|
|
|
|
Schuld
und Erinnerung
Die Shoah, der Nahostkonflikt und die Linke
Von Klaus Holz, Elfriede
Müller und Enzo Traverso 24. November 2002
In der bundesrepublikanischen Linken ist der Nahostkonflikt nur vordergründig
von Interesse. Der Hintergrund, der diesem Thema seine Brisanz verleiht, ist die
nationalsozialistische Judenvernichtung. Die Erinnerung an die Shoah, und nicht
die Analyse des Nahostkonflikts, prägt die Positionen. Das gilt für
die antisemitischen KritikerInnen Israels ebenso wie für die philozionistischen
VerteidigerInnen dieses Staates. Während jene rückwirkend das Verhältnis
von Tätern und Opfern umkehren wollen, versuchen diese unbeholfen, sich diesem
Bedürfnis entgegenzustellen.
Es ist falsch, den Kampf gegen den Antisemitismus mit einer blinden Solidarität
mit Israel zu verwechseln. Dieser Irrglaube grassiert in der radikalen Linken.
Sie glaubt, nach den Jahrzehnten der Ignoranz – oder schlimmer noch: des
linksradikalen, antisemitischen Antizionismus – nun endlich ihre Lektion
gelernt zu haben. Tatsächlich presst sie komplizierte Zusammenhänge
in ein primitives Denkmodell. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der
Nahostkonflikt weder unabhängig von der Shoah noch allein aufgrund der Shoah
beurteilt werden kann.
Hinzu kommt, wie wir im zweiten Teil unseres Beitrages erörtern, dass an
die Shoah als einmaliges historisches Ereignis auf unterschiedliche Weise erinnert
wird und diese Erinnerungen die gegenwärtigen politischen Konflikte prägen.
Dieser Komplexität kann man nur mit einer differenzierten Position gerecht
werden. In der Linken sind aber einfache Denkmodelle populär.
I. Die Sharon-Linke
Der Antisemitismus in Deutschland und Europa wird seit (nicht wegen) der zweiten
Intifada offener artikuliert als zuvor. In Deutschland handelt es sich dabei nicht
um eine neue Form des Antisemitismus, während der Antisemitismus, den die
nach Europa emigrierten Muslime formulieren, einem neuem Typus der Judenfeindschaft
Ausdruck verleiht. Während in Deutschland der klassische moderne Antisemitismus
hauptsächlich innerhalb etablierter politischer Kreise formuliert wird, äußert
er sich in Frankreich vor allem innerhalb der islamistischen Communities. In der
deutschen und europäischen Bevölkerung unterscheidet sich der Antisemitismus,
der zu Auschwitz führte, vom Antisemitismus nach 1945.
Nach dem Ende des Nationalsozialismus konzentrierte sich der Antisemitismus auf
die Schuldabwehr, wie zum Beispiel bei Martin Walser und Jürgen Möllemann.
Man wollte und will sich davon entlasten, zu einer Nation zu gehören, die
Auschwitz verursachte, um sich ungezwungen als Deutscher identifizieren zu können.
Die geläufigste Form der Schuldabwehr verkehrt die Verhältnisse, die
Opfer von damals seien die Täter von heute. Ein besonders drastisches Beispiel
für diese Umkehrung ist es, wenn die Juden bzw. Israelis mit den Nazis identifiziert
werden, indem von einem Vernichtungskrieg Israels gegen die PalästinenserInnen
gesprochen wird. Mit dieser Täter-Opfer-Umkehr wird einerseits die Schuld
der deutschen
Nation relativiert, weil „die“ Juden ja angeblich heute das tun, was
die Deutschen in der Vergangenheit getan haben. Und damit wird andererseits der
Angriff auf die Juden heute legitimiert, eben weil man sie schlimmster Taten bezichtigt.
Diese Umkehr wird seit dem Ende des Nationalsozialismus in diversen Varianten
gepflegt. Der Nahostkonflikt bietet nun der deutschen Bevölkerung den willkommenen
Beleg, dass die Juden Täter sind. Daran beteiligen sich auch radikale Linke,
was zum Beispiel die Antisemitismusdebatte im freien Radio in Hamburg (FSK) auslöste.
Gemeinsam ist allen ProtagonistInnen, dass der reale politische Konflikt dabei
nur eine Projektionsfläche bleibt.
