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Wer wie was, wieso weshalb warum
Günter Amendt in freitag 7. Mai 1999


Psychogramm einer neuen Kriegsgeneration

„Ich gehöre einer Generation an, die ...“, jedes Mal wenn Joseph (Joschka) Fischer mit unterkühltem Pathos zu seiner Rechtfertigungsarie ansetzt, zucke ich zusammen. Glaubt Fischer ernsthaft, zur Rechtfertigung seiner verbrecherischen Politik eine ganze Generation vereinnahmen zu dürfen – seine, meine, unsere? Ich frage mich: Wen eigentlich meint er? Dabei geht es mir nicht ums Biologische, da trennen ihn und mich zehn Jahre, sondern um die gemeinsamen Erfahrungen der Protestgeneration und die Lehren, die sie aus der Geschichte zog. Was ist die Lehre aus Auschwitz, mit der Fischer sein Handeln rechtfertigen will, wenn „Nie wieder Krieg“ und „Nie wieder Auschwitz“ mehr als nur eine Parole sein soll?

Auschwitz und den Holocaust niemals für politische Zwecke zu instrumentalisieren, ist eine der wichtigsten Lehren aus den Jahren des deutschen Terrors. Vom ersten Kriegstag an, als es einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, den Bruch der Bundesverfassung und der Charta der Vereinten Nationen zu begründen galt, zeigte sich das Kriegskabinett gewillt, diese Lehre zu ignorieren. Die ständig von Auschwitz zum Kosovo gezogenen Parallelen und der Gebrauch des dazugehörigen Vokabulars irritieren selbst die Medien in den kriegsverbündeten Nachbarstaaten. Doch unbeeindruckt von aller Kritik, beharrt Scharping auf seinem Vokabular: „Ich sage bewusst KZ“. Fischer, im Erklärungsnotstand, nimmt das Stichwort begierig auf. Auch er beteiligt sich, wie ihm Holocaustüberlebene in einem offenen Brief vorhalten, an der Verbreitung einer „neuen Art der Auschwitzlüge“. Doch Begriffe zu besetzen und Sprachregelungen vorzugeben, gehört nun einmal zu den Grundregeln einer effektiven Kriegspropaganda, deren Aufgabe nicht ist, historische Wahrheiten zu verbreiten, sondern Zustimmung für einen Akt von Staatsterrorismus zu gewinnen.

Auf eine verquere Weise hatte Scharping ja Recht, als er in den ersten Kriegstagen von ›Luftschlägen‹ sprach und sich weigerte, den Krieg einen Krieg zu nennen. Es ist nicht ein Krieg, es sind zwei. Es ist ein grausamer Bürgerkrieg mit einer langen Vorgeschichte in einer vom Hass paralysierten europäischen Region, und es ist ein cooler aus der Luft geführter Hightech-Krieg, der mit dem primitiven Bürgerkrieg am Boden nur insofern zu tun hat, als er der NATO Vorwand und Legitimation liefern soll. Ziel des NATO-Krieges gegen Jugoslawien ist die Durchsetzung einer neuen von den USA vorgegebenen Militärstrategie. Diese Erkenntnis, immerhin, begann sich nach sechs Wochen Luftkrieg im öffentlichen Bewusstsein festzusetzen. Begleitet von der Versicherung, dies sei „kein Krieg gegen das serbische Volk“ (Scharping), nimmt die NATO in Kauf, das Land „in die Steinzeit zurückzubomben“, um an ein Kriegsziel der USA im Vietnamkrieg zu erinnern. Der deutsche NATO-General Naumann drückt das so aus: Am Ende der Bombardierung wird Jugoslawien da sein, „wo es vor 50 Jahren war“, da also, wo es war, als jugoslawische Partisanen mit Unterstützung der Alliierten die Nazitruppen gerade vertrieben hatten.

Je stärker der Gewaltexzess der NATO ins öffentliche Bewusstsein dringt und die schrecklichen Bilder flüchtender und vertriebener Kosovaren relativiert, desto größer die Verwirrung und die Ratlosigkeit der einst friedensbewegten grünen Basis. Worauf haben wir uns da eingelassen? Wer hat uns verraten? Wo man hinhört, immer landet die Diskus sion bei Fischer und Scharping und der Frage nach deren Motiven. Bis zu einem gewissen Grad kann ich das außergewöhnlich starke Interesse an einer psychologischen Erklärung für Fischers „Häutung“ (Stern) und Scharpings Amoklauf nachvollziehen, obwohl ich mir von personalisierenden und psychologisierenden Erklärungsversuchen einen nur geringen politischen Erkenntnisgewinn verspreche. Andererseits, was bleibt einem schon übrig, als an der Oberfläche des medialen Erscheinungsbildes zu kratzen, wenn man verstehen will, wie dieser Entscheidungsprozeß, der in den Irrsinn eines Angriffskrieges unter deutscher Beteiligung führte, abgelaufen ist.

