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Rainer Trampert |
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Die Tragödie als günstige Gelegenheit
Rainer Trampert 10.
Oktober 2001
Letzte Meldungen: „Hinweise auf einen unmittelbar bevorstehenden Militärschlag
der USA nehmen zu“ – „Erster Bündnisfall“ –
„Herr Wickert, wie haben Sie das gemeint?“
Die Süddeutsche Zeitung kommentierte am 29./30. September: „Die Dynamik
der Ereignisse seit dem 11. September“ lässt „keinen Zweifel,
dass sich nun ein großer Gestaltungsspielraum auftut für sehr grundsätzliche
Fragen der Geopolitik“. Die Attentate geben „einen bedeutenden Vermessungspunkt
ab ... bei der ständigen Justierung des Systems Erde und seiner rivalisierenden
Mächte“, es komme aber noch „nicht zu einem Bild“. Irgendwie
schon. Ich weiß nicht, wie die Landkarten in zwei Jahren aussehen, werde
aber versuchen, die herumliegenden Mosaiksplitter zusammenzufügen, so viel
der Platz hergibt. Die Analyse stünde ohne Worte zur linken „Moral“
einsam da, zumal der Aufruf im Feuilleton der FAZ: „Wir sind Soldaten der
Zivilisation“ nur der Linken zu schaffen machen dürfte, die bei jedem
Krieg des „Westens“ Leute abgeben muss an die Zivilisation, das Menschenrecht
oder den Antiamerikanismus.
Die Anschläge auf Zentren des Imperiums haben eine ungeheure Dimension. Seit
die kapitalistische Epoche mit der Jagd nach Bodenschätzen und Sklaven eingeläutet
wurde, gingen Hunderte Millionen Menschen für ihren Aufschwung drauf. Dass
mit dem Massaker an 6000 Zivilisten ein neues Zeitalter beginnen soll, sagt unverfroren,
welches Leben Wert und welches keinen Wert hat. Genauso vernünftig ist die
Feststellung, dass man sich eine Gesellschaft nicht vorstellen möchte, in
der Radikale das Sagen haben, die nur einen Feind kennen: alle Amerikaner, alle
Juden, alle Frauen mit Gesichtern, alle gottlosen Kommunisten und alle, die sich
ihrem Joch nicht unterwerfen.
Wer nicht beides scheußlich findet, sondern Parteinahme verlangt, soll sich
mit seinen neuen Partnern liieren und sich nicht hinter Zivilisation, die alles
ist, oder „das ham se davon“ verstecken. Das eine erinnert an linke
Debatten im Golf-Krieg. Da war Zivilisation eine Errungenschaft, „in der
viel Mühe und Zeit steckt“, ein Deutscher hatte „kein moralisches
Recht, die USA zu kritisieren“, und Hitler wurde in den Irak exportiert,
damit man Zivilisation denken konnte ohne ihn, der ihr entsprungen war. Wer den
USA das Massaker gönnt, soll sich zu den Explosionen auf dem Bologneser Bahnhof
oder dem Oktoberfest bekennen. Die Vereinigten Staaten haben schon deshalb ihre
Toten nicht zu verantworten, weil der Führungsanspruch der Weltmacht das
Symbol der Verwundbarkeit nicht gut erträgt und ihre Kriege auf die Tötung
anderer bei höchstmöglicher Rettung der Eigenen zielen. Wegen der Moral
sieht man die anderen nicht sterben. TV-Bombardierungen von Bagdad, Tripolis,
Belgrad, Afghanistan oder Sudan kennen nur punktgenaue Treffer, na gut, mit Kollateralschäden
dann und wann.
Inzwischen hat sich herumgesprochen, dass die Attentäter wohl Zivilisierte
waren und der Islam so wenig homogen ist wie das Christentum. Auch die „islamische
Welt“ zerfällt in Nationalstaaten, Machtkalküle und Großmachtambitionen.
Wäre das steinreiche Saudi-Arabien ein „Bruder“, läge es
nahe, Palästinensern ein gutes Leben aufzubauen. Das Regime richtet Frauen
hin und beutet Millionen ägyptische, palästinenische und pakistanische
Arbeiter aus. Klappt das besser, wenn Palästinenser in Lagern hausen, in
die Israel sie trieb, und ihre Demütigung auf die Projektionsfläche
„Israel“ abladen? Dieser Brandherd soll nun gelöscht werden,
um islamischen Kriegspartnern ein positives Signal zu geben. Viele klerikal-faschistische
Regimes, deren Macht auf der „jüdisch-amerikanischen Weltverschwörung“
als Projektionsgefäß sowie patriarchaler Unterwerfung und religiöser
Disziplinierung baut – die ohne Schläge und Hinrichtungen nicht auskommt
–, sind genauso Verbündete des Westens wie Despoten in Zentralasien.
Ihn interessiert überhaupt nicht, dass die Nordallianz Frauen unter Zelten
versteckt. Den Aufruf, „wer die Freiheit liebt, muss jetzt an unserer Seite
stehen“, werden viele Menschen aus Erfahrung mit Bomben, Pinochet, Saddam
im Krieg gegen den Iran und Taliban gegen die Sowjetunion übersetzen.
