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Nie wieder Preussen
Antifaschistische Aktion Potsdam
27. Januar 2002
Als die frisch gewählte NS-Regierung am 21. März 1933, dem „Tag
von Potsdam“, mediengerecht die „Versöhnung des preussischen
Geistes mit der neuen Bewegung“ inszenierte, war die Vollendung des deutschen
Sonderweges besiegelt. Der Händedruck von Hitler und Hindenburg als Vertreter
des preussischen Adels symbolisierte das Bündnis zwischen preussischen Nationalkonservativen
und Nationalsozialisten, das Aufgehen Preussens im „Dritten Reich“.
Nur allzugut demonstrierte dieser propagandistische Staatsakt die Kontinuität
und Brauchbarkeit preussischer Tugenden im Zweiten Weltkrieg und im neuen Volks-
und Staatsprogramm Holocaust. Deswegen konnte im postfaschistischen Deutschland
auf Preussen spätestens nach seiner 1947 erfolgten Auflösung durch die
Alliierten lange Zeit nicht mehr positiv Bezug genommen werden. Während Vertriebenenverbände
und andere deutschnationale Organisationen nicht müde wurden, neben Gesamtpreussen
auch den Verlust preussischer Identität zu bejammern, erhielt die Preussenrenaissance
erst mit der Wiedervereinigung Deutschlands Relevanz.
Mit großem Pomp wurde im letzten Jahr der 300. Jahrestag der Selbstkrönung
Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, zu Friedrich I., König von
Preußen, begangen und fleißig an der Geschichte vom anderen, aufgeklärten
Preussen und seinen Tugenden gebastelt. Wieder einmal wird die deutsche Fähigkeit
unter Beweis gestellt, Geschichte neu zu schreiben. Der autoritäre Militärstaat
soll, mit frischem Glanz und einem Toleranzsiegel versehen, positive Bezugspunkte
für die nationale Identitätsstiftung liefern. So wird die Geschichte
zum „Erbe“, das in der aktuellen Diskussion um Rechtsextremismus und
Alltagsrassismus als Toleranzquelle gegen den rassistischen Mob auf der Straße
pädagogischen Zwecken dienen soll. Militarismus wird zu einer universalen
Erscheinung der Moderne; wenn auch ein Übel, so doch ein notwendiges, das
in allen Staaten, besonders während ihrer Entstehung, wirkungsmächtig
war.
I. Die preussischen Werte
... wahlweise auch Tugenden genannt, gelten als das Vermächtnis Preussens.
Disziplin, Sauberkeit und Gehorsam gab es aber weder nur in Preussen, noch sind
sie Ergebnis bloßer Ideologieproduktion. Vielmehr sind diese „Tugenden“
dem frühkapitalistischen Ideologiegebäude „Protestantismus“
entlehnt. Der Rest ist eine Mischung aus Exerzierreglement und Grundsätzen
lokaler Wirtschaftsförderung. Die preussischen Tugenden als ein tragendes
Element des preussisch-deutschen Nationalismus werden erst seit dem frühen
19. Jahrhundert beschworen. Sie dienten als eine Art Herrenmenschenideologie und
als Erwiderung auf das Menschenbild der französischen Revolution, das von
Südwesten her nach Deutschland getragen wurde. Das, was heute als preussische
Tugenden verwertet wird, ist historisch in einem militaristischen Staatsgebilde
entstanden. Die Armee war in Preussen nicht der Staat im Staate, sondern sie war
der Staat; der preussische Unteroffizier als Träger ebendieser militärischen
Eigenschaften war die bestimmende Instanz des zivilen Lebens. Dabei wurden die
Untertanen durch stetige Androhung von Gewalt und Strafe dazu gezwungen, dieses
männerbündische System zu unterstützen. Preussen ist der Inbegriff
von Kategorisierung von Menschen anhand von Tauglichkeit und Wehrhaftigkeit. Alles,
was nach dessen Definition als „unmännlich“ und damit untauglich
galt, wurde der Verachtung preisgegeben. Als Strafe für eine diesbezügliche
Unverwertbarkeit musste Steuergeld entrichtet werden; und wer sich der Wertevermittlung
durch den preussischen Militärstaat durch Desertion zu entziehen suchte,
dem wurde schnell verdeutlicht, was es heißt, sich der Gemeinschaft zu verweigern.
