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„PetroAmérica“
Günter Pohl junge
Welt 12.
August 2004
Die staatlichen Ölindustrien Lateinamerikas und die Initiative
Venezuelas zur strategischen Zusammenarbeit im Energiesektor
Wenige Tage vor dem Referendum über die Fortführung der Amtszeit
von Venezuelas Präsident Hugo Chávez am kommenden Sonntag wird die
reiche Erdölindustrie des südamerikanischen Landes zunehmend wieder
in den politischen Konflikt zwischen den alten Eliten und der linken Regierung
eingespannt. So versuchte Elio Ohep, Chefredakteur der venezolanischen Fachzeitschrift
Petroleum World, am Mittwoch in einem Kommentar die Angst internationaler Unternehmen
vor der Regierung Chávez zu schüren. Dessen Regierung, so Ohep, bestehe
aus „wortführenden Populisten, ehemaligen Kommunisten und anderen
reaktionären Gruppen“. Deshalb werde Chávez am kommenden Sonntag „eine
vernichtende Niederlage erleiden“. Eine Meinung, die wohl eher dem Wunschdenken
derjenigen reichen Minderheit geschuldet ist, die bis zu Chávez’ Amtsantritt
1999 von der Ölrendite profitierte. Internationale Unternehmen sehen den
Konflikt inzwischen realistischer. So schrieb die Wirtschaftszeitung Financial
Times Deutschland am gestrigen Mittwoch: „Ausländische Investoren
setzen auf Chávez“. Die Zeitung zitiert den Chefökonomen einer
US-Energieberatungsfirma. Der sagt, ausländische Unternehmer hätten
sich zunächst von dem „Negativismus“ der venezolanischen Investoren
beeinflussen lassen. Tatsächlich aber pflege Chávez gute Beziehungen
zu ausländischen Investoren. Der Präsident hat mit dem Erdöl allerdings
mehr vor, als die Ressourcen wie früher einer kleinen Machtclique zu überlassen.
Hugo Chávez, Präsident Venezuelas, und sein argentinischer Kollege
Néstor Kirchner nennen erst einmal „PetroSur“, was sie am
8. Juli beschlossen haben. Argentinien und Venezuela werden strategisch im Energiesektor
zusammenarbeiten. „Das 21. Jahrhundert sieht uns vereint oder beherrscht“,
sagte Chávez. Auf Grundlage der Resolution 34 der Lateinamerikanischen
Energieorganisation, die eine Initiative Venezuelas zur Schaffung von „PetroAmérica“ ist,
sind die beiden Länder ein energetisches Bündnis eingegangen, das ihre
wirtschaftliche, soziale und politische Integration zum Ziel hat.
Die meisten lateinamerikanischen Staaten haben eine staatliche Ölindustrie.
Die wichtigsten sind die Petróleos Mexicanos (PeMex), Petróleos
de Venezuela (PdVSA), Petróleos de Brasil (PetroBras), Petroleos del Ecuador
(PetroEcuador), Petróleos del Perú (PetroPerú) oder die
Empresa Colombiana de Petróleos (ECOPETROL). Diese staatlichen Firmen
werden jeweils von einem Ministerium kontrolliert und fungieren oft als Dachverband
für kleinere, regionale, ebenfalls staatliche Unternehmen. Die bolivianische
Yacimientos Petrolíferos Fiscales Bolivianos (YPFB) wurde unter dem damaligen
Präsidenten Sánchez de Lozada privatisiert, ebenso unter Präsident
Carlos Menem die argentinische Ölgesellschaft. Ernste Bestrebungen zur Privatisierung
der Erdölindustrie gibt es zurzeit außerdem in Kolumbien und Mexiko.
Für praktisch alle lateinamerikanischen Staaten bedeutet der Ölverkauf
eine wichtige Einnahmequelle. Diese Gelder für staatliche Aufgaben zu nutzen
wird aber zunehmend komplizierter, da sie zumeist der Tilgung der Auslandsschuld
anheimfallen. Aber die Ölindustrie bringt nicht nur Devisen. In Kolumbien,
Venezuela und Mexiko sind die Ölgesellschaften auch die mit Abstand wichtigsten „Arbeitgeber“ und
tragen wesentlich zum Bruttoinlandsprodukt bei. [1] Doch die Gewinne bleiben häufig
nur zu einem kleinen Teil im eigenen Land. Überall, wo der Staat Konzessionen
zur Ölförderung an private Unternehmen aus Europa, Kanada und den USA
vergibt, behalten die internationalen Investoren die Gewinne, abzüglich
der „regalía“, einer Förderabgabe, die an den Staat geht.