Der Westen hat nicht nur draußen grässliche Freunde, sondern seine
eigenen Tempelwächter. Wie Papst Urban II. beim ersten Kreuzzug rief: „Macht
euch auf den Weg zum Heiligen Grab, entreißt dieses Land dem frevelnden
Volk“, schrieb Ann Coulter in der National Review: „Wir sollten in
ihre Länder einmarschieren, ihre Führer umbringen und sie zum Christentum
bekehren.“ (Die Woche, 21. September 2001) Fanatiker und Stammtisch-Rassisten
zünden nun Moscheen an, bespucken Frauen wegen ihrer Kopftücher und
erschießen indische Turbanträger. Am Tag danach wollte ein elfjähriges
afghanisches Kind mit einer Blume in der Hand seine Trauer zeigen und sich bei
Mitschülern für die Aufnahme in Deutschland bedanken. Es wurde als bin
Laden beschimpft und verprügelt. So etwas mögen „unsere“
Politiker nicht gern. Das Zentrum soll still sein, und der Terrorismusbegriff
darf sich nicht auf den Islam verengen. Die Sicherung der Märkte, Investitionen
und Transportwege richtet sich gegen alle vorhandenen und potenziellen Störenfriede,
ob Staaten und Cliquen, soziale Befreiungskämpfe, Armutsaufstände oder
nur militante Globalisierungsgegner.
Die islamistische Bewegung hat Zulauf. Warum? Über allem steht das Elend
der Menschen und die Erkenntnis, dass falsche Radikalität in dem Maße
wächst, wie der Gedanke an soziale Befreiung aus den Köpfen geprügelt
wurde. Vor Ort helfen befreundete Regimes kräftig nach. „Armut“
sei „der stärkste Verbündete der Islamisten“, sagt Askar
Akajew, der Präsident von Kirgisistan, und der Diktator Islam Karimow in
Usbekistan schafft mit seiner „totalen Verfolgung der säkularen Opposition
... ein Vakuum“, das mit radikalislamistischer Ideologie gefüllt werde.
[1] Der Zulauf beruht auch auf der Demütigung, die mit jedem imperialen
Sieg und seinem Herrenmenschenbild, das sich an militärische und ökonomische
Überlegenheit koppelt, wuchs. Es gehe nicht um den Kampf der Kulturen, sagte
Gerhard Schröder, sondern „um den Kampf um die Kultur“. Es „geht
– diese Worte wägend – also darum“„ schrieb die Frankfurter
Allgemeine, „wer bestimmt, was die Kultur ist“. Zum Beispiel Silvio
Berlusconi.
Die Ursachen können keiner Religion zugeordnet werden. Auch Christen tun
sich schwer mit der Liebe zum Imperium. Nach einer Umfrage der Zeitung Noticias
halten 72 Prozent der Argentinier die USA für mitverantwortlich an den Anschlägen.
In Mexiko, Ecuador, Chile und Peru gab es ähnliche Ergebnisse. Aus Furcht
vor der Bevölkerung baten Mexiko und Chile darum, den militärischen
Beistandspakt mit den USA aussetzen zu dürfen. Die Frage war falsch gestellt,
und Antisemitismus wird bei einigen im Spiel gewesen sein. Dort ist aber vor allem
die Erinnerung an CIA-gestützte Juntas noch wach, die kaum eine arme Familie
ohne ermordete Verwandte ließ.
Wenn solche Menschen „Solidarität mit den USA“ hören, denken
sie eher an das, was Noam Chomsky in seinem Buch „War against people“
[2] schreibt: Durch die Welthandelsorganisation WTO sterben „Millionen Menschen
... weltweit an heilbaren Krankheiten“, weil die von ihr „eingeschriebenen
protektionistischen Elemente“ den Konzernen „das Recht auf monopolisierte
Preisbildung zugestehen“ und billige pharmazeutische Mittel aus der Eigenproduktion
als Handelshemmnis verbieten. Davon profitiert die Pharmaindustrie weltweit, nicht
nur in den USA.
Mittlerweile glauben wohl nur noch wenige, dass man mit 30 000 Soldaten, 300 Flugzeugen,
vier Flugzeugträgern, die jeweils ein Militärpotenzial mit sich führen,
von dem die meisten Staaten nur träumen dürfen, bin Laden und seine
Leute verhaften will. Wir schlittern schon lange in eine neue Kriegsepoche. „Die
Herausforderungen sind nicht neu, jedenfalls nicht in der Substanz, nur in der
Dringlichkeit“, sagte Rudolf Scharping am 2. Oktober vor dem zwölften
Forum „Bundeswehr und Gesellschaft“. Insofern sei „die Tragödie
auch eine Chance“. Man hat die Tragödie nicht gewollt, verwandelt sie
aber in eine günstige Gelegenheit. Die Kriegspropaganda emanzipiert sich
vom Menschenrecht und kehrt zurück zum klassischen Imperialismus. Ekelhaft
war diese Verlogenheit schon vorher, meint die FAZ, „von Interessen der
Interventionsmächte durfte im Kosovo nicht geredet werden, sie traten als
heilige Nothelfer auf“. (FAZ, 20. September 2001) Nun geht es offen um die
Sicherung von Rohstofflagern, Transitstrecken und Investitionen sowie um die militärische
Besetzung geostrategischer Knotenpunkte.
