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Offener
Brief an Angelika Beer (MdB)
Nenad Vukosavljevic Medienhilfe
Ex-Jugoslawien 13.
April 1999
Sehr geehrte Frau Beer, ich kenne ihre politische Arbeit seit Jahren und schätze
sie sehr. Umso mehr hat mich schockiert, dass Sie ihre Zustimmung zu dem Bombardement
der Nato in Jugoslawien geben haben. Ich bin davon überzeugt, dass dies ein
Ausdruck der Hilflosigkeit in dieser schwierigen Frage war und dass sie wirklich
keine Alternative zu dem Nato-Bombardement sehen. Ich selbst habe auch kein Rezept
für eine schnelle Lösung der Situation im Kosovo. Es wird ein langer
Prozess sein. Aber dieser Prozess wird durch Gewalteskalation und den Krieg der
Nato gegen Jugoslawien nur erschwert und die Möglichkeit eines Friedens rückt
weiter in die Ferne.
Erlauben Sie mir in diesem offenen Brief, die Konsequenzen der Gewalteskalation
zu erläutern und auf mögliche Alternativen hinzuweisen. Ich denke, dass
die Fähigkeit, eigene Fehler einzusehen, die Stärke eines Menschen bildet
und keine Schwäche ist, obwohl dies in der Politik meist umgekehrt dargestellt
wird. Das Beharren auf der eigenen Position bei dieser Frage darf nicht auf den
Test der „politischen Standfestigkeit” reduziert werden, es geht um
Menschenleben und um die eigene Verantwortung dabei. Es geht um die Frage von
Frieden und Krieg.
Meine Freunde aus der Antikriegsbewegung in Serbien bangen heute um ihr Leben
angesichts der Drohungen des Milosevic-Regimes. Deswegen schweigen viele derjenigen,
die in den vergangenen Jahren immer wieder ihre Stimme für Frieden und Gerechtigkeit
erhoben haben. Ich selbst bin ein jugoslawischer Kriegsdienstverweigerer und lebe
deswegen seit zehn Jahren im Ausland. Seit eineinhalb Jahren arbeite ich in Sarajevo
in einem Friedensprojekt, das sich um eine Verständigung zwischen Bosniaken,
Kroaten, Serben, Albanern und Mazedoniern bemüht. Ich versuche, zwischen
Menschen in dieser Region Brücken zu bauen. Ich bin mit Trauer und Bitterkeit
erfüllt, weil ich mit ansehen muss, wie solche Brücken heute zerstört
werden, mit einer Beteiligung Deutschlands.
Konsequenzen der Gewalteskalation in Jugoslawien
Innerhalb Serbiens ist Milosevic‘s Position gestärkt worden und es
wird ihm eine Rechtfertigung geliefert für die miserable wirtschaftliche
Lage des Landes. Unter dem Deckmantel der Landesverteidigung gegen Nato-Luftangriffe
wurde eine Vertreibung der Kosovo-Albaner vorgenommen, die in dieser Situation
keine Gegenstimmen innerhalb Serbiens findet. Dies wird begünstigt durch
Informationsmangel und durch die Wut vieler Menschen über die Darstellung
der Serben und Albaner in den internationalen Medien (Schwarz-Weiß-Darstellung,
Einteilung in die „Bösen” und die „Guten”). Die unabhängigen
Medien wurden angegriffen: Dem Regime gelang jetzt, was es seit neun Jahren erfolglos
versuchte: Radio B 92 wurde dichtgemacht aus Angst vor massiven Protesten. Heute
demonstrieren Menschen gegen die Nato und kaum eine/r kann die Kraft aufbringen
gegen das Milosevic-Regime zu protestieren. Eine wahrhafte Säuberung der
demokratischen Kräfte in Serbien hat begonnen. Ein weiteres Beispiel ist
die Ermordung des Inhabers und Hauptredakteurs der unabhängigen Zeitung „Dnevni
Telegraf”, Slavko Curuvija am 11. April 1999 vor seinem Haus in Belgrad.
Das Zentrum für Antikriegs Aktion, das seit 1992 existiert, musste aus Sicherheitsgründen
schließen, viele Aktivisten sind geflüchtet oder verstecken sich.
Die Folgen all dessen sind verheerend für die Zukunft des Landes, da das
Milosevic-Regime nur gestürzt werden kann durch demokratische Kräfte
aus Serbien. Stellen sie sich die Desillusionierung der vielen AktivistInnen vor,
die in westlichen demokratischen Ländern ihr Vorbild suchten und nun mit
Bitterkeit und Enttäuschung wahrnehmen, dass sie von dieser Seite bombardiert
werden!
Humanitäre Katastrophe
Die Nato hat durch ihr militärisches Eingreifen die humanitäre Not vergrößert.
Hunderttausende Albaner, Serben und Angehörige anderer Volksgruppen sind
nach Mazedonien, Albanien, Montenegro, Serbien und Bosnien-Herzegovina geflohen.