Staaten wie Kuba oder Venezuela gehen dagegen Joint-ventures ein, wo ein bestimmter
Prozentsatz des Gewinns garantiert beim Staat verbleibt, der höher als die „regalía“ ist.
Dass überhaupt mit den transnationalen Ölmultis kooperiert wird, liegt
zum einen in der notwendigen Hochtechnologie, über die in der Region bestenfalls
noch Venezuela selbst verfügt [2], zum anderen in den an die internationale
Kreditvergabe geknüpften Bedingungen. Würde es möglich sein, die Ölvorräte
ohne ausländische Beteiligung (also Gewinnabschöpfung) zu verwerten,
stünde den süd- und mittelamerikanischen Staaten genügend Geld
für Sozialprogramme zur Verfügung, die es in der Region derzeit nur
in Venezuela gibt, wo die 1976 verstaatlichte Ölindustrie erst jetzt, nach
den Umstrukturierungen in ihrer Führung, real dem Staat zugute kommt.
Aber nicht nur dieses Land leidet unter dem anderen Aspekt der internationalen
Abhängigkeit: Es muss eine erdrückende und größtenteils
illegale Schuldenlast begleichen. In Ecuador zum Beispiel werden die Gewinne
aus der letztes Jahr fertig gestellten zweiten Pipeline vom Urwald an die Küste
zu achtzig Prozent in den Schuldendienst gesteckt – und dabei wiederum
größtenteils nur in Zinszahlungen. Die eigentlichen Schulden (16 Milliarden
Dollar) wurden durch den Pipelinebau noch einmal um eine Milliarde erhöht.
Mit immensen Schäden für die Umwelt und dem Verlust seiner strategischen
Ressource Erdöl bezahlt Ecuador also Schulden, die durch das vom IWF vorgeschriebenen
Mittel zur Schuldentilgung – die Pipeline – erst noch derart erhöht
wurden, dass sie mit dem für 2030 kalkulierten Versiegen des Öls noch
immer nicht bezahlt sind. Übrig bleibt eine zerstörte Umwelt, immer
noch Milliarden Dollar Schulden und – eine schicke, nutzlose Pipeline.
Das Problem der Schulden ist nur im internationalen Kontext einer gemeinsamen
Schuldnerfront, wie beim letztlich gescheiterten Versuch 1982, zu lösen.
Eine solche Front ist jedoch in weiter Ferne. Der sozialen Misere in den südamerikanischen
Ländern kann allerdings auf mehreren Ebenen begegnet werden: a) durch den
erwähnten (und derzeit unwahrscheinlichen) Schuldenstreik mit dem Ziel einer
gerechten Weltwirtschaftsordnung, b) durch Umschichtungen bei den Besitzverhältnissen
in den einzelnen Ländern (was zurzeit am wahrscheinlichsten in Venezuela
wäre) und c) durch einen Zusammenschluss der Staaten bei den strategischen
und devisenbringenden Ressourcen. Und genau hier bewegt sich etwas in Südamerika.
Während seines Besuchs beim argentinischen Präsidenten Kirchner, bei
der beide Länder am 29. März eine erste Willenserklärung zum Austausch
von Erdöl gegen Nahrungsmittel unterzeichneten, hatte der PdVSA-Chef Alí Rodríguez
Araque erklärt: „Die Erdölindustrie ist ein Bündnispartner
im Kampf gegen die Armut, die unsere Länder bedrückt. Die Überwindung
der Geißel Armut geht über die Integration unserer Völker und
die Suche nach kontinentaler Synergie auf allen Gebieten. Also muß die
südamerikanische Integration mit dem energetischen Ausgleich einhergehen.“
In diesem Sinne haben venezolanische Diplomatie und Ölgesellschaft weitergemacht.