Preussen war Vorbild bei der späteren Gründung des deutschen Reiches
und dessen ideologischer Konstruktion. Die dem Militär typische Unterscheidung
von „Tauglichen“ und „Untauglichen“ bildet auch heute
noch eine Demarkationslinie für die unterwürfige StaatsbürgerIn,
anhand derer die Feinde der Nation beliebig neu definiert werden können.
Denn die Abgrenzung gegen das vermeintlich Andere bildet die Grundlage für
nationale Identität. Die preussischen Werte werden einerseits als Code für
alle nicht dem deutschen Leitbild entsprechenden Menschen und andererseits als
Integrationspunkt für diejenigen benutzt, die nach der deutschen Auslese
übrig bleiben. Eine solche Projektion des negierten Selbstbildnisses auf
andere Menschen ist zum Beispiel in den in (Ost-)Deutschland grassierenden antipolnischen
Vorurteilen deutlich zu erkennen.
Heute sieht sich Deutschland als klassisches Nationalstaatskonstrukt zum Existenzkampf
gefordert; Globalisierung und Europäisierung konfrontieren die autoritären
Deutschen mit einem Verlust an gewohnten Machtstrukturen und territorialer Identifikation.
Traditionelle Werte, die zur Aufrechterhaltung der Definition und des Wertgefühls
als „Deutsche“ notwendig sind, gehen dadurch verloren und finden sich
allenfalls in der deutschen Kleingartenkolonie wieder. Es muss also ein Wertekodex
her, den sich nicht jeder zu eigen machen kann, so etwas wie ein geschichtlicher
Konsens über das Deutschsein. Diesem Werteverfall wird die Rückkehr
zu den guten alten deutschen Tugenden entgegengehalten. Dass ein Bezug gerade
auf Preussen hergestellt wird, verwundert allerhöchstens auf den ersten Blick.
Die Werte und Tugenden, auf die sich hier bezogen wird, entsprechen zuallererst
der Fähigkeit der Deutschen, sich einerseits unterzuordnen und andererseits
allem Nichtdeutschen und Nichtverwertbaren die Integrationsgrenzen – wenn
nötig, auch tätlich – darzulegen.
Die preussischen Werte erweisen sich als eine hervorragende ideologische Grundlage
für den „schlanken Staat“. Die Standortlogik verlangt einerseits
nach Rückbau des Sozialsystems und andererseits nach einer schlagkräftigen
Staatsgewalt, um den Folgen der Verarmung Herr zu werden. Das Wertgefühl
als Deutscher und damit als Teil der Autorität muss deshalb so wichtig für
die eigene Identität sein, dass sich der Einzelne dem System nicht verweigert.
Gerade bei dem, was die Politik als Jugendprobleme ansieht, sei es Neonazismus,
Kleinkriminalität oder illegalen Graffiti, wird von Parade-Preussen vom Schlage
Schönbohms gerne auf einen angeblichen Mangel an preussischen Tugenden verwiesen.
Eine entpolitisierte Ursachenforschung lässt es zu, dass alles in einen Topf
geschmissen wird. So macht es dann auch keinen wesentlichen Unterschied mehr,
ob ein Sprayer die Rokokofassade verziert oder Nazi-Schläger MigrantInnen
zusammenschlagen. Der weiteren autoritären Zurichtung im Sinne Preussens,
im zweiten Fall wahrscheinlich der Opfer, steht dann nichts mehr im Wege.
II. Selektion und selektive
Wahrnehmung
Die preussische Geschichte ist in letzter Zeit zu einem ideologischen Selbstbedienungsladen
geworden, in dem jeder nach seiner Façon selig werden kann. Seit neuestem werden
nämlich die „guten Seiten“ des Königreichs auch einzeln
verramscht. Wenn sich in der Vergangenheit Preussenjubelei anbahnte, war die politische
Ausrichtung klar und deutlich: das ganze Königreich musste es sein. Alle
es konstituierenden Elemente wurden zu „guten Seiten“, von den protestantischen
Werten bis zum Militarismus.
Neben dieser klassisch konservativen Aneignung macht sich eine weitere selektive
Wahrnehmung breit: immer häufiger wird Preussen – dank des vermeintlich
aufklärerischen Wirkens seiner Herrscher – als Hort der Toleranz dargestellt.
Eine Ansicht, die als Argument eben gerade noch ausschließlich der Abwehr
etwaiger Kritik an dem einseitigen Geschichtsbild diente, und trat deshalb nur
im Zusammenhang mit dessen aggressiver Bewunderung auf. Der Toleranzmythos besitzt
mittlerweile eine aktuellere Funktion. Wer vom toleranten Preussen redet, ist
schnell beim „Toleranten Brandenburg“ und hat die Affirmation heutiger
Verhältnisse im Sinn. Aus kritischer Sicht lohnt also ein Vergleich: Einwanderungs-,
Flüchtlings- bzw. Minderheitenpolitik waren damals genauso wenig wie heute
humanistisch motiviert. Ins Land gelassen wurde damals nur, wer von Königs
Gnade war. Und das waren die wenigsten; auf märkischem Sand sesshaft werden
durften die, die von meist unmittelbarem ökonomischen Nutzen waren. Der Übergang
von Feudalismus zur kapitalistischen Produktion bedurfte einer Regulierung; die
Bildung staatlicher Strukturen wurde notwendig. Ob hugenottische Handwerker, böhmische
Weber oder holländische Meliorateure, sie wurden ins Land geholt, um bestimmte
Funktionen im Modernisierungsprozess zu besetzen, für die die einheimische,
Ackerbau- und Viehzucht betreibende Bevölkerung zu unqualifiziert war. Abgesehen
von den unmittelbar ökonomischen spielten andere Motivationen eine Nebenrolle:
Nicht nur dass die Einwohnerzahlen für das dünn besiedelte, stadtarme
Land erhöht wurden (d.h. mehr Steuereinnahmen, von denen bis zu 85 Prozent
wieder für die Armee ausgeben wurden); die Einwanderer brachten neben der
Kartoffel überhaupt etwas Zivilisation mit. Am Hof sprach seine Majestät
französisch und hielt sich ein paar Afrikaner als leibeigene „wilde
Exoten“. Doch nicht nur sie waren zwangsweise im Dienste des Hofes. So auch
viele Soldaten; welche ebenso wenig freiwillig kamen wie sie blieben: von ihren
Familien verschleppt wurden sie unter Androhung von Gewalt an einer Desertion
gehindert.
Wie tolerant es tatsächlich zuging, zeigte sich in der Behandlung der jüdischen
Bevölkerung. Diskriminiert durch Berufs- und Siedlungsverbote, konnten ausschließlich
jene ein Auskommen finden, die in der Lage waren, Schutzgeld zu zahlen. Sie wurden
trotz steigender Zahlungsforderungen schikaniert; Erb- und Geburtsrecht waren
soweit eingeschränkt, das seine Majestät praktisch jederzeit das Recht
hatte, ihre Duldung für beendet zu erklären. Die armen anderen, so genannte
„Betteljuden“, wurden gnadenlos ausgewiesen. Mit der missglückten
bürgerlichen Revolution 1848 scheiterte auch die jüdische Emanzipation,
und damit trat auch der Antisemitismus auf die politische Bühne; da half
auch keine formale Aufhebung beruflicher und religiöser Beschränkungen.
Er hatte sich schon lange als Alltagskultur entfaltet, die Ausgrenzung erfolgte
nun informell auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Der weitere, wenn auch nicht
zwangsläufige, geschichtliche Verlauf ist bekannt.