Außen und Innen wachsen zusammen. Ob Ronald Schill Hamburg säubert
oder Otto Schily sich gebärdet wie kurz vor der Machtergreifung, beide repräsentieren
die Verwandlung der Zentren in nationalpatriotische Notstandsgesellschaften, die
keine Parteien mehr kennen. Nur weil einige diskutieren wollen, geraten die Grünen
unter Generalverdacht. Kriege, Bestechungen und Protektorate zur strategischen
Herstellung der Bedingungen für Profitimporte verursachen Kosten, die dem
Sozialen abgepresst werden sollen. Zum anderen, sagt der ehemalige Vorsitzende
des Nato-Militärausschusses, Klaus Naumann (Welt am Sonntag, 16. September
2001), benötige die neue Zeit wieder mehr Soldaten, die „fern der Heimat“
kämpfen, und eine Heimat, die wieder Leichensäcke erträgt. Der
US-Republikaner William Bennett will „killen“ und ist sich sicher:
„Es wird nicht mehr zu Protesten führen, sollten Leichensäcke
heimgebracht werden“, in denen eben keine Selbstmordattentäter liegen,
sondern Soldaten, die nur für die Sache sterben mussten. In den USA gibt
es den Fahneneid der Straße. Hier wollen 82 Prozent der Bevölkerung
„eine Einschränkung der persönlichen Freiheit durch verstärkte
Sicherheitsmaßnahmen hinnehmen“. Dass es diesmal „uns“
treffen könnte, erzeugt eine Angst, die für beides gut ist: Notstandsgesetze
und Friedensbewegung.
Die Warnungen vor Rache oder Vergeltung sind falsch. Die USA machen das, was sie
schon lange vorhatten. US-Präsident George Bush hatte 1990 darauf hingewiesen,
dass die Streitkräfte nun „für die Dritte Welt benötigt“
würden. Der heutige US-Außenminister Cheney sprach 1990 von der Beseitigung
entfernter „Renegaten-Regimes“, und General Gray sagte im selben Jahr:
„Für unsere Industrie notwendige Ressourcen“ und den „freien
Zugang zu auswärtigen Märkten“ sollen die Streitkräfte „an
jedem Ort des Globus ... schnell einsetzbar“ sein. Rudolf Scharping wollte
in der letzten Woche eine „umfassend verstandene Sicherheit“ nach
„Nord-Süd-Kategorien denken“. Mit Schurkenstaaten hatte es begonnen.
Die Aussicht, dass es gegen jeden gehen soll, der nicht mit „uns“
ist, setzt keine Grenzen mehr. Man wird nicht nur Krieg machen. Was sich in Anwesenheit
der Flugzeugträger diplomatisch regeln lässt, ist willkommen. Auch im
Zeitalter der Kanonenbootpolitik wurde nicht ständig gefeuert. Es wird nicht
gleich gegen alle gehen. Zehn Jahre und länger soll der Feldzug dauern. US-Außenminister
Colin Powell sagte am 3. Oktober, arabische Staaten hätten derzeit keinen
Grund zur Sorge. Er könne aber nicht sagen, was in Zukunft sein werde.
Die Konzentration auf Zentralasien ist ebenfalls nicht neu. Bill Clinton hatte
schon angekündigt: Der Krieg gegen Jugoslawien werde „kein Einzelfall“
sein, „ein Großteil der früheren SU steht vor ähnlichen
Herausforderungen, darunter Südrussland, die Kaukasusnationen sowie die neuen
Nationen Zentralasiens“. (Jungle World, Nr. 29/99) Deutsche Experten schrieben
1998: „Das Regionalkommando Süd der Nato“ bereite sich auf „ein
frühzeitiges Engagement“ im kaspischen Raum vor. Deutschland habe ein
vitales Interesse, weil deutsche Konzerne dort in „Bergbau, Energie, Telekommunikation,
Luftverkehr, Landtechnik, Textilindustrie und Infrastruktur-Entwicklung“
engagiert seien. Das war ernst gemeint. Am 1. Oktober erläuterte Außenminister
Fischer seinem türkischen Amtskollegen und dem kasachischen Präsidenten,
man werde „regionale Konflikte lösen“ im „Kaukasus, in
Zentralasien und im Nahen Osten“. Wenn gesagt wird, der Gürtel um Afghanistan
habe sich enger gezogen, meint man vor allem den Gürtel, der von den Taliban
und anderen heiligen Kriegern destabilisiert wird.
Warum Zentralasien? Die Region ist reich an Bodenschätzen, und ihre Lage
ist bedeutsam. Sie bildet die Achse zwischen Europa und Asien, der modernen Seidenstraße
und dem Nord-Süd-Verkehr zum Indischen Ozean. Außerdem besteht die
Hoffnung auf einen dynamisch wachsenden Markt, vergleichbar mit den ostasiatischen
Tigerstaaten oder China. US-amerikanische, westeuropäische, russische und
chinesische Konzerne haben dort neben türkischen, arabischen und iranischen
investiert. Die bekannten Ölreserven sind doppelt so groß wie die der
Nordsee. „Sollten sich die Hoffnungen auf weitere 235 Milliarden Barrel
bestätigen“, schrieb die Welt am Sonntag am 16. September, würde
„die Region auf ein Viertel der nahöstlichen Reserven kommen“.