Scharpings verbale Exzesse zur Rechtfertigung des Krieges sind atemberaubend. Da revanchiert sich ein schwer gedemütigter Mann, dem machtpolitisches Kalkül die Rolle eines Verteidigungsministers zugewiesen hat und dem die Gunst der Stunde einen richtigen Krieg bescherte und damit eine Bewährungsprobe verschaffte. In der Rolle des Kriegsministers wendet er nun alle ihm zugefügten Kränkungen und Verletzungen gegen einen Gegner, den er in manischer Besessenheit dämonisiert. Scharpings Agieren erinnert an die letzten Tage des pillengesteuerten Uwe Barschel. Es hat etwas Irres. Der Mann muss völlig von Sinnen sein. Um den Krieg zu legitimieren, unterstellt er in einem Vortrag an der „European Business School“ dem serbischen Kriegsgegner, mit abgeschnittenen Kinderköpfen Fußball zu spielen und Schwangeren den Fötus aus dem Leibe zu reißen, ihn zu grillen, um ihn dann wieder zurück in den Leib der Schwangeren zu stoßen. Einmal mehr zeigt sich hier, wie labil die Machteliten sind und wie instabil das Machtgefüge in der globalisierten, hochgerüsteten Welt tatsächlich ist. In Russland ein vom Alkohol zerstörter und von Tabletten lahm gelegter Präsident, dem die Kontrolle über den politischen Prozeß entglitten ist, in den USA ein Präsident, der in seiner Gier nach sexuellen Abenteuern zeitweise die Kontrolle über die Präsidentschaft verloren hat und der über Jahre hinweg alle Kraft darauf konzentrieren musste, sein Amt nicht zu verlieren. Und in Deutschland einen sozialdemokratischen Kriegsminister, der außer Rand und Band geraten ist. Kontrollverlust, wo man hinsieht. Das festzustellen ist keine Pathologisierung politischen Handelns, sondern die nüchterne Beschreibung einer Realität, die bei allen Risikoabwägungen zu berücksichtigen ist.

Während Scharpings Performance in der Öffentlichkeit mit Beifall bedacht wird, beginnt ein Teil von Fischers Fanpublikum zu begreifen, dass es einer Inszenierung aufgesessen ist. Das ist kränkend und verlangt nach einer Erklärung. Zur Aufklärung kann ich jedoch nicht viel beitragen, auch wenn ich Fischer aus meiner Frankfurter Zeit kenne. Eben deswegen gehöre ich ja nicht zu den von Fischer Enttäuschten. Die Erwartungen seiner Fangemeinde habe ich nie geteilt. Zugeben muss ich jedoch, dass ich nach den lähmenden Jahren der Kohl-Ära irgendwie darauf gehofft hatte, dass sich mit dem Regierungswechsel auch ein Diskurswechsel – etwa in der Drogenfrage – vollziehen würde: Mehr Klarheit und Nüchternheit in der politischen Auseinandersetzung, eine Politik, die Interessengegensätze deutlich macht und bei ihren Abwägungen immer auch die Interessen der Gegenseite einbezieht. Wer konnte ahnen, dass sich die neuen Minister- und Kanzlerdarsteller an den Prinzipien wilhelminischer Außenpolitik orientieren würden nach dem Motto: Ich kenne keine Interessen mehr, ich kenne nur noch Moral.

Der Aufstieg des Joseph (Joschka) Fischer hat mich nie wirklich verwundert. Ich habe Fischers politische Anfänge in Frankfurt am Main miterlebt und kann nur bestätigen, was auch anderen schon aufgefallen ist. Die Karriere des Joseph (Joschka) Fischer ist eine einzige Selbstinszenierung. Bestandteil dieser Inszenierung war auch der Wechsel des Vornamens auf dem Weg zum Gipfel wie die ästhetische Anpassung an den asketischen Leistungskörper, der Dynamik und die Bereitschaft zur Flexibilität ausstrahlen und ein Gegenbild schaffen sollte zur Fettleibigkeit des amtierenden Kanzlers, die Behäbigkeit und Stillstand signalisierte. Begünstigt wurde sein Aufstieg durch das meisterhafte Spiel mit popästhetischen Symbolen. In einem SpexAufsatz hat Felix Reidenbach am Beispiel des Bedeutungswandels „der Turnschuhe an Joschka Fischers Füßen“ veranschaulicht, wie die Orientierung an den etablierten ästhetischen Autoritäten auf die Entpolitisierung gesellschaftlicher Prozesse hinausläuft: „Während die frühen Fischer -Turnschuhe noch „Fight for Your Right“ sagen und vor der Polizei davonliefen, sagten die späten „Fit for Fun“ und lassen die Polizisten zum Personenschutz hinterher joggen. Während sie also noch in den achtziger Jahren ein macht skeptisches und antiautoritäres Signal abgaben (natürlich auch, um Wählerstimmen zu erlangen), stellten sie in den späten Neunzigern eine gegenteilige Haltung dar: einen Fitness-Lifestyle, der körperästhetisch unangreifbar machen soll, indem er sich ästhetischen Autoritäten, nämlich Popstars, Models usw. gleichmacht.“ Doch bei aller Eloquenz, aller Fähigkeit in Debatten zuzuspitzen und allem Gespür für den Umgang mit Symbolen – ohne den Nachweis eines zuverlässigen Antikommunismus, hätte Fischer den Aufstieg nicht geschafft. Erst der verschaffte ihm, wie auch Dany Cohn Bendit, Zugang und Akzeptanz im Kreis der politisch Mächtigen, machte sie zu den Medienstars, die sie heute sind, und zu allseits respektierten Mitgliedern der classe politique.