Toleranz bedeutet immer, dass aus einer Machtposition heraus ein „Anderes“
geduldet wird. Sie stellt somit ein Herrschaftsverhältnis dar, in welchem
das Dominante die Möglichkeit besitzt, über das Schicksal des zu [Er]duldenden
zu entscheiden. Im absolutistischen Preussen war die richtende Instanz die edikterlassende
und -aufhebende Königsperson, im heutigen föderalen Brandenburg ist
es neben der Staatsmacht deren außerparlamentarische Konkurrenz in Form
eines völkischen Alltagsbewusstseins. Jeder Dorfnazi fühlt sich wie
der König von Deutschland, wenn er im Auftrag eines keineswegs nur vermeintlichen
Volks- willens, die Existenz(berechtigung) alles „Un-deutschen“ ganz
praktisch in Frage stellt; zum Beispiel das Leben von Asylbewerber/innen, dass nebenbei
auch von staatlicher Duldung durch die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung
abhängt. Abgedrängt in abgelegene Lager, werden sie mittels des in Brandenburg
miterfundenen Asylbewerberleistungsgesetzes und der Residenzpflicht im gesellschaftlichen
Abseits gehalten. Auch die formale Aufhebung des Arbeitsverbotes stellt keine
wirkliche Verbesserung dar, sondern legalisiert nur einen jahrzehntelanges Faktum:
Drecksarbeit zuerst für Nichtdeutsche. Ebenso weist die aktuelle Debatte
um ein zukünftiges Einwanderungsgesetz in die ökonomistische, preussische
Richtung: eine Regulierung der Immigration soll nach demographischen und arbeitsmarktfunktionalen
Anforderungen erfolgen.
Das können die Nazischläger nicht begreifen. Anstatt ihre Toleranzgrenze
zwischen den Ausländern „die uns nützen und denen, die uns ausnützen“
zu ziehen, richten sich ihre Selektionskategorien nach nationalsozialistischem
Vorbild, welches im Jahr 1842 durch das in Preussen eingeführte Blutrecht
auf den deutschen Sonderweg gebracht wurde. Pogrome sind trotzdem unpreussisch;
der absolute Staat braucht eine auf ihn ausgerichtete Gewissenhaftigkeit, also
Beamtentum, ehrenamtliches Engagement kann sich bei der Denunziation von vermutlich
illegalen Flüchtlingen nützlich machen. Wer über die Stränge
schlägt und den ordentlichen Staatsablauf tatsächlich oder symbolisch
gefährdet, der wird diszipliniert – auch entsprechend in tradierter
Form auch heute wirkungsmächtig ist, war deren Ambivalenz. Wenn Toleranz
als Mittel gegen so genannte „Fremdenfeindlichkeit“ beschworen wird,
dann ist alles zu spät. Denn ihre Realisierung benötigt die Anderen,
um sie zu dem Anderen zu machen. So gemeint, muss das Andere fremd bleiben. Ein
Zustand tatsächlicher Toleranz kann aber nur durch die Abschaffung des durch
den Begriff beschriebenen Verhältnisses realisiert werden. Dieses theoretische
Paradox bedingt den bewussten Bruch mit dem Bestehenden und seiner Geschichte;
praktisches Engagement für Toleranz muss konsequenterweise antipreussisch
und intolerant sein. Der Bezug auf preussische Werte ist eine Manifestation des
Ordnungs-, Gehorsams- und Gewaltdenkens in der deutschen Mentalitätsgeschichte
und muss politisch bekämpft werden. Das Gegenteil protestantisch-preussischer
Werte sind die musse, das Sich-Gehen-Lassen-Können, die Abneigung gegen
Hierarchien, die Verspottung der Obrigkeit, Solidarität, die Geringschätzung
jeglicher Arbeit und die Suche nach dem Genuss. Preussische Tugenden vertragen
sich nicht mit der Assoziation einer von Dominanz befreiten Gesellschaft. ...
in diesem Sinne:
Nie wieder Krieg! Nie wieder Nationalsozialismus! Nie wieder Preussen! |
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