In Turkmenistan liegen bedeutende Gasvorkommen, in Usbekistan Uran und Gold. Kasachstan
besitzt die drittgrößten Uranreserven, nimmt bereits die Plätze
sieben bis zehn ein in der Förderung von Zink, Silber, Bauxit und Kupfer,
liefert Öl, Eisenmetalle, Kupfer, Chemikalien und Getreide nach Russland,
in die Ukraine, nach China, Italien, Deutschland und Großbritannien und
bezieht Maschinen und Reaktoren, Elektroausrüstungen, Ölprodukte, Fahrzeuge
und Nahrungsmittel zu 40 Prozent aus Russland, zu zwölf Prozent aus Deutschland
und zu je fünf Prozent aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Dem Geostrategen und ehemaligen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski, der
regelmäßig analysiert, was Präsidenten in Stimmungen übersetzen
müssen, ging es 1997 um die Macht der USA auf der „eurasischen Landmasse“,
die „den Ausschlag geben“ werde über Amerikas globale Führungsrolle“
im 21. Jahrhundert. 1999 schrieb er in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“
[3]: Wer die Region Zentralasien „unter Kontrolle oder unter seiner Herrschaft
hat“, wird den „geopolitischen und ökonomischen Gewinn einheimsen“.
Kein Konkurrent dürfe die Fähigkeit erlangen, „die Vereinigten
Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend
zu beeinträchtigen“. Afghanistan und Pakistan spielten eine wichtige
Rolle in seinen Überlegungen. Turkmenistan favorisiere „die Möglichkeiten
einer neuen Pipeline durch Afghanistan und Pakistan zum Arabischen Meer“.
Die USA sollten „pakistanisch-afghanische Beziehungen“ herstellen,
weil die „den internationalen Zugang zu Turkmenistan erleichtern“
und seine Leitungen durch den Iran überflüssig machten.
Diese Route sollte unter Kontrolle der USA gebaut werden, und die Taliban-Führer
hatten bei einem Staatsempfang in Washington ihre Sicherung versprochen. Die Talibanschulen
sind eine Einrichtung, in der Pakistan Krieger ausbildete, die Afghanistan beherrschen
und mit Pakistan wiedervereinigen sollten für „die Wiederherstellung
von Transitverbindungen nach Zentralasien, wo reichhaltige Energievorkommen lagern“.
Die Wiedervereinigung, zumindest mit einem kontrollierten Teil Afghanistans, könnte
nun unter US-Kontrolle realisiert werden. Die USA regieren Pakistan über
„mehrere hochrangige US-Militärberater ... in Islamabad“ (Hamburger
Morgenpost, 21. September 2001). Seitdem erfahren wir, dass die einst gefährlichen
Atombombengeneräle sich in eine „liberalkonservative Regierung“
verwandelt haben, der die Schulden erlassen werden. Präsident Musharraf jammerte:
„Wenn man zwischen zwei Übeln zu wählen hat, muss man das kleinere
wählen.“ Hätte er sich nicht für die USA entschieden, wäre
Pakistan als Terroristenland behandelt worden.
Bei der Ordnung dieser Länder ging es Brzezinski ebenfalls um China „mit
seiner Unterstützung für Pakistan“. Auch „in Kasachstan
hat Peking seinen Fuß ganz weit in der Tür“, schreibt die Welt.
„Die Beziehungen zu Usbekistan, Krigisistan, Tadschikistan und Turkmenistan
wurden dramatisch ausgeweitet. China hat Grenzverträge mit zentral-asiatischen
Staaten gesichert, Handels- und Investitionsbeziehungen ausgebaut.“ (Welt,
28. Dezember 1999) China sitzt auch an den Ölquellen im Sudan. Die Republikaner
gehen in einem Strategiepapier davon aus, dass die USA und China im 21. Jahrhundert
„politisch und militärisch zwangsläufig Konkurrenten“ sind
(Le Monde Diplomatique, Mai 1999), weil China sich zur Großmacht entfaltet,
die aus den Nähten platzen könnte. Zu den Leitlinien der Bush-Administration
meinte Regierungsberater Robert Zoellik: „Russland und China“ seien
nicht „strategische Partner, sondern Wettbewerber, vor allem im sicherheitspolitischen
Bereich“. Im Verhältnis zu Europa werde Bush „Amerikas Führungsanspruch
hochhalten“. (Financial Times Deutschland, 20. März 2000)
Brzezinski nennt die Taliban eine Herausforderung, die „die Krise im früheren
Jugoslawien weit in den Schatten stellen wird“. Die USA müssten den
Raum schnell stabilisieren, denn noch sei Russland politisch zu schwach und zu
arm, „um das Gebiet ... zu erschließen“. Außerdem könnten
„ethnische und religiöse Konflikte“ und „Pakistans Destabilisierung“
zusammen mit den „politischen Spannungen in der Türkei ... auch die
bisher vor allem von den USA gewährleistete Sicherheit der Golfregion nachhaltig
beeinträchtigen“ und Amerikas „Status als Weltmacht bedrohen“.
Das bedeutet Krieg. Amerikas Öl-Interessen liegen existenziell in Saudi-Arabien
und seinen Anrainern. Das Regime des König Fahd verfolgt die Devise „saudisches
Öl gegen amerikanischen Schutz“. 6000 amerikanische Soldaten sind im
Land, die USA bekommen Wirtschaftsaufträge, und es wird ein stabiler Ölpreis
garantiert. Öl ist nicht knapp. Aber wer die Verfügungsgewalt besitzt,
erwirbt Preis- und Marktmacht über die Konkurrenzstaaten, kann Lieferländer
gegeneinander ausspielen und ist weniger durch Krisenzonen beeinträchtigt.
