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Arundhati Roy |
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Wut ist der Schlüssel
Arundhati Roy Übersetzung von Matthias Fienbork 28. September 2001
Nach den skrupellosen Selbstmordanschlägen auf das Pentagon und das World
Trade Center erklärte ein amerikanischer Nachrichtensprecher: „Selten
zeigen sich Gut und Böse so deutlich wie am letzten Dienstag. Leute, die
wir nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und sie haben es
voller Verachtung und Schadenfreude getan.“ Dann brach der Mann in Tränen
aus.
Hier haben wir das Problem: Amerika führt einen Krieg gegen Leute, die es
nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor die amerikanische
Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn angefangen hat, sein
Denken zu verstehen, hat sie, mit großem Tamtam und peinlicher Rhetorik,
eine „internationale Allianz gegen den Terror“ zusammengeschustert,
die Streitkräfte und die Medien mobilisiert und auf den Kampf eingeschworen.
Allerdings wird Amerika, sobald es in den Krieg gezogen ist, kaum zurückkehren
können, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben. Wenn es den Feind nicht findet,
wird es, der aufgebrachten Bevölkerung daheim zuliebe, einen Feind konstruieren
müssen. Kriege entwickeln ihre eigene Dynamik, Logik und Begründung,
und wir werden auch diesmal aus dem Blick verlieren, warum er überhaupt geführt
wird.
Wir erleben hier, wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig
nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu führen. Nun,
da Amerika sich selbst verteidigen muss, sehen die schnittigen Kriegsschiffe,
die Cruise Missiles und F-16-Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfällig
aus. Amerikas nukleares Arsenal taugt nicht zur Abschreckung. Teppichklingen,
Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die Kriege des neuen Jahrhunderts
geführt werden. Wut ist der Schlüssel. Ihn bekommt man unbemerkt durch
den Zoll, durch jede Gepäckkontrolle.
Gegen wen kämpft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongress bezeichnete Präsident
Bush die Feinde Amerikas als „Feinde der Freiheit“. „Die Bürger
Amerikas fragen, warum sie uns hassen“, sagte er. „Sie hassen unsere
Freiheiten – unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit
zu wählen, uns zu versammeln und nicht immer einer Meinung zu sein.“
Zweierlei wird uns abverlangt. Zum einen sollen wir glauben, dass der Feind der
ist, der von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten
Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, dass die Motive des
Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden, obwohl
es auch dafür keine Beweise gibt.
Aus strategischen, militärischen und ökonomischen Gründen muss
die amerikanische Öffentlichkeit unbedingt davon überzeugt werden, dass
Freiheit und Demokratie und der American way of life bedroht sind. In der gegenwärtigen
Atmosphäre von Trauer, Empörung und Wut ist derlei leicht zu vermitteln.
Wenn das tatsächlich stimmt, stellt sich jedoch die Frage, warum die Anschläge
den Symbolen der wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas galten.
Warum nicht der Freiheitsstatue? Könnte es sein, dass die finstere Wut, die
zu den Anschlägen führte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun
hat, sondern damit, dass amerikanische Regierungen genau das Gegenteil unterstützt
haben – militärischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution,
Militärdiktaturen, religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid
(außerhalb Amerikas)?
Für die trauernden Amerikaner ist es gewiss schwer, mit Tränen in den
Augen auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen vielleicht
als Gleichgültigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit.
Es ist eine Ahnung, ein Nicht-Überraschtsein. Es ist eine alte Erkenntnis,
dass jede Saat irgendwann auch aufgeht. Die Amerikaner sollten wissen, dass der
Hass nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung. Ihnen kann unmöglich
entgangen sein, dass ihre außergewöhnlichen Musiker, ihre Schriftsteller,
Schauspieler, ihre phänomenalen Sportler und ihre Filme überall auf
der Welt beliebt sind. Wir alle waren bewegt von dem Mut und der Würde der
Feuerwehrleute, der Rettungskräfte und der gewöhnlichen Büroangestellten
in den Tagen und Wochen nach den Anschlägen.
Amerikas Trauer ist immens und immens öffentlich. Es wäre grotesk, von
den Amerikanern zu erwarten, dass sie ihren Schmerz relativieren oder mäßigen.
