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Die Militarisierung der Gesellschaft
graswurzelrevolution 12. Juni 1999


„Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen. Es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten.“ Dieses Zitat von Helmut Kohl stammt aus dem Jahre 1991. Das Streben nach Weltgeltung und Einfluss mittels militärischer Gewalt – einer „Außenpolitik ohne Verkrampfungen“ – ist keine Neuerung der rot-grünen Bundesregierung.


Die Herren Schröder, Fischer und Scharping setzen eine Politik fort, die bereits einige Jahre vor ihrem Amtsantritt begonnen wurde. Die Vorbereitung der Gesellschaft auf Kriegseinsätze der Bundeswehr außerhalb Deutschlands, ja außerhalb des Nato-Gebietes war ein langer Prozess, von Politik, Militär und Wirtschaftsnotablen in trauter Eintracht durchgeführt – mit erstaunlicher Effizienz. Dieser Prozess der Militarisierung von Gesellschaft und Politik ist keineswegs abgeschlossen. Vielmehr steht zu befürchten, dass Deutschland in Zukunft eigenmächtig Kriegseinsätze initiieren könnte um ganz im Sinne seines Ex-Kanzlers und der Generalität seine „Weltmachtrolle“ mit Gewalt „auszuweiten“. Die Sprache der grundlegenden Strategiepapiere der Bundeswehr und des Verteidigungsministeriums ist auch in dieser Hinsicht erschreckend deutlich...

Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes – von deutschen Militärs pikanterweise „bipolare Ordnungsstruktur“ genannt – entwickelten sowohl Nato als auch Bundeswehr neue strategische Konzepte, um einer akuten Legitimationskrise zu begegnen. Der militärische Gegner der vergangenen Jahrzehnte war verschwunden, und gerade die Bundeswehr glich mit einem Male einem krisengeschüttelten, übersubventionierten Unternehmen. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer verdreifachte sich innerhalb eines Jahres. Umfragen ergaben, dass über 26 Prozent der Befragten die Bundeswehr selbst für eine „Friedensbedrohung“ hielten. Bemühungen des damaligen Generalinspekteurs, die „neue Bundeswehr“ als vorrangig „humanitäre Hilfsorganisation“ zu präsentieren, waren unzureichend.

Denn seit ihrer Gründung war die Bundeswehr an über 130 zivilen Hilfsaktionen in 53 Ländern beteiligt gewesen. Nicht selten wurde die Effizienz solcher Einsätze bezweifelt. Häufig hätten spezialisierte zivile Hilfsorganisationen schneller und kompetenter eingreifen können als die Truppe. Eine in dieser Hinsicht recht unterhaltsame Pleite spielte sich beispielsweise während der Räumarbeiten nach den verheerenden Stürmen Mitte der achtziger Jahre ab: Die Bundeswehr hatte den völlig überlasteten Forstbetrieben – es waren Millionen Bäume entwurzelt worden – ihre Hilfe angeboten. Nun ratterten ahnungslose Rekruten mit Bergpanzern über das empfindliche Öko-System hinweg, das die Stürme verschont hatten, und richteten, wie Umweltverbände sich sarkastisch ausdrückten, mindestens ebensoviel Schaden an wie die rauhen Winde. Freilich spielt die Harthöhe in ihrer Werbung für die Bundeswehr bis heute bevorzugt die „humanitäre Karte“ aus – so schreibt zum Beispiel ein Oberstleutnant Dr. Dieter Ose in den Informationen für die Truppe 1995: „Helfen, retten, ausbilden – Bundeswehrsoldaten waren gleichzeitig auch immer Botschafter für Frieden, für Freiheit, für demokratische Werte“. Die eigentliche Veränderung der Bundeswehr steuerte von Anfang an und ganz gezielt auf Kriegseinsätze – wenn möglich rund um den Globus.

Architekt und gewissermaßen Gründervater der strukturellen Veränderungen innerhalb der Bundeswehr war der Viersternegeneral Klaus Naumann. 1991 wurde er vom kommandierenden General des I. Korps in Münster zum Generalinspekteur der Bundeswehr berufen. Wenig später zirkulierte das, was mittlerweile als Naumann-Papier bekannt ist. Naumann forcierte die verhängnisvolle Kompetenzerweiterung, die die Nato-Paktstaaten am 7. und 8. November des gleichen Jahres in Rom beschlossen hatten. Im Protokoll hieß es, Eingriffsmöglichkeiten der Nato seien zukünftig gegeben, wenn die Gefahr bestünde, dass Mitgliedsstaaten von „der Zufuhr lebenswichtiger Rohstoffe“ abgeschnitten würden. Naumann übernahm und verschärfte diesen Punkt: „Unter Zugrundelegung eines weiten Sicherheitsbegriffs können die Sicherheitsinteressen für den Zweck dieser militärpolitischen Lagebeurteilung wie folgt definiert werden: (...) Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des Zuganges zu strategischen Rohstoffen“ (Naumann-Papier 1991). Einen „weiten Sicherheitsbegriff“ hielt Naumann für unabdingbar. Die „bipolare Ordnungsstruktur“ des Kalten Krieges war in den Augen zahlreicher hoher Militärs einem undurchschaubaren Chaos gewichen, in dem alte Feindbildmuster nicht mehr greifen mochten. Naumann sah „einen Krisenbogen von Marokko bis nach Pakistan“ (Naumann-Papier 1991) die Bundesrepublik bedrohen und verlangte folgerichtig, die Bundeswehr müsse in diesem „Krisenbogen“ befriedend einsetzbar sein. Das Naumann-Papier zirkulierte intern und wurde nur einigen wenigen Experten zugänglich gemacht. Ein bemerkenswertes Detail ist, dass der Inhalt des Papiers zu dieser Zeit anscheinend für so brisant gehalten wurde, dass es den betreffenden Stellen nicht offiziell ausgehändigt wurde. Wie in einem schlechten Spionagefilm verbarg man das verfängliche Dokument unter Stapeln von Papier. Die „Mitwisser“ mussten es zufällig „finden“.

Diese Geheimhaltung erwies sich bald als überflüssig. 1992 übernahm die Harthöhe im wesentlichen die Gedanken Naumanns. In den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) 1992 versuchte Volker Rühe zwar, die generelle Ausrichtung des Naumann-Papiers – Durchsetzung kapitalistischer Profitinteressen mit militärischen Mittel – etwas abzuschwächen. „Dabei lässt sich die deutsche Politik von vitalen Sicherheitsinteressen leiten: (...) 8. Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung“. An anderer Stelle aber verschärften die VPR noch die militaristischen Hoffnungen auf eine zukünftige „Weltmacht Deutschland“. Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung nehmen sich diese Stellen besonders schauderhaft aus: „Trotz prinzipieller Übereinstimmung werden sich die deutschen Interessen nicht in jedem Einzelfall mit den Interessen der Verbündeten decken“. Auf einen „nuklearen Schutzschild“ könne dennoch nicht verzichtet werden, weil „sich Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinentale Mittelmacht mit weltweiten Interessen nicht allein behaupten“ könne (Hervorhebung von mir). „Unter den neuen sicherheitspolitischen Verhältnissen lässt sich Sicherheitspolitik weder inhaltlich noch geographisch eingrenzen“, hieß es weiter, und mit erstaunlicher Offenheit verlangten die VPR „Einflussnahme auf die internationalen Institutionen und Prozesse im Sinne unserer Interessen“. Das heißt: Die Bundeswehr sollte zum internationalen Werkschutz spezifisch deutscher Interessen umfunktioniert werden, vorzugsweise ohne Einfluss der anderen Paktstaaten. Diese Eingrenzung ist umso bemerkenswerter, als sich die prinzipielle Stoßrichtung der „neuen Bundeswehr“ durchaus mit der der Nato deckt. Dietrich Schulze-Marmeling stellte schon 1987 in seinem Buch „Die Nato- Anatomie eines Militärpaktes“ fest: „Die Nato ist (...) eine Konstruktion, die die ökonomischen und militärischen Potenzen kapitalistischer Nationalstaaten gegenüber strukturfremden Elementen auf dem Globus bündeln soll, um Kriegsführungsfähigkeit und Abschreckungskraft in einem Umfange zu erhöhen, wie es die Möglichkeit eines einzelnen Staates übersteigen würde. Auf der anderen Seite ist die Nato aber auch eine Wertegemeinschaft, wie ihr Eintreten für die politische und ökonomische Ordnung des Kapitalismus dokumentiert“ (S.15) Beachtet man, wie viele Gedanken des Naumann-Papiers mittlerweile gängige Praxis sind, kann einem vor dem weiteren Weg deutscher Außenpolitik nur Angst und Bange werden...

Den Out-of-Area-Einsätzen der Bundeswehr steht bis heute der Artikel 87a des Grundgesetzes entgegen. Darin heißt es klar und deutlich: „Abs.1: Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf. Abs.2: Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“. Jürgen Grässlin, einer der prominentesten Militärkritiker der Bundesrepublik, stellt in seinem ausgezeichneten Buch „Lizenz zum Töten – Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird“ (München 1997) fest: „Geographische Begrenzungen, an die die Bundeswehr seit ihrer Gründung gemäß Artikel 87a des Grundgesetzes strikt gebunden war, mussten (...) überwunden werden. Angesichts der eindeutigen Festlegung der Verfassung sollte dieses Unterfangen eine der schwierigsten Hürden darstellen. Nur über jahrelange Schrittweise Heranführung der Öffentlichkeit und der Verfassungsrichter – vollzogen von der Bundeswehrführung im Duett mit der Bundesregierung – konnte dieser Coup gelingen.“ (S. 59-60). Daß dieser „Coup“ gelang, ist heute unübersehbar. Wie er gelang allerdings findet in der Friedensbewegung bislang kaum Beachtung: Durch einen gewaltigen Medienfeldzug einerseits, durch die klammheimliche Umrüstung der Bundeswehr unter Regie Naumanns andererseits. Für die Öffentlichkeit mussten die VPR entsprechend zurechtgestutzt werden. So hieß es 1994 im Weißbuch der Verteidigung, einer Broschüre für ein breiteres Publikum mit einem Male unter Punkt 308: „Die Außen – und Sicherheitspolitik Deutschlands wird von (...) zentralen Interessen geleitet: (...) die weltweite Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte und eine auf marktwirtschaftlichen Regeln basierende gerechte Weltwirtschaftsordnung“. Für diese „weltweite Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte“ – angesichts des Kosovo-Krieges ein besonders aparter Hohn-, wurden nun in rascher Folge deutsche Soldaten an Minenräumungen im persischen Golf oder im Zuge von UN-Hilfsaktionen in Kambodscha eingesetzt. Alles Aktionen, die auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stießen. Denn sekundiert wurden diese verfassungswidrigen Einsätze der Bundeswehr von ganzseitigen Anzeigen in überregionalen Zeitungen mit Titeln wie „Ja- helfen“, später dann auch „ja-dienen“. Mancher wird sich erinnern, dass die Harthöhe sogar Picassos berühmtes Anti-Kriegsgemälde „Guernica“ umfunktionierte – für Militärpropaganda. Parallel zu dieser Kampagne fanden plötzlich aller Orten öffentliche Gelöbnisse statt. Und sogar die ohnehin längst weltweit operierende militärische „Ausrüstungs- Ausbildungshilfe (AH)“ protzte öffentlich mit einem „Demokratisierungsfond“. Von 1995 bis 1998 enthielt dieser Fond gerade einmal 28 Mio. Mark. Die Betriebskosten einer einzigen F-124 Fregatte, von denen die deutsche Marine bis 2002 immerhin drei Stück bekommen soll, belaufen sich jährlich auf 35 Mio. Mark. Dieses Beispiel mag illustrieren, wie gewaltig die Profite der deutschen Rüstungsindustrie sind und noch sein werden, wenn die Bundeswehr als internationale Eingreiftruppe rund um den Erdball „tätig wird“. Die enormen Kosten für stetige Modernisierung, Auf- und Umrüstung, für Überstunden und Soldsteigerung nach globalen Einsätzen gehen direkt zu Lasten der Bevölkerung. So gab die Bundesregierung für den desaströsen Einsatzes der Bundeswehr in Somalia (UNOSOM-II-Mission), bei dem sich deutsche Soldaten durch rassistische Übergriffe und Folterungen hervortaten, insgesamt über 300 Millionen Mark aus. Unangetastet blieb zur Deckung dieser Kosten allein … der Bundeshaushalt für Verteidigung. Es gehört sogar bis heute zum „guten Ton“ deutscher Politik, diesen immer dann aufzustocken, wenn die Kosten steigen – zu lasten von Bildung, sozialen Leistungen etcetera pp ...

Der Einsatz deutscher Truppen im Kosovo-Krieg ist nur ein weiterer Schritt, konsequent im Sinne einer Politik ständiger Eskalation von Gewalt. Mit jedem weiteren Out-of-Area-Einsatz wird auch die Militarisierung der Gesellschaft vorangetrieben werden, mit allen Konnotationen, die ein solcher Begriff mit sich bringt: Abbau demokratischer Strukturen, finanzielle Umlagerung lebenswichtiger Ausgaben auf die Rüstung, Nationalismus, Rassismus, patriarchale Kraftmeierei. Es wäre der sich konsolidierenden Friedensbewegung anzuraten, sich darauf zu besinnen, dass die Verantwortlichen für diese Politik – wie auch für diesen Krieg – nicht nur in grünen Sonderparteitagen sitzen. Wobei freilich nicht angedeutet werden soll, dass es sich nicht lohne, diese anzugreifen.

In diesem Sinne, lieber Gruß MB
 12. Juni 1999