Der Saud-Clan ist gleichzeitig Hüter der heiligen Stätten Mekka und
Medina, und er finanzierte bisher islamistische Gruppen im Sudan, in Algerien
und auch in Afghanistan, angeblich zur Befriedung innerer Bedrohungen. Mal ruft
Ussama bin Laden zum Sturz des „unislamischen“ Königs auf, mal
mobilisiert der Iran die Pilger in Mekka. Solche Befriedungsschecks wird der König
wohl ab sofort unterlassen müssen.
Das Kaspische Meer hat keinen Zugang zu den Weltmeeren. Deshalb sind Transportwege
ebenso wichtig wie die Stoffe. Bisher gehen die Pipelinerouten überwiegend
durch russisches Gebiet. Ausnahme: die Strecke von Baku zum georgischen Schwarzmeer-Hafen
Supsa und Turkmenistans Anbindung ans iranische Netz. Zu den neuen Plänen
zählen die Linie durch Georgien bis zum türkischen Hafen Ceyhan, die
vertraglich beschlossen, aber wegen der hohen Kosten noch nicht gebaut wurde,
die Route über Afghanistan und Pakistan zum Indischen Ozean, sowie weitere
Verbindungen durch Jugoslawien nach Europa. Die US-Energie-Informations-Behörde
bestätigte, dass der US-Konzern „Albanian Macedonian Bulgarian Oil
Corporation (Ambo) eine Öl- und Gaspipeline vom bulgarischen ... Burgas durch
Mazedonien zur albanischen Hafenstadt Valona bauen möchte“. Abzweigungen
sollen nach Italien und Spanien gehen, um die Belieferung Südeuropas aus
Libyen und Nigeria zu bremsen. Den USA geht es darum, mit eigenen Strecken die
Versorgung Europas aus Russland einzudämmen. Der CDU-Stratege Willy Wimmer
berichtet von einer Alternative nördlich an Belgrad vorbei. Er schrieb an
Kanzler Schröder, dass Serbien „wohl zwecks Sicherstellung einer US-Militärpräsenz
auf Dauer aus der europäischen Entwicklung ausgeklammert werden“ soll.
(Interview in Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/01)
Die russische Ölfirma Yukos verhandelt mit kroatischen Firmen über die
Verlängerung ihrer Strecken, die über die Ukraine die Slowakei und Ungarn
versorgen, zum kroatischen Hafen Omisalj.
Deutschland hat den Südgürtel der ehemaligen Sowjetunion ebenso im Blick.
Im März dieses Jahres wollte Volker Rühe sich in einer Expertise Georgien
vorknöpfen (Frankfurter Rundschau, 7. März 2001). Zentralasien sei wegen
der versiegenden Nordseequellen für Deutschland lebenswichtig. Deshalb müssten
„wir“ die „strategische Achse quer durch den Kaukasus“
stabilisieren. „Hier ist der Krieg zum Greifen nahe“, schreibt Rühe.
Sollte der Tschetschenien-Konflikt auf den Kaukasus übergreifen und Georgien
wieder an Russland fallen, wäre „unser Ost-West-Korridor ... über
Aserbaidschan nach Europa“ durch die Nord-Süd-Achse von Russland über
Georgien nach Teheran „unterbrochen“. Russland kooperiert im Kaspischen
Raum mit dem Iran und beliefert ihn mit Waffen. Europa müsse „den Kaukasus
nachhaltig stabilisieren und in ... die europäische Staatenfamilie einbinden“,
fordert Rühe.
Das deutsche Außenamt nahm Afghanistan seit Mai 2001 ins Visier. Fischer
reiste durch Zentralasien, und sein Leiter im Planungsstab, Achim Schmillen, veröffentlichte
dazu in der FAZ ein Szenario für das Jahr 2015 (FAZ, 15. Mai 2001). Nehmen
wir an, schreibt er, die Taliban wären in diesem Jahr „ihrem strategischen
Ziel einen guten Schritt näher gekommen“, das „Ferganatal, das
in Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan liegt“ zu kontrollieren. Europa
wäre aber „von den Energiereserven dieser Region“ und den Pipelines,
„die vor wenigen Jahren fertiggestellt wurden“, abhängig. „Das
Taliban-Regime in Afghanistan“, das seine heiligen Krieger in den „zentralasiatischen
Republiken, Tschetschenien, Xinjiang (China) und im indischen Teil Kaschmirs“
einsetze, sei eine Gefahr für den Handelspartner Kasachstan und bedrohe alle
„Verbindungs- und Handelswege“. Wenn man sie ließe, wäre
Europa 2015 „vom indischen Subkontinent, von China und Ostasien“ abgetrennt.