In Serbien befinden sich überdies seit über drei Jahren etwa 600 000
serbische Flüchtling aus BiH und Kroatien. Im letzten Jahr gab es ca. 200 000
albanische Flüchtlinge im Kosovo. Durch die letzten Gewalteskalationen, die
Vertreibung unbeteiligter Zivilisten, die Kämpfe der UCK (sie hat 30 bis
40 000 Menschen unter Waffen) mit den jugoslawischen Truppen, sowie durch
die Nato Bombardements begab sich eine weitere Million Menschen auf die Flucht.
In Kosovo, sowie in Albanien und Mazedonien ist eine humanitäre Katastrophe
entstanden. Durch diese Gewalteskalationen sind mindestens Hunderte von Menschen
ums Leben gekommen, möglicherweise Tausende.
Eine humanitäre und möglicherweise auch ökologische Katastrophe
wird auch in Serbien ausgelöst durch Bombardements der Chemiefabriken, Ölraffinerien,
Wasserversorgung für sie 600 000-Einwohner-Stadt Novi Sad, Heizungseinrichtung
für 250 000 Einwohner in Neu Belgrad, Fabriken in Kragujevac, Cacak,
Kraljevo usw. wo Tausende von Menschen ohne Arbeit bleiben. Zentrale Wohngebiete
in Aleksinac, Novi Sad, Pristina wurden bombardiert. Den betroffenen Menschen
in Jugoslawien und insbesondere im Kosovo, kann nur durch einen sofortigen, bedingungslosen
Waffenstillstand geholfen werden. Die Zeit drängt.
Konsequenzen für die Kosovo Albaner
Die militaristische Strömung der UCK hat durch die Gewalteskalation endgültig
die Oberhand gewonnen, die moderaten Kräfte wurden verdrängt. Eine Generalmobilmachung
der UCK wurde ausgerufen, wobei viele Menschen sich freiwillig melden angesichts
der Verzweiflung nach ihrer Vertreibung. Die UCK sieht in der weiteren Eskalation
des Krieges die einzige Chance, ihre politischen Ziele eines unabhängigen
Kosovo zu erreichen. Aus einer Untergrundorganisation, die Entführungen,
Morde und Folter angeordnet hat, ist eine „legitime” Volksarmee entstanden,
die von denselben Leuten kommandiert wird. Man kann eine Volksbewegung nicht als
Terroristen bezeichnen, aber die Führer, die solche Befehle ausgeben, wohl
schon. Dasselbe gilt für Serbiens Führung.
Negative Folgen für die angrenzenden Regionen
In Bosnien-Herzegowina ist die Lage so angespannt wie noch nie seit Abschluss
des Dayton-Vertrags. Es ist zu einer Blockade der Institutionen gekommen sowie
zum totalen Abbruch der Beziehungen zwischen der Republika Srpska und der Föderation
BiH. (Die Kommunikation der Kroaten und Bosniaken innerhalb der Föderation
BiH wurde ohnehin schon durch die Ermordung eines hohen kroatischen Politikers
in Sarajevo unterbrochen). Alle Friedens und Demokratisierungsprojekte, die mit
der serbischen Entität in BiH zu tun haben, sind zum Stillstand gekommen.
Die internationalen Organisationen haben sich von dort zurückgezogen, selbst
SFOR hat die Präsenz reduziert. Vieles spricht dafür, dass die Nato
Bosniens Luftraum trotz Dementis für die Angriffe gegen Jugoslawien nutzt
- ein weiterer Schritt zur Destabilisierung Bosniens.
In Mazedonien ist die Beziehung zwischen den dort lebenden Albanern (ca. 20 Prozent
der Bevölkerung) und Mazedoniern vergleichbar mit der der Serben und Albaner
in Kosovo. Die Mazedonier fühlen sich bedroht von den Forderungen der radikalen
militanten Strömung der Albaner für ein „Gross-Albanien”,
das neben dem Kosovo auch das angrenzende Gebiet West-Mazedoniens umfassen sollte.
Diese Ängste werden zusätzlich geschürt durch die Flut der albanischen
Flüchtlinge, die das demographische Verhältnis empfindlich verändern
könnte. Ob diese Ängste nun berechtigt oder unberechtigt sind, sei dahingestellt,
jedenfalls sind sie vorhanden. Sie müssen respektiert und ernst genommen
werden. Die erklärte Neutralität Mazedoniens muss respektiert werden.
Die Nato darf keine Druckmittel anwenden, um eine Erlaubnis für den Bodenkrieg
gegen Jugoslawien von Mazedonien zu erwirken. Ansonsten könnten große
Unruhen unter der Bevölkerung ausgelöst werden, die das Land selbst
in einen Bürgerkrieg führen.
Insgesamt wird infolge des Krieges in der gesamten südslawischen Region der
Prozess der Aufrüstung, der schon bisher ein erschreckendes Ausmaß
angenommen hat (z.B. wurde seit Dayton in Bosnien-Herzegowina die gleiche Geldsumme
in Militär investiert wie in die gesamte internationale Aufbauhilfe!), weiter
voranschreiten.