Während auf staatlicher Ebene nach jahrelangen Verhandlungen im April eine
Freihandelszone zwischen den Mitgliedern der Andennationengemeinschaft (CAN) [3]
und den Ländern des MerCoSur (Gemeinsamer Markt des Südens) [4] vereinbart
wurde und Anfang Juli während seines Gipfeltreffens im argentinischen Puerto
Iguazú der MerCoSur Venezuela als assoziiertes Mitglied aufnahm, kam parallel
die Integration der Ölgesellschaften voran.
Das Projekt „PetroAmérica“ war erstmals 1995 in Vereinbarungen
zwischen den damaligen Präsidenten Brasiliens und Venezuelas, Fernando Henrique
Cardoso und Rafael Caldera, auf dem Tisch. Rafael Ramírez, venezolanischer
Minister für Energie und Bergbau, sieht „PetroAmérica“ als
mittelfristig machbar: „Wir werden Kooperationabkommen in den Bereichen
der Produktion und dem technologischen und logistischen Austausch machen und
das Projekt später in eine juristische Form bringen.“ Die Regierung
Venezuelas sieht es als entscheidend für die Überwindung der US-Dominanz
in Südamerika an, dass die nationalen Gesellschaften aufhören, miteinander
zu konkurrieren. Venezuela, mit fast 80 Milliarden Barrel Ölreserven das
größte Ölland der westlichen Hemisphäre [5] und der Welt fünftwichtigster
Exporteur, ist der Motor für die Integration der Ölgesellschaften Südamerikas.
Derzeit sind Argentinien, Bolivien, Ecuador und Brasilien am Projekt „PetroAmérica“ grundsätzlich
interessiert. Am 11. Mai kündigte Argentinien die Gründung der „Energía
Argentina S.A.“ (Enarsa) an. Enarsa stellt mit seiner staatlichen Aktienmehrheit
den nicht einfachen Versuch dar, die privatisierte Ölindustrie zurückzugewinnen.
Helfen würde dabei die beabsichtigte Geschäftsverbindung zwischen den
in öffentlicher Hand verbliebenen Energieunternehmen der argentinischen
Provinzen mit PdVSA und PetroBras. Mit der PdVSA ist während der Unterzeichnung
der Gründungsakte von „PetroSur“ auch eine Übereinkunft
zur Instandhaltung der venezolanischen Tanker in den Werften von Río Santiago
zustande gekommen.
Auch Boliviens Regierung versucht, dem Staat verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen.
Mit der PdVSA schloß man im April eine Kooperationsvereinbarung, die venezolanische
technische Dienstleistungen für eine potientielle Neugründung der YPFB
vorsieht. Außenminister Siles kündigte baldige Verhandlungen mit Venezuela über „PetroAmérica“ an.
Das erste Abkommen dieser Art schlossen 2002 Venezuela und Brasilien. Dabei geht
es sogar um gemeinsame Aufschlußbohrungen und die anschließende Verwertung
von Öl und Gas. Beide Länder beließen es nicht bei guten Absichten:
Während der Sabotageaktionen der ehemaligen PdVSA-Funktionärsclique
2002/2003 versorgte die PetroBras Venezuela mit beträchtlichen Mengen an
Treibstoffen und Erdöl, ohne die die Chávez-Regierung vermutlich
gestürzt wäre. Nun soll in Belem do Pará eine gemeinsame Raffinerie
entstehen, für die 300 Millionen Dollar aufgewendet werden. PdVSA wird dort,
im Nordosten Brasiliens, ein Tankstellennetz errichten. Die venezolanische Raffinerie
in Brasilien wäre die neunzehnte im Ausland, neben sechs Raffinerien in
Venezuela selbst. [6] Derzeit bereiten die Bergbauminister beider Länder ein
Gespräch von Präsident Lula da Silva mit Hugo Chávez vor, bei
dem über die Eingliederung von PetroBras in das „PetroSur“-Projekt
beraten werden wird.
Schließlich war im Jahr 2003 eine Vereinbarung über die Herstellung
einer „Regionalen Einheit bei fossilen Brennstoffen“ mit Ecuador
geschlossen worden. Hier wurde ein Vertrag über technische Zusammenarbeit
bei Erdgas, Flüssiggas, Benzin und Schmierstoffgrundstoffen unterzeichnet.