Wir werden im Folgenden nicht näher auf die antisemitischen Reaktionen auf
den Nahostkonflikt eingehen. Vielmehr interessieren uns in diesem Beitrag vor
allem die Gründe, warum es so schwierig zu sein scheint, eine linke Position
zu formulieren, in der das Bewusstsein über die nationalsozialistische Judenvernichtung
mit einem kompromisslosen Anti-Antisemitismus und einer reflektierten Kritik des
Nahostkonfliktes verbunden
ist. Unsere Kritik richtet sich vor allem gegen die linken Positionen, die eine
bedingungslose Solidarität mit Israel und generell der Judenheit einfordern.
Denn auch sie benutzen den Nahostkonflikt nur als Projektionsfläche. Sie
setzen der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr eine Verabsolutierung des Täter-Opfer-Modells
entgegen.
Die Shoah ist seit 20 Jahren ein Bestandteil der offiziellen Erinnerungspolitik.
Dieses Gedenken bestimmt den linksradikalen Blick auf den Nahostkonflikt. Während
der siebziger und achtziger Jahre wurde bedingungslos Solidarität mit der
palästinensischen Bewegung geübt, der
Antizionismus kannte keine Grenzen und ging so weit, „die Zerstörung
des Staates Israel“ zu fordern. Die linksradikale Propaganda der Zeit war
äußerst zweifelhaft und reproduzierte antisemitische Stereotype. Jean
Améry, der sich für die PalästinenserInnen einsetzte, verurteilte
1969 das antijüdische Ressentiment, das sich hinter diesem Antizionismus
der radikalen Linken verbarg.
Heute sind wir in einer völlig anderen Situation. Viele radikale Linke in
Deutschland und in bedingtem Maße auch innerhalb Europas glauben, dass das
Denken nach Auschwitz zur Folge habe, alle Ereignisse auf Auschwitz und dessen
Folgen zu reduzieren. Dieser Glaube bietet zwei große Vorteile.
Erstens besitzt man damit einen Fixpunkt, von dem aus alles beurteilt werden kann.
Zweitens ist klar, wer die Guten und wer die Bösen sind und folglich, mit
wem man sich als Linke zu identifizieren hat.
Ein solches „Denken nach Auschwitz“ ist eine vielleicht gut gemeinte,
aber fatale Instrumentalisierung der Shoah. Es befriedigt das Bedürfnis nach
umfassender Orientierung, nach Einfachheit und Identität. Auschwitz aber
taugt nicht als simplifizierende Welterklärungsformel. Ganz im Gegenteil
ist das Bewusstsein, dass die Shoah nicht nur möglich, sondern real war,
ein Stachel, der ein kritisches und aufklärerisches Denken nicht zur Ruhe
kommen lässt.
Aus Angst, Auschwitz zu relativieren, neigt diese Linke dazu, allen anderen Ereignissen,
wie zum Beispiel dem Jugoslawienkrieg oder dem Genozid in Ruanda, eine größere
Bedeutung abzusprechen. Das dort produzierte Leid ist ihnen kaum der Rede wert,
als bestehe die Lehre, die aus der Judenvernichtung zu ziehen ist, darin, alle
anderen Verbrechen zu verharmlosen. Vor allem aber wird alles, was in irgendeiner
Weise mit Juden zu tun hat, positiv bewertet, während umgekehrt alles, was
sich in irgendeiner Weise gegen Juden richtet, allein nach der Shoah beurteilt
wird.
Dementsprechend wird zum Beispiel die zweite Intifada nicht mit den Verhältnissen
im Nahen Osten erklärt, sondern mit dem „Antisemitismus“ der
PalästinenserInnen im Besonderen und der arabischen Welt im Allgemeinen.
Einige in der Jungle World erschienene Artikel, das Bündnis gegen Antisemitismus
und Antizionismus und die an den antiarabischen Rassismus der Liste Pim Fortuyn
erinnernden Polemiken diverser Antideutscher sind Ausdruck einer Sucht nach einfachen
Erklärungen, die in eine Identifikation mit der Politik Sharons mündet.
So fand Mitte April dieses Jahres in Berlin eine Demonstration statt, zu der unter
anderem das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus aufgerufen hatte.
Dabei implizierte bereits der Slogan „Solidarität mit Israel“,
dass es den Veranstaltern nicht um die Unterdrückungsmaßnahmen des
israelischen Staates ging und eine Solidarität mit den PalästinenserInnen
ausgeschlossen wurde. Um das einfache, binäre Schema „gut/böse“
nicht durcheinander zu bringen, wird Israel nur als Folge der Shoah begriffen,
womit die Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung der Kritik entzogen
wird. Auf der anderen Seite konstruiert man sich die Palästinenser, die Araber
und die Muslime, erklärt sie samt und sonders zu Antisemiten und ignoriert
damit alle anderen Gründe des Nahostkonflikts.
Die Solidarität mit PalästinