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Von der Systemopposition zur Staatspartei
Micha Brumlik 15. Juni 1999


Kommentar zum Grünen Sonderparteitag

Mit der Entscheidung von Bielefeld – unabhängig davon, ob man die dort verabschiedete Resolution für angemessen hält oder nicht – sind die Grünen endgültig und unwiderruflich zu einem Teil des Status quo geworden. Sie haben auch die letzten, vielleicht nur noch ideologischen Reste von Systemopposition preisgegeben und sich etabliert. In Bielefeld ist in einem ebenso schrillen wie mitreißenden Ritual lediglich besiegelt worden, was sich seit mehr als zehn Jahren abzeichnete. Zugleich haben die Grünen damit ihre Rolle, einen doch noch privilegierten Ort für eine wie auch immer definierte „Linke“ darzustellen, verloren. So „links“, wie die Grünen fortan sein werden, kann man sich in CDU, SPD und PDS allemal gerieren.

Mit der Aufgabe der pazifistischen Grundüberzeugungen ist der letzte Wertbezug, der die einstige grüne Partei auszeichnete, getilgt worden. Zugleich treten die Grünen von jetzt ab als zweite liberale Partei mit der FDP in Konkurrenz. Dass in Deutschland zwei liberale Parteien, zwei liberale Strömungen miteinander konkurrieren, ist historisch gesehen nichts Neues. Die Weimarer Republik kannte die nationalliberale DVP Gustav Stresemanns und die eher linksbürgerliche DDP. Auch der Blick zurück ins Revolutionsjahr 1848 verweist auf die spannungsreiche Koexistenz von eher konservativ gestimmten Nationalliberalen und sozialpolitisch aufgeschlossenem Freisinn. Auch bei den europäischen Nachbarn spielen ehemals linksliberale Parteien keine ganz unwichtige Rolle: Man denke nur an die linksbürgerliche D66 in den Niederlanden sowie die Republikanische Partei oder den Partito Radicale in Italien.

Gleichwohl stellen sich für die Grünen, als integraler Bestandteil und Konkurrent im bürgerlichen Lager, eine Reihe von Fragen, die alsbald zu beantworten sind: Was soll – nachdem der Traum von der kleinsten Volkspartei ausgeträumt und der Osten endgültig verloren ist – die soziale Basis der Partei sein? Wie lässt sich diese soziale Basis programmatisch ansprechen, wenn schon nicht binden? Demoskopische Untersuchungen lassen derzeit keinen anderen Schluss zu, als dass es sich bei der Wählerbasis der Grünen um eine Jahrgangskohorte mehrheitlich vierzig- bis fünfzigjähriger Angestellter, Beamter und Selbständiger mit überdurchschnittlichem Bildungsgrad und vergleichsweise gesicherter sozialer Lage handelt. Es ist daher kaum verfehlt, von einer Partei des – durch die Reform der sechziger Jahre begünstigten – neuen Bildungsbürgertums zu sprechen. Diese Gruppe zeigt sich, insofern sie bildungsbürgerlich ist, universalistischen, postmaterialistischen Werten gegenüber durchaus aufgeschlossen, weiß aber als bildungsbürgerliche Schicht den Besitz von symbolischem, sozialem und finanziellem Kapital durchaus zu schätzen. Damit, auch darüber sind sich die Demoskopen einig, scheiden die Grünen als Partei der sozialen, der umverteilenden Gerechtigkeit aus. Dieser Umstand bewirkt zugleich eine strukturelle Schwäche am Wählermarkt: Nach wie vor verdienen die meisten Menschen in diesem Lande ihr Geld – sofern sie keine staatlichen Transferabkommen beziehen – als Arbeitnehmer. Für die Sorgen und Bedürfnisse dieser Gruppe haben die Grünen, deren Wirtschaftspolitik vor allem auf den Mittelstand zielt, kein Sensorium. Kann eine Partei, die weder – wie die FDP – die Interessen der wirtschaftlich Mächtigen artikuliert noch – wie SPD und CDU/CSU – Arbeitnehmerinteressen verschiedenster Milieus und Segmente bündelt, langfristig bei Wahlen bestehen? Diese Sorgen – die relative Überalterung – macht sich die Partei selbst, sitzt dabei aber nur ihrem eigenen Jugendlichkeitswahn auf. An und für sich müsste eine Verankerung bei älteren Jahrgängen in einer ohnehin alternden Gesellschaft kein Nachteil sein. Die langfristigen Probleme liegen daher nicht bei einer altersmäßigen Verengung, sondern im zu schmalen bildungsbürgerlichen Sockel. Die bisher gehandelten Vorschläge, die Grünen zu einer die Probleme der Lebensformen aufgreifenden „liberalen Familienpartei“ umzumodeln, könnten – sofern die Blindheit auf dem Arbeitnehmerauge weichen würde – diese Basis verbreitern.

Wirklich durchschlagend und Erfolg versprechend aber wäre diese Strategie nur, wenn sie mit einer aggressiven Umwandlung der sozialpolitisch geordneten Generationenverhältnisse verbunden wäre. Das aber hieße wiederum nichts anderes, als eine der FDP nahe, sozialstaatskritische Lösung der Altersversorgungsfrage zu propagieren – eine Lösung, die nicht nur einer überzeugenderen Konkurrenz konfrontiert wäre, sondern auch den postmaterialistischen Gerechtigkeitsvorstellungen der älteren Parteibasis widersprechen dürfte. Ob der demnächst anstehende Versuch, unter dem im Feld der Ressourcenwirtschaft sinnvollen Begriff der „Nachhaltigkeit“ neben „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Solidarität“ einen weiteren Grundwert in der politischen Arena zu etablieren, gelingt, darf bezweifelt werden. Vielmehr ist zu argwöhnen, dass dieser Begriff einer konservativen Naturalisierung des politischen Diskurses und damit der Ideologiebildung Vorschub leisten würde.

Als wahrscheinlichster, allemal riskanter Ausweg bleibt daher eine faktische Umgründung der ehemals systemoppositionellen Partei zu einer Staatspartei. Anders als die totalitären Organisationen in Staaten mit bürokratischer Herrschaft verkörpern Staatsparteien in demokratischen Systemen so etwas wie das „Interesse des Staates an sich selbst“ (Claus Offe). Für Staatsparteien dieser Art ist es typisch, dass sich ein überproportional hoher Anteil ihrer Mitglieder in Regierungs-, Parlaments-, Verwaltungs- und Parteifunktionen befindet und dort bei Strafe des ökonomischen Existenzverlusts ihr Leben fristet. Die immer wieder beklagte, zu dünne Personaldecke belegt das deutlich. Die Ideologie von Staatsparteien, deren Mitglieder zwar durchaus in der Gesellschaft, aber eben nicht in gesellschaftlich gewichtigen Großgruppen, verankert sind, wird zwingend das vermeintliche Allgemeine – etwa die „Nachhaltigkeit“ – zum Mittelpunkt ihrer Programmatik erheben. Das prädestiniert die Grünen von ihrer realen Existenz her dazu, jene Rolle zu übernehmen, die ihnen die interessierte Öffentliche Meinung zuweist: die einer posttraditionalen Modernisierungspartei, die kaum Rücksichten zu nehmen hat. Da es jedoch im gesellschaftlichen Konfliktfeld keine wert- und interessenfreie „Modernisierung“, die zu aller Vorteil wirkt, geben kann, droht hier neben der „Nachhaltigkeitsfalle“ ein zweiter Fall von Ideologisierung.
 15. Juni 1999