Aber es wäre schade, wenn sie, statt zu versuchen, die Ereignisse des 11.
September zu begreifen, das Mitgefühl der gesamten Welt beanspruchten und
nur die eigenen Toten rächen wollten. Denn dann wäre es an uns, unangenehme
Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen. Und weil wir zu einem unpassenden
Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen, wird man uns tadeln, ignorieren und
am Ende vielleicht zum Schweigen bringen. Doch die Zeichen stehen auf Krieg. Was
gesagt werden muss, sollte rasch gesagt werden.
Bevor Amerika das Steuer der „internationalen Allianz gegen den Terror“
übernimmt, bevor es andere Länder auffordert (und zwingt), sich an seiner
nachgerade göttlichen Mission – der ursprüngliche Name der Operation
lautete „Grenzenlose Gerechtigkeit“ – aktiv zu beteiligen, sollten
vielleicht ein paar Dinge geklärt werden. Führt Amerika Krieg gegen
den Terror in Amerika oder gegen den Terror ganz allgemein? Was genau wird gerächt?
Der tragische Verlust von fast siebentausend Menschenleben, die Vernichtung von
vierhundertfünfzigtausend Quadratmetern Bürofläche in Manhattan,
die Zerstörung eines Flügels des Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden
von Arbeitsplätzen, der Bankrott einiger Fluggesellschaften und der Absturz
der New Yorker Börse? Oder geht es um mehr?
Als Madeleine Albright, die ehemalige Außenministerin der Vereinigten Staaten,
im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, dass 500 000 irakische Kinder
infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien, sprach sie von
einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei, alles in allem, nicht zu
hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind übrigens noch immer in Kraft,
und noch immer sterben Kinder. Genau darum geht es: um die willkürliche Unterscheidung
zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen „Ermordung unschuldiger Menschen“
oder „Krieg der Kulturen“ und „Kollateralschäden“.
Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele
tote Iraker sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Wie viele tote
Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen und Kinder für
einen toten Mann? Wie viele tote Mudschahedin für einen toten Investmentbanker?
Eine Koalition der Supermächte der Welt schließt nun einen Ring um
Afghanistan, eines der ärmsten und am stärksten verwüsteten Länder
der Welt, dessen Taliban-Regierung Usama Bin Ladin Unterschlupf gewährt.
Das einzige, was in Afghanistan überhaupt noch zerstört werden könnte,
sind die Menschen. (Darunter eine halbe Million verkrüppelte Waisenkinder.
Es wird berichtet, dass es zu wildem Gedrängel der Humpelnden kommt, wenn
über entlegenen, unzugänglichen Dörfern Prothesen abgeworfen werden.)
Die afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhöfen sind Massengräber
geworden. Das Land ist übersät mit Landminen – nach jüngsten
Schätzungen zehn Millionen. Eine Million Menschen sind aus Furcht vor einem
amerikanischen Angriff zur pakistanischen Grenze geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel
mehr, Hilfsorganisationen mussten das Land verlassen, und nach Berichten der BBC
steht eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der jüngsten Zeit
bevor.
An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika übrigens in nicht geringem
Maße beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen
Invasion, begannen die CIA und der pakistanische Militärgeheimdienst ISI
die größte verdeckte Operation in der Geschichte der CIA. Beabsichtigt
war, den afghanischen Widerstand zu steuern und das islamische Element so weit
zu stärken, dass sich die muslimischen Sowjetrepubliken gegen das kommunistische
Regime erheben und es am Ende destabilisieren würden. Diese Operation sollte
das Vietnam der Sowjetunion sein. Im Laufe der Jahre rekrutierte und unterstützte
die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus vierzig islamischen Ländern
für den amerikanischen Stellvertreterkrieg. Diese Leute wussten nicht, dass
sie ihren Dschihad für Uncle Sam führten. (Welche Ironie, dass die Amerikaner
ebenso wenig wussten, dass sie ihre späteren Feinde finanzierten!)
Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurück und
hinterließen ein verwüstetes Land. Der Bürgerkrieg in Afghanistan
tobte weiter. Der Dschihad griff über nach Tschetschenien, in das Kosovo
und schließlich nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin Geld und Waffen,
doch die laufenden Kosten waren so enorm, dass immer mehr Geld benötigt wurde.
