|
|
|
|
|
|
|
|
Journalismus
im Krieg
Jungle World
11. August 1998
Frei gewordenes Menschentum
In der Kriegsberichterstatterin der Neuen Freien Presse, Alice Schalek
(1874 bis 1956), sah Karl Kraus „eines der ärgsten Kriegsgräuel,
die der Menschenwürde in diesem Kriege angetan wurden“. In „Die
letzten Tage der Menschheit“, 1918/1919, lässt er Die Schalek mit anderen
Journalisten einen Stützpunkt an der Südwestfront besuchen. (Auszug
aus der 2. Szene des III. Aktes)
Die Schalek: Wo ist der Ausguck? Sie müssen doch einen Ausguck
haben? Wo ich noch hingekommen bin, war in dem Graben des Beobachters zwischen
den Moosdeckungen ein fünf Zentimeter breiter Ausguck für mich frei.
Ach, hier ist er! (Sie stellt sich dazu.)
Der Offizier (schreiend): Ducken!
(Die Schalek duckt sich.) Die da drüben wissen ja nicht, wo wir Beobachter
sitzen, ein Stück Nase kann uns verraten. (Die männlichen Mitglieder
des Kriegspressequartiers greifen nach ihren Taschentüchern und halten sie
vor.)
Die Schalek (beiseite): Feiglinge!
(Die Batterie beginnt zu arbeiten.)
Die Schalek: Gott sei Dank, wir kommen gerade recht. Jetzt beginnt
ein Schauspiel – also jetzt sagen Sie mir Herr Leutnant, ob eines Künstlers
Kunst spannender, leidenschaftlicher dieses Schauspiel gestalten könnte.
Jene, die daheim bleiben, mögen unentwegt den Krieg die Schmach des Jahrhunderts
nennen – hab’ ich’s doch auch getan, solange ich im Hinterland
saß – jene, die dabei sind, werden aber vom Fieber des Erlebens gepackt.
Nicht wahr Herr Leutnant, Sie stehen doch mitten im Krieg, geben Sie zu, manch
einer von Ihnen will gar nicht, dass er ende!
Der Offizier: Nein, das will keiner, darum will jeder, dass er ende.
(Man hört das Sausen von Geschoßen: Sssss)
Die Schalek: Ssss! Das war eine Granate!
Der Offizier: Nein, das war ein Schrapnell. Das wissen Sie nicht?
Die Schalek: Es fällt Ihnen offenbar schwer, zu begreifen, dass
für mich die Tonfarben noch nicht auseinanderstreben. Aber ich habe in der
Zeit, die ich draußen bin, schon viel gelernt, ich werde auch das noch lernen.
– Mir scheint, die Vorstellung ist zu Ende. Wie schade! Es war erstklassig.
Der Offizier: Sind Sie zufrieden?
Die Schalek: Zufrieden ist gar kein Wort. Nennt es Vaterlandsliebe,
ihr Idealisten; Feindeshass, ihr Nationalen; nennt es Sport, ihr Modernen; Abenteuer,
ihr Romantiker; nennt es Wonne der Kraft, ihr Seelenkenner; ich nenne es frei
gewordenes Menschentum.
Der Offizier: Wie nennen Sie es?
Die Schalek: Frei gewordenes Menschentum.
Der Offizier: Ja wissen Sie, wenn man nur wenigstens alle heiligen
Zeiten einmal einen Urlaub bekäme!
Die Schalek: Aber dafür sind Sie doch durch die stündliche
Todesgefahr entschädigt, da erlebt man doch was! Wissen Sie, was mich am
meisten interessiert? Was denken Sie sich, was für Empfindungen haben Sie?
Es ist erstaunlich, wie leicht die Männer auf dritthalbtausend Meter Höhe
nicht nur ohne die Hilfe von uns Frauen, sondern auch ohne uns selbst fertig werden.
Eine Ordonnanz (kommt): Melde gehorsamst, Herr Leutnant, Zugsführer
Hofer ist tot.
Die Schalek: Wie einfach der einfache Mann das meldet. Er ist blass
wie ein weißes Tuch. Nennt es Vaterlandsliebe, Feindeshass, Sport, Abenteuer
oder Wonne der Kraft, ich nenne es frei gewordenes Menschentum. Ich bin vom Fieber
des Erlebens gepackt. Herr Leutnant, also sagen Sie, was denken Sie sich jetzt,
was für Empfindungen haben Sie? |
|
|
|
|
|
|