Fazit: Zur „Eindämmung des internationalen Terrorismus“ müssten
Akteure, „vor allem Russland, China und die Vereinigten Staaten“,
für „einen breiten Lösungsansatz“ gewonnen werden. Die Aussichten
seien günstig, denn „als wachsender Importeur von Erdöl .. hat
Peking“ ebenso „Interesse“. Auch „die Vereinigten Staaten“
wollten, schreibt Schmillen „neben der Rohstoffsicherung und Erschließung
neuer Vorkommen ... Zentralasien stabilisieren und die Entwicklung einer Ost-West-Energie-
und -Transportverbindung voranbringen. Der Russische Einfluss soll verringert,
die dortigen Staaten sollen gestärkt werden.“
Nun hat Schmillen die Weltallianz gegen den „internationalen Terrorismus“,
aber anders als geplant. Die Amerikaner entscheiden allein, wer wie mitmachen
darf. Deutschland wurde bisher nur zur Finanzierung und Bereitstellung der Logistik
eingeladen. Das sei ein Debakel, erläutert uns Wilhelm Hankel: „Aus
jedem Blutbad geht der Kapitalismus gestärkt hervor ... Am Ende wird das
Zerstörte wieder aufgebaut, werden die Stellen der Getöteten neu besetzt.
Aufträge werden erteilt, Einkommen geschaffen, und es stellt sich ein je
nach der Dimension der Katastrophe größeres oder kleineres Wirschaftswunder
ein.“ (Die Woche, 21. September 2001) Nach dem Golf-Krieg sorgten 10 000
amerikanische Soldaten in Kuweit dafür, dass fast nur die US-Wirtschaft vom
100-Milliarden-Dollar-Aufbauprogramm profitierte. Deutschland zahlte 17 Milliarden
Mark, ohne am unmittelbaren Gewinn beteiligt zu sein. Damals ging es noch um ein
Protektorat der USA, diesmal um fundamentale deutsche Interessen.
Die Rosinenbomberphase war deshalb nur von kurzer Dauer. Zu groß war die
Angst, man werde bei der Neuordnung der Welt außen vor gelassen. Nach Solidaritätsbekundungen
sah CDU-Fraktionschef Merz unsere Sicherheit durch „die Unterbrechung der
Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ bedroht, und Angela Merkel sprach von
der Rolle in der Welt, die Deutschland selbstständig wahrnehmen müsse,
sonst werden „die Dinge ohne uns geregelt“. Deutschland muss dabei
sein, weiß Karl Lamers von der CDU, denn „das Maß der Mitbestimmung
richtet sich nach dem Maß des Mitwirkens“. (FAZ, 27. August 2001)
Für die EU forderte deren Ratspräsident: Mit „der Solidarität
unsereins“ ist zugleich „eine Verantwortung der USA uns gegenüber“
verbunden. Die Töne werden schärfer. „Ein Ablasshandel mit Amerika“
käme nicht in Frage, sagte Kanzler Schröder. Rudolf Scharping sagte
kategorisch: Es werde keine Tauschgeschäfte geben „nach dem Motto:
Scheckbuch statt Soldaten“ und schon gar nicht: „Wir Mazedonien und
die anderen“ erobern die Welt. Eine Anspielung darauf, dass Deutschland
zum ersten Mal eine militärische Aktion führen darf, weil US-Amerikaner
und Briten etwas Besseres vorhaben.
Jahrzehntelang wurde Deutschland attestiert, im Schutz der USA Wirtschaftsaufschwung
zu machen. Nun bietet es sein Militär an wie Sauerbier, weiß aber nicht,
ob die USA abgeben wollen. Eine Friedensbewegung, die vor allem deutsche Soldatenopfer
beklagt, sollte sich mit den USA verbünden. Das Jammern über die eigene
militärische Schwäche läutet das schnelle Aufrüsten ein. Wenn
es losgeht, „haben wir allenfalls ein Lazarettschiff“ zu bieten, sagte
ein Staatssekretär. Klaus Naumann klingt mitleiderregend: „Deutschland
könnte ... kaum einen Beitrag leisten, der Einfluss sichert.“ Die FAZ
fürchtet um die Reproduktionsfähigkeit des Stammes. Deutschland werde
erst dann wieder eine große Nation, wenn man von den USA gelernt habe, sich
„ernst zu nehmen“. (FAZ, 24. September 2001) Eine „Freizeitgesellschaft“,
die, „wenn sie Öl hört, kollektiv an die Kilometerpauschale denkt“
statt an Krieg, hat der Nation ihre Wehrhaftigkeit geraubt. Es wird der Spaßgesellschaft
an den Kragen gehen, es sei denn, sie integriert den Krieg in ihre Events. Ein
Imperium, das nicht kriegsfähig ist, bleibt nur ein halbes. Die Lücke
zu den USA wird sich nicht schließen lassen. Die Hauptmächte Europas,
Frankreich, Großbritannien und Deutschland, kommen zusammen auf ein Drittel
des US-amerikanischen Militärhaushalts.
Noch seien die Deutschen auf die USA angewiesen, stellt Brzezinski fest. „Wir“
stellen ihnen „ein Zeugnis für gutes Benehmen“ aus, das es ihnen
erleichtert, „die eigenen geopolitischen Prioritäten unumwunden offenzulegen“.
Indem es „sich mit Europa entsühnt, stellt Deutschland seine Größe
wieder her“, kann aber „sicherheitspolitisch auf eine enge Bindung
an Amerika nicht verzichten“. Großbritannien ist als „Anhängsel
der US-Macht“ unkompliziert. Man solle Deutschlands Osterweiterung „über
EU-Mitgliedschaften“ unterstützen, weil sich damit „automatisch
... die direkte Einfluss-Sphäre der Vereinigten Staaten“ ausdehne.