Auf Befehl der Mudschahedin mussten die Bauern Opium (als „Revolutionssteuer“)
anbauen. Der ISI richtete in Afghanistan Hunderte von Heroinlabors ein, und zwei
Jahre nach dem Eintreffen der CIA war das pakistanisch-afghanistanische Grenzgebiet
der weltweit größte Heroinproduzent geworden. Die jährlichen Gewinne,
zwischen einhundert und zweihundert Milliarden Dollar, flossen zurück in
die Ausbildung und Bewaffnung von Militanten.
Im Jahr 1995 kämpften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte von
gefährlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert wurden
sie vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstützung
vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen
erstes Opfer die eigene Bevölkerung war, vor allem Frauen. Angesichts der
Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafür, dass sich das
Regime durch Kriegsdrohungen einschüchtern ließe oder einlenken wird,
um die Gefahr für die Zivilbevölkerung abzuwenden. Kann es nach allem,
was passiert ist, etwas Ironischeres geben, als dass Russland und Amerika mit
vereinten Kräften darangehen wollen, Afghanistan abermals zu zerstören?
Auch Pakistan, Amerikas treuer Verbündeter, hat enorm gelitten. Die amerikanischen
Regierungen haben noch stets Militärdiktatoren unterstützt, die kein
Interesse an demokratischen Verhältnissen im Land hatten. Vor dem Auftauchen
der CIA gab es einen kleinen ländlichen Markt für Opium. Zwischen 1979
und 1985 stieg die Zahl der Heroinsüchtigen von Null auf anderthalb Millionen
an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben drei Millionen afghanische Flüchtlinge.
Die pakistanische Wirtschaft liegt danieder. Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte
Transformationsprozesse und Drogenbosse zerreißen das Land. Die Madrasas
und Ausbildungslager für Terroristen, ursprünglich eingerichtet zum
Kampf gegen die Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan großen
Rückhalt haben. Die Taliban, von der pakistanischen Regierung seit Jahren
unterstützt und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle
und strategische Verbündete. Auf einmal bittet (bittet?) Amerika die pakistanische
Regierung, den Schoßhund, den es in seinem Hinterhof jahrelang großgezogen
hat, abzustechen. Präsident Musharraf, der den Amerikanern Unterstützung
versprochen hat, könnte sich bald mit einer bürgerkriegsähnlichen
Situation konfrontiert sehen.
Indien kann von Glück reden, dass es, dank seiner geographischen Lage und
der Weitsicht früherer Politiker, bislang nicht in dieses Great Game hineingezogen
wurde. Unsere Demokratie hätte das höchstwahrscheinlich nicht überlebt.
Heute müssen wir entsetzt mit ansehen, wie die indische Regierung die Amerikaner
inständig darum bittet, ihre Operationsbasis in Indien statt in Pakistan
zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit einer schwachen Wirtschaft und einem
unruhigen sozialen Fundament müsste wissen, dass eine Einladung an eine Supermacht
wie die Vereinigten Staaten (ganz gleich, ob die Amerikaner für länger
bleiben oder nur kurz vorbeischauen wollen) fast so ist, als würde ein Autofahrer
darum bitten, ihm einen Stein in die Windschutzscheibe zu werfen.
In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der großen
Fernsehsender für nötig, ein Wort über die Geschichte des amerikanischen
Engagements in Afghanistan zu verlieren. Für all jene, die von diesen Dingen
nichts wissen, hätte die Berichterstattung über die Anschläge informativ
und aufrüttelnd sein können, wenn Zyniker sie vielleicht auch übertrieben
gefunden hätten. Für uns aber, die wir die jüngste Geschichte Afghanistans
kennen, sind die amerikanische Berichterstattung und das Gerede von der „internationalen
Allianz gegen den Terror“ einfach eine Beleidigung. Amerikas „freie
Presse“ ist dafür genauso verantwortlich wie der „freie Markt“.
Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung amerikanischer
Werte durchgeführt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in der ganzen
Welt erzeugen, und am Ende dürften diese Werte völlig diskreditiert
sein. Für die gewöhnlichen Amerikaner bedeutet das, dass sie in einem
Klima schrecklicher Ungewissheit leben werden. Schon warnt CNN vor der Möglichkeit
eines biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand), der mit harmlosen
Sprühflugzeugen geführt werden kann.
Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen überall auf der Welt, werden
die Kriegsatmosphäre als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere
Bürgerrechte einzuschränken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und religiöse
Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen und viel Geld
in die Militärindustrie zu stecken. Und wozu? Präsident Bush kann die
Welt ebenso wenig „von Übeltätern befreien“, wie er sie
mit Heiligen bevölkern kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung auch nur
mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch mehr Gewalt
und Unterdrückung ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit.
Der Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist ein supranationales, weltweit
tätiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi oder Nike. Beim geringsten Anzeichen
von Schwierigkeiten brechen Terroristen die Zelte ab und ziehen, genau wie die
Multis, auf der Suche nach besseren Möglichkeiten mit ihren „Fabriken“
von Land zu Land.
Der Terrorismus als Phänomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm aber
Einhalt gebieten, muss Amerika zunächst einmal erkennen, dass es nicht allein
auf der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit anderen Menschen,
die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben und trauern und Geschichten
und Lieder und Kummer haben und weiß Gott auch Rechte. Doch als der Verteidigungsminister
Donald Rumsfeld gefragt wurde, was er als einen Sieg im neuen amerikanischen Krieg
bezeichnen würde, meinte er, ein Sieg wäre, wenn er die Welt davon überzeugen
könne, dass es den Amerikanern möglich sein müsse, an ihrem way
of life festzuhalten.
Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer
aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Usama
Bin Ladin stammen und von seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie
könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas
alten Kriegen.
Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als
Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte, die 200 000
Iraker, die bei der Operation Wüstensturm starben, die Tausenden Palästinenser,
die im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands den Tod fanden.
Und die Millionen, die in Jugoslawien, Somalia, Haiti, Chile, Nikaragua, El Salvador,
Panama, in der Dominikanischen Republik starben, ermordet von all den Terroristen,
Diktatoren und Massenmördern, die amerikanische Regierungen unterstützt,
ausgebildet, finanziert und mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzählung
ist keineswegs vollständig. Für ein Land, das an so vielen Kriegen und
Konflikten beteiligt war, hat Amerika Naußerordentlich viel Glück gehabt.
Die Anschläge vom 11. September waren erst der zweite Angriff auf amerikanischem
Territorium innerhalb eines Jahrhunderts. Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche
dafür endete, nach einem langen Umweg, mit Hiroshima und Nagasaki. Heute
wartet die Welt mit angehaltenem Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.
Unlängst sagte jemand, dass, wenn es Usama Bin Ladin nicht gäbe, die
Amerikaner ihn erfinden müssten. In gewissem Sinne haben sie ihn tatsächlich
erfunden. Er gehörte zu den Kämpfern, die 1979 nach Afghanistan gingen,
als die CIA mit den Operationen begann. Usama Bin Ladin zeichnet sich dadurch
aus, dass er von der CIA hervorgebracht wurde und vom FBI gesucht wird. Binnen
zweier Wochen avancierte er vom Verdächtigen zum Hauptverdächtigen,
und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels an Beweisen, „tot oder lebendig“
haben.
Nach allem, was über seinen Aufenthaltsort bekannt ist, könnte es durchaus
möglich sein, dass er die Anschläge nicht persönlich geplant hat
und an der Ausführung auch nicht beteiligt war – dass er vielmehr der
führende Kopf ist, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Die Reaktion
der Taliban auf die amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern, war ungewöhnlich
realistisch: Legt Beweise vor, dann händigen wir ihn euch aus. Präsident
Bush erklärte seine Forderung für nicht verhandelbar. (Da gerade über
die Auslieferung von Vorstandsvorsitzenden gesprochen wird – dürfte
Indien ganz nebenbei um die Auslieferung von Warren Anderson bitten? Der Mann
war als Chef von Union Carbide verantwortlich für die Katastrophe von Bhopal,
bei der sechzehntausend Menschen umkamen. Wir haben die nötigen Beweise zusammengetragen,
alle Dokumente liegen vor. Also gebt ihn uns bitte!)
Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich möchte es anders formulieren:
Was ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der
dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling
alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt
gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde,
durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte
Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Missachtung aller
nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen,
ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen
Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft
armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft
aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir
trinken, unsere Gedanken.
Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich
eins und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen
haben sich eine Zeitlang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die amerikanischen
Hubschrauber begrüßen werden, wurden von der CIA geliefert. Das Heroin,
das von amerikanischen Rauschgiftsüchtigen verwendet wird, stammt aus Afghanistan.
Die Regierung Bush ließ der afghanischen Regierung unlängst 43 Millionen
Dollar zur Drogenbekämpfung zukommen.) Inzwischen werden sich die beiden
auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als „Kopf
der Schlange“. Beide berufen sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik
von Gut und Böse zurück. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen
verstrickt. Beide sind gefährlich bewaffnet – der eine mit dem nuklearen
Arsenal des obszön Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen
Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und Eispikkel. Keule und Axt. Man
sollte nur nicht vergessen, dass der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.
Präsident Bushs Ultimatum an die Völker der Welt – „Entweder
ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen“ – offenbart
eine unglaubliche Arroganz. Kein Volk will diese Wahl treffen, kein Volk braucht
diese Wahl zu treffen und keines sollte gezwungen werden, sie zu treffen.
Nicht Salman Rushdie, sondern die vierzigjährige Arundhati Roy ist die
literarische Stimme Indiens, die von den Taten und Qualen der Globalisierung in
ihrem Land berichtet. Roy ist längst die berühmteste und erfolgreichste
Schriftstellerin des Landes. In vielen westlichen Ländern gilt sie als wichtigste
Schriftstellerin des Subkontinents. Als politische Aktivistin ist Roy wiederholt
in Konflikt mit den indischen Behörden geraten, zuletzt wegen ihrer Proteste
gegen die indische Atomwaffenpolitik. In ihren politischen Schriften artikuliert
sich das radikale Bewusstsein jener intellektuellen Schicht, die nicht nur in
Indien, sondern auch in Pakistan die sozialen Konflikte primär als Folgen
der Globalisierung, also als Ergebnisse „westlicher“ Politik interpretiert.
Ungeachtet der besonnenen amerikanischen Politik sind im Atomgürtel Pa7cistan/Indien
viele Menschen voller Wut auf die Vereinigten Staaten und die Kultur der Globalisierung.
Wer angesichts des Terroranschlags von New York glaubte, es werde sich eine moralisch
empörte Menschheit um die Amerikaner scharen, sieht sich getäuscht.
Im Gegenteil: der Hass wächst. Und Indien hat sich immer noch nicht erklärt,
inwieweit es bereit ist, die Vereinigten Staaten zu unterstützen. Wir haben
Arundhati Roy gebeten, uns zu sagen, warum das so ist. Ihr Text, der angesichts
der fortlaufenden Ereignisse die ursprünglich vereinbarte Länge weit
überschreitet, beweist, allen Besänftigungsformeln zum Trotz, dass der
gegenwärtige Konflikt in den bevölkerungsreichsten Staaten der Erde
als Krieg der Kulturen verstanden wird. F.A.Z.
Arundhati Roy wurde 1960 im südindischen Bundesstaat Kerala in einer
Familie syrischer Christen geboren. Ihr Vater war ein Hindu aus Bengalen. Heute
lebt sie in Neu Delhi. 1996 erschien ihr Roman „Der Gott der kleinen Dinge“
(Blessing Verlag), der zu einem Welterfolg wurde. Die indischen Behörden
zensierten das Buch aus „moraiuschen“ Gründen: Roy beschrieb
die verbotene Liebe zu einem Unberührbaren Als politische Aktivistin hat
sie sich mehrfach massiv mit der indischen Regierung angelegt. Was sie soziologisch
zur repräsentativen Stimme macht, ist die Tatsache, dass sie die Globalisierung
wie einen wirklichen Schmerz, den man ihr zufügt, zu erleben scheint, „In
Indien“, so hat sie einmal erklärt, „erlebe ich das entsetzliche
Schuldgefühl privilegiert zu sein“. |
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