Weltweite Konsequenzen
Die Gewaltanwendung der Nato in einem Angriffskrieg gegen einen souveränen
Staat, Jugoslawien, wird zudem eine weltweite Aufrüstung zur Folge haben.
Die UNO als internationales Gremium wurde vollständig entwertet. Die UN-Gremien
werden ignoriert und lediglich dafür genutzt, die Folgen der Kriege aufzufangen:
Es wurde beispielsweise dem UNHCR überlassen, sich um die Kriegsflüchtlinge
zu kümmern. Die Nato ist zum größten Bedrohungsfaktor in der Welt
geworden, weil sie für sich das Recht in Anspruch nimmt, die Weltpolizei
zu spielen. Die Tatsache, dass nicht alle Nato-Mitgliedstaaten mit dem Krieg gegen
Jugoslawien einverstanden sind, wird weitgehend heruntergespielt. Die Medien in
Westeuropa und den USA geben keine kritische Stimmen aus Griechenland, Italien
und anderswo wieder.
Die Alternativen
Der Nato Krieg ist kein Krieg gegen Milosevic, sondern gegen Jugoslawien und seine
Bevölkerung. Das jedenfalls ist der Eindruck der Menschen in Belgrad, Novi
Sad und Kragujevac. Wie sollten sie es sonst interpretieren, wenn um sie herum
Bomben fallen? Für viele geht es jetzt nicht mehr um Milosevic sondern um
das nackte Überleben. Viele fühlen sich gezwungen, sich zu verteidigen,
genauso wie die albanische Bevölkerung in Kosovo. Eine Gewaltspirale großen
Ausmaßes ist ausgelöst worden. Der Nato aber geht es jetzt nur noch
darum, zu gewinnen. Die Opfer werden Albaner und Serben sein. Die Fortsetzung
dieses Krieges bringt weder Serben noch Albanern etwas Gutes. Es muss wieder zu
politischen Verhandlungen kommen, zu einer Feuerpause, und dann zu Verhandlungen,
die einen politischen Rahmen sichern, um einen Friedensprozess im Kosovo zu starten.
Der Krieg wird in den Köpfen der Menschen bleiben und keine Unterschrift,
unter welchen Vertrag auch immer, wird das von einem Tag zum anderen verändern
können. Aber der Prozess des Friedensaufbaus muss endlich beginnen. Das kann
nur über die Stärkung der zivilgesellschaftlichen Strukturen erreicht
werden. Die Perspektiven für Friedensarbeit in der ganzen Region haben sich
erheblich verschlechtert infolge dieses Krieges, aber irgendwann muss angefangen
werden. Jetzt muss das Morden gestoppt werden und den Menschen humanitäre
Hilfe gewährleistet werden.
Man kann mit Gewalt keinen Frieden schaffen, die Politik trägt die Verantwortung
dafür, die Militärs zu stoppen und Mut zu beweisen für einen Schritt
zum Frieden. Die Frage, ob man einen Tyrannen durch Militärschläge stoppen
und von der Durchsetzung seiner Pläne abhalten kann, ist durch die Ereignisse
der letzten Tage und Wochen beantwortet worden. Nein, so geht es nicht, es verursacht
nur größere Katastrophen. Die westliche Politik muss sich nun mit der
Frage beschäftigen, wie man das verlorene Vertrauen der serbischen demokratischen
Kräfte wieder gewinnen kann. Nur die können - in Zusammenarbeit mit
den demokratischen Kräften der albanischen Seite - eine wahrhafte und anhaltende
positive Veränderung erreichen. Es wird ein langer Prozess sein und diese
Antwort lässt uns alle unbefriedigt, eine Alternative dazu gibt es jedoch
nicht. Wenn die westliche Politik die Bereitschaft hätte, die Militärbudgets
zugunsten von Friedensbudgets für die Förderung von Demokratie und Friedensprozessen
in den Krisenregionen umzuschichten, würden uns viele der uns nun quälenden
Dilemmata vermutlicht erspart bleiben.
Wir sind heute viel weiter entfernt von dem Frieden in Kosovo, als wir vor den
Nato-Angriffen auf Jugoslawien waren. Ich bitte Euch, den ersten Schritt zu wagen
und zu Verhandlungen zurückzukehren. Die Präsenz der Nato-Truppen im
Kosovo darf bei den Verhandlungen nicht zur Bedingung gemacht werden. Es ist absurd
zu erwarten, dass eine Kriegspartei als Friedensbewacher fungieren kann. Und wenn
es zu Verhandlungen und einem Abkommen kommt, darf es nicht dabei bleiben, es
gibt kein „Friedensabkommen”, dass einen Frieden sofort herstellen
kann, es wird ein langfristiger Prozess sein und die Menschen in der ganzen Balkanregion
brauchen Hilfe dabei.
Sarajevo, 13. April 1999 |
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