Amerika müsse aber gleichzeitig „die Gefahr eines plötzlichen
Aufstiegs einer neuen Macht erfolgreich“ hinausschieben. Europa dürfe
nicht so „geschlossen“ sein, dass es „bald schon die Vereinigten
Staaten in für sie bedeutsamen geopolitischen Belangen anderswo, insbesondere
im Nahen Osten, herausfordern könnte“. Würde die „Natoerweiterung
ins Stocken geraten“, fänden „Russland oder Deutschland ... gewiss
Anlässe, ihrem geopolitischen Geltungsdrang freien Lauf zu lassen“.
Das wäre das „Ende einer umfassenden amerikanischen Politik für
ganz Euroasien“. Akut wäre aber „das gefährlichste Szenario
... eine große Koaliton zwischen China, Russland und vielleicht dem Iran“.
Ende 1999 appellierte Robert Blackwill, der einst Bush Senior beriet, Deutschland
solle gemeinsam mit Amerika „die Entstehung einer feindlichen Hegemonialmacht
in Eurasien“ verhindern, womit er China meinte. (Zeit, 2. Dezember 1999)
„Kurzum“, schreibt Brzezinski, „Amerika als die führende
Weltmacht hat nur eine kurze historische Chance“, den Raum zu besetzen und
dabei „den verloren gegangenen Optimismus des Westens wieder zu beleben“.
Bei der militärischen Neuordnung Zentralasiens würden die USA sich allerdings
nicht dauerhaft in „schwierige, aufreibende und kostspielige Aufgaben“
verwickeln und ihre militärischen Ressourcen binden. Man müsse „planvoll“
zu einer möglichst „friedlichen Hegemonie der USA“ überleiten,
die „andere auch weiterhin davon abhält, diese in Frage zu stellen,
weil ... der Preis, den sie dafür bezahlen müssten, zu hoch ist“.
Mit anderen Worten: Amerikanische Protektorate und befreundete Regimes unter permanenter
militärischer Bedrohung, damit sie sich gut benehmen.
Diese Botschaft hat der Iran verstanden. Außenminister Kamal Charrazi bezeichnete
die Taliban als Bedrohung der „Staaten überall in Zentralasien“,
(Spiegel, 39/01), befürchtet aber „eine langfristige amerikanische
Militärpräsenz in Afghanistan und Zentralasien“, die gleichzeitig
deutsche Interessen bedroht. Mehr als 400 deutsche Unternehmen treiben trotz der
Boykottforderung der USA Handel mit dem Iran oder haben sich dort als Investoren
festgesetzt: im Maschinen- und Anlagenbau, im Motoren- und Großschiffbau,
in der Telekommunikation, der Grund- und Spezialchemie, der Medizin- und Umweltechnik,
in der Ölfördertechnik und im Bergbau. Der Iran und mit ihm deutsche
Investitionen wären durch einen Angriff auf diesen „Schurkenstaat“
gefährdet. Die Dauerbombardierung des Iraks ist auch eine ständige Warnung
für deutsche und französische Konzerne, sich dort nicht zu engagieren.
Der Iran erwägt plötzlich, mit den USA wieder „diplomatische Beziehungen
aufzunehmen“. Militärischer Druck und das Eigeninteresse, mit der ökonomischen
Hauptmacht ins Geschäft zu kommen, mögen da zusammenwirken.
Deutschland hadert zwar mit seiner Kriegsschwäche, könnte seine Macht
aber durch die Allianz mit Russland ausbauen. Karl Lamers von der CDU empfahl,
Russland gemeinsam mit den baltischen Staaten, die eigentlich vorgezogen werden
sollten, in die Nato und in ein „institutionalisiertes“ EU-Verhältnis
zu holen, das man auch „Mitgliedschaft nennen könnte“. Auch Schröder
ist nicht abgeneigt, „der russischen Führung zu helfen“. Dann
wäre ein kontinentaler Block in Eurasien unter deutscher Führung entstanden,
der sich vielleicht zu einem Weltkonkurrenten der USA mausern könnte. Putin
lobte die deutsche Kultur seit Kant, bot Militär und Rohstoffe an, die Europa
zum Mittelpunkt und Vorboten einer sicheren Welt machen würden. Die FAZ frohlockte:
„Nach Amerika ... spielt Deutschland, die wirtschaftliche Vormacht Europas,
in der russischen Strategie eine zentrale Rolle“, was bei westlichen Nachbarn
„Unbehagen weckt“.