Die Frage, warum sich so wenig Widerstand gegen die Kriegspolitik der neuen Regierung regt, ist mit der Regierungsbeteiligung von Bündnis90/Die Grünen und dem Dilemma ihrer Wählerinnen und Wähler allein nicht zu beantworten. Keine Frage, beim Versuch, die Regierungsbeteiligung zu sichern und die Kriegsbeteiligung zu rationalisieren, werden enorme Energien vergeudet. Einige haben noch das Flackern der Lichterketten in den Augen, wenn sie sich nun in der Pose tragischer Zerrissenheit präsentieren, anstatt sich ihrer politischen Dummheit bewußt zu werden. Dazu bedarf es keines besonderen analytischen Instrumentariums. Es genügt, sich an der Sesamstraße zu orientieren: „Wer wie was, wieso weshalb warum, wer nicht fragt bleibt dumm.“

Beunruhigend ist, wie wenig beunruhigt Jugendliche außerhalb des parteipolitischen Spektrums sind, wenn die Rede auf den Krieg kommt. Meine privaten Beobachtungen decken sich mit dem, was ich in den Medien lese, höre und sehe. Die demoskopisch belegte Spaltung der Republik verläuft nicht nur entlang der Grenze zwischen Ost und West, zwischen den alten und den neuen Bundesländern, es ist auch eine Spaltung zwischen den Generationen. Die kollektive Erinnerung der Nachkriegsgeneration verblasst, für die Nachgeborenen scheint der Krieg seinen Schrecken verloren zu haben. Das lässt sich nicht einfach nur mit dem zeitlichen Abstand erklären, denn – auch das muss gesagt werden – nach wie vor gibt es Jugendliche, die wissen, was läuft, und die – mit Adorno gesprochen – sich von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen lassen.

Die Ursachen von Kriegen sind die gleichen geblieben, gewandelt haben sich die Motive, einem Krieg zuzustimmen oder sich ihm zu widersetzen. Das wird jetzt wieder einmal deutlich, denn in den Zeiten eines Krieges wird die kollektive Psyche eines Landes nach außen gekehrt. Von Kriegsbegeisterung, wie auch schon, kann nicht die Rede sein. Ist es, wie eine taz-Autorin vermutet, Langeweile, die den instinktiven Widerstand gegen den Krieg, ausgehöhlt hat? Ist, wie Claudio Magris im Corriere della Sera fragt, „die Welt wirklich friedensmüde“? Wer auf action und wechselnde Szenarien aus ist, wird zurzeit jedenfalls gut bedient. Und das, was auf dem Fernsehbildschirm zu sehen ist, wo die Nato ihre Computerbilder von oben einspeist, vermag kaum Angst und Schrecken auszulösen. Nun, nach dem mörderischen Anschlag auf das jugoslawische Fernsehen, hat sich die Nato auch die Bildhoheit über den Krieg gesichert. Bilder von unten, wo die Bomben und Raketen einschlagen, dürften rar werden in den kommenden Wochen. Dieser Krieg, so viel scheint sicher, hat das Risikobewusstsein der Jungen, der Soldaten und Soldatinnen zukünftiger Kriege, noch nicht erreicht. Jugoslawien und der Kosovo liegen im cyber-space. Wie die Jungen den Krieg schließlich verarbeiten und welche Schlußfolgerungen sie ziehen werden, ist offen. „The princess and the prince discuss, what’s real and what is not.“ Mit dieser Zeile eines Bob-Dylan-Songs ist das Wahrnehmungsproblem der Computergeneration genau benannt. Wo sich Realitätsverlust mit Gewaltkult und Waffenfetischismus verbinden, ist Krieg angesagt. Insofern gibt es einen Zusammenhang zwischen dem highschool-Massaker in Littleton und der Gewaltorgie über Belgrad.
 7. Mai 1999