Auch mit anderen Staaten, die dem transnationalen Zusammenschluß noch skeptisch
gegenüberstehen oder aus geopolitischen Gründen noch nicht in Frage
kommen, machte Venezuela bereits Vertragsabschlüsse – sowohl mit der
kubanischen CuPet als auch mit PetroTrin aus Trinidad und Tobago. Mit der Karibik
und der Andenregion sind neben „PetroSur“ als weitere Unterbauten
für „PetroAmérica“ auch „PetroCaribe“ und „PetroAndina“ geplant. „PetroCaribe“ nimmt
bereits Formen an: Am 26. und 27. August werden sich in Jamaica die Energieminister
von Kuba, Guyana, Antigua und Barbuda, Bahamas, Dominica, Jamaica, Saint Vincent
und Grenadines, Trinidad und Tobago, Saint Kitts-Nevis, Surinam und Granada treffen,
um über die am 10. Juli in Caracas geschlossenen politischen Termini zu
Handelsabkommen zu gelangen. Für Venezuelas Energieminister Ramírez „hat
Venezuela als größtes Ölland der Region eine fundamentale Rolle,
um unseren karibischen Bruderländern die gleichen Bedingungen für die
Erlangung der Energieabkommen von Caracas zu ermöglichen“. Mit Trinidad
und Tobago, einer vor der venezolanischen Küste gelegenen Inselgruppe, hat
Venezuela bereits im August 2003 eine Kooperation bei der Gewinnung von Flüssiggas
geschlossen.
Eine kontinentale Zusammenarbeit zum Vorteil der beteiligten Länder wäre
ein Etappensieg auf dem Weg der lateinamerikanischen Länder zu ihrer zweiten,
endgültigen Unabhängigkeit. Das Öl könnte ein Schmierstoff
für die Integration sein. Ein „PetroAmérica“, das aus
den nationalen Ölgesellschaften Venezuelas, Brasiliens, Ecuadors und den
entstehenden Argentiniens und Boliviens bestünde, würde, so Miguel
Lara in einem Artikel für Rebelión, 11,5 Prozent der weltweiten Ölreserven
stellen. Bei einer geschätzten zweiprozentigen Zunahme der jährlichen Ölnachfrage
(von heute 81 Millionen Barrel auf 112 Millionen pro Tag im Jahr 2025) [7] und der
Annahme, dass auch in den kommenden zwei Jahrzehnten die fossilen Brennstoffe
neunzig Prozent des weltweiten Energiebedarfs decken werden, befinden sich die Ölerzeuger
in einer privilegierten Position; gleichzeitig aber steigt auch das Interesse
der imperialistischen Staaten an ihren Ressourcen. Und sie werden dafür
nicht bezahlen wollen.
Fußnoten:
- Kolumbien 40 000 Beschäftigte (Verstaatlichung 1948), Mexiko 139 000
Beschäftigte (Verstaatlichung 1938) [back]
- Venezuela hat eine tägliche Förderung von 3,1 Millionen Barrel, von
denen 2,2 Millionen exportiert werden. 2003 hatte die PdVSA einen Nettogewinn
von 3,8 Milliarden Dollar [back]
- Comunidad Andina de Naciones: Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien [back]
- Mercado Común del Sur: Brasilien, Paraguay, Argentien und Uruguay mit
den assoziierten Mitgliedern Peru, Bolivien, Chile und Venezuela [back]
- Laut Nelson Martínez, Direktor der PdVSA, hat Venezuela bei Beibehaltung
der derzeitigen Produktionsmenge sogar Reserven für 285 Jahre. Im Orinoco-Becken
liegen noch schwer zu schätzende Mengen Öl [back]
- In Venezuela werden 1,1 Millionen Barrel täglich raffiniert [back]
- Auch für Lateinamerika wird von einer zweiprozentigen Zunahme von heute
7,5 Millionen Barrel auf 11 Millionen im Jahr 2025 ausgegangen. Die Nachfrage
für Gas steigt sogar noch deutlicher: im gleichen Zeitraum in der Welt auf
das Doppelte und in Lateinamerika auf nahezu das Dreifache. [back]
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