Diese Blockbildung hat nicht nur eine ideelle, obwohl Kant kaum zu überbieten
ist, sondern eine sehr materielle Basis. Russland nimmt die Hälfte seiner
Devisen aus Öl- und Gaslieferungen ein, und der Staat ist mit 185 Milliarden
Dollar im Ausland verschuldet. Deutschland ist Hauptgläubiger und bezieht
ein Drittel seines Öl- und Gasbedarfs aus Russland. Russland siecht ökonomisch
dahin und ist ständig bedroht. Die USA wollen Russland aus dem Südgürtel
hinauswerfen und hatten bisher nichts dagegen, dass die für Russland lebenswichtigen
Pipelines in Tschetschenien und Dagestan von Taliban-Freunden ständig in
die Luft gejagt werden. Mit Unterstützung aus Pakistan, wo man die russisch-indischen
Verbindungen stören will. Die Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres wollen
ihre Stoffe lieber zu Weltmarktpreisen an die USA oder Europa verkaufen. Die USA
sind aber nicht das, was Cowboy-Hut-Witzbolde ihnen andichten. Sie reagieren angemessen
auf die Nervosität ihrer befreundeten Konkurrenten. Man kann Deutschland
mit seinem großen Markt nicht vor den Kopf stoßen und möchte
die Gegenblockbildung eindämmen. Also hat die Nato jetzt „eine neue
Ära der Zusammenarbeit mit Moskau“ angeboten, und der begehrte Einsatz
deutscher Soldaten wird wohl in Form der Awacs-Besetzungen kommen.
Wir sehen: Kapitalismus ist nicht nur ein Chaos der Finanzen und bei aller Globalität
kein geschlossenes System. Sein Hunger auf Profit macht ihn zum expandierenden
Vielfraß, der das gemeinsame Interesse hat, die Welt für ihre bessere
Ausbeutung zu präparieren. Doch wer wie viel Profit aus anderen Regionen
der Welt importiert, wird über die Konkurrenz ermittelt. Das macht die nationale
Verschmelzung von Kapital und Regierungen aus. Der Konkurrenzvorteil steigert
sich immens mit der Verfügungsgewalt über Stoffe, Staaten und Transportlinien.
Wenn die USA Zentralasien militärisch besetzen, sind deutsche Geschäfte
akut gefährdet, weil die USA ihre Ölkontrakte an Aufträge für
nationale Konzerne koppeln. Weltdominanz ist ohne schlagkräftiges Militär
nicht zu haben. Der Zwang zur Kapitalexpansion realisiert sich strategisch besser,
wenn nicht nur Rohstoffe günstig zu bekommen sind, sondern größere
Teile der Welt durchkapitalisiert werden. Mit der Kapitalbildung wächst der
abschöpfbare Mehrwert, der in die Metropolen zurückfließen oder
neue Regionen erschließen kann. Investiert wird nur in profitable und sichere
Zonen. Deshalb zieht China Kapital an, während Russland nur so viel bekommt,
wie für die Erhaltung seiner Exportbasis nötig ist.
Man sollte nicht spekulieren, wann es wo weitergeht, zumal völlig unklar
ist, ob in Afghanistan ein Dauerkrieg entsteht oder ein schneller Erfolg möglich
ist. Das hängt auch davon ab, wie schnell die Taliban sich in Clans auflösen.
Ein Ziel, das durch pakistanischen Boykott und Einfluss erreicht werden könnte.
Auch die al-Qaida soll zerschlagen werden. Wohl deshalb sind Kampfhubschrauber
für den Einsatz in Somalia in Kenia gelandet. Aber die Kriegskarawane für
das Ganze zieht ebenso weiter, und einige warten noch auf ihre Chance. Auch Japan
hat beschlossen, wieder an Kriegen teilzunehmen. Der Irak soll bereinigt werden.
Libyen wäre ebenfalls ein mögliches Ziel, um „zu einer militärischen
Besetzung ... der dortigen Ölfelder überzugehen“, vermutet Peter
Scholl-Latour. Sudans Präsident Omar al-Bashir, der den Islam-Führer
Hassan al-Turabi entmachtet und den USA sein Mitgefühl ausgedrückt hatte,
fürchtet um sein Leben. „Die suchen nach ... einem schwachen Angriffsziel“,
steht in der Regierungszeitung Alwan. Zahlreiche neue Ölquellen sind entdeckt
worden, und ein dauerhafter Krieg mit den Südrebellen ist zu beenden. Die
SPML, eine Organisation der Südrebellen, berichtet über Gold-, Platin-,
Chrom- und Uranfunde. Der FAZ zufolge kämen „vor allem der Irak, Libyen,
Syrien, auch Iran“ in Frage, und selbst Russland, gab die CIA von sich,
sei „Teil des Problems des internationalen Terrorismus, nicht Teil seiner
Lösung“. In der Ferne sind imperialistische Entscheidungsschlachten
gegen Russland oder China nicht ausgeschlossen.
Auf irgendeiner Wirtschaftsseite stand, der Krieg gegen den Terrorismus könne
Jahre dauern. Erst wenn er als normale Erscheinung empfunden wird, werden die
Amerikaner, Europäer und Asiaten wieder mehr konsumieren. Mag sein, dass
es so kommt. Mag sein, dass die Menschen in den Metropolen mit den Anschlägen
zu leben lernen, wie Israel es schon lange muss. Mag auch sein, es kommt ein neues
Vietnam – und in den Zentren verbrennen junge Leute wieder ihre Einberufungsbescheide.
Anmerkungen:
- Witalij Ponomarow vom Informationszentrum für Menschenrechte in Zentralasien,
Süddeutsche Zeitung vom 20. September 2001 [back]
- Europa Verlag, 2001 [back]
- Zbigniew Brezinski: „Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie
der Vorherrschaft“, Fischer 1999 – Brzezinski war Sicherheitsberater
des Präsidenten Carter, er gilt heute als wichtiger Geostratege und ist transkaukasicher
Berater von drei US-Ölfirmen [back]
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