuerlich
für Aufregung sorgte und neue Unruhen auslöste.
Der für den 4. Dezember angesetzte Wahltermin konnte nach dem Entscheid
des Wahlgerichts zugunsten einer neuen Sitzverteilung nicht eingehalten werden.
Am 2. November verschob Präsident Rodriguez die Wahl auf den 18. Dezember.
Ängste und Hoffnungen des Landes kristallisieren sich in zwei Punkten: einer
verfassunggebenden Versammlung und der Verstaatlichung der Rohstoffe. Was den
zweiten Punkt betrifft, so will die siegessichere MAS Vorsicht walten lassen: „Eine
entschädigungslose Verstaatlichung, wie die Radikalen sie wollen, würde
uns in die 70er-Jahre zurückwerfen, aber in einem so kleinen Land wie dem
unseren, das von internationaler Hilfe lebt, kämen wir in eine schlimmere
Situation als Kuba durch die Blockade“, meint Alex Contreras. [7]
Garcia Linera äußert sich ähnlich: „Es ist eine Frage des
Kräfteverhältnisses. Ich bin für eine pragmatische Lösung.
Was kann man mit Petrobras machen, das heißt mit der brasilianischen Regierung?
Ein Land von 175 Millionen Einwohnern! Wir müssen besonnen sein.“ Evo
Morales fasst zusammen: „Viele Multis operieren auf der Basis von illegalen
und verfassungswidrigen Verträgen, betreiben Schmuggel, zahlen keine Steuern.
Wir werden dem Gesetz Geltung verschaffen, aber wir setzen bei der Verstaatlichung
auf Wege des Dialogs und der Verständigung.“
Was die verfassunggebende Versammlung betrifft, so will die Rechte davon nichts
wissen, „wenn man darunter eine Versammlung versteht, die die Befugnis
hat, das Land von den Füßen auf den Kopf zu stellen, die Einfluss
auf das Recht auf Eigentum nimmt, insbesondere bei Bodenschätzen und Ländereien,
und in der sechzig Prozent der Abgeordneten Indigene sein müssen. [8]
Die MAS fordert nämlich eine Versammlung, in der Angehörige der indigenen
Völker – wie in der Bevölkerung – mehrheitlich vertreten
sind und die souverän, ohne jede einschränkende Vorbedingung, agieren
kann.
Fußnoten
- Siehe Walter Chävez, „Unrentable Kundschaft in
Bolivien“, Le Monde diplomatique, März 2005. [back]
- Ebd. [back]
- Die MIR („Linke Revolutionäre Bewegung“)
wurde 1970 in Opposition zur Militärherrschaft gegründet und ist heute
völlig korrumpiert. Der Name steht in klarem Widerspruch zum politischen
Programm. [back]
- Ursprüngliches Kernland des Inkareiches, das sich über
den Westen Boliviens, den Süden Perus und den Norden Argentiniens und Chiles
erstreckte. [back]
- Verächtliche Bezeichnung für die indianische Hautfarbe
(cobre bedeutet Kupfer). [back]
- Die MAS regelte das Führungsproblem von El Alto auf
ihre Weise: Abel Mamani wurde Kandidat für die Präfektenwahl von La
Paz. bei der er nicht die geringsten Chancen hat. Damit dürfte er politisch
erledigt sein. [back]
- Petrobras (Brasilien). Repsol YPF (Spanien, Argentinien),
British Gas (Großbritannien) und Total (Frankreich) haben bereits angekündigt,
dass sie ihre Investitionen in Bolivien gegebenenfalls einfrieren werden. Gleichzeitig
berufen sich diese multinationalen Unternehmen auf die internationalenAbkommen
zum gegenseitigen Schutz der Investitionen, um gegen das neue Rohstoffgesetz
zu protestieren und ihre Interessen zu verteidigen. [back]
- So Carlos Dabdoub, Vizepräsidentschaftskandidat der
Nationalen Union (UN). [back]
Aus dem Französischen von Josef Winiger
Maurice Lemoine ist stellvertretender Chefredakteur von Le Monde diplomatique,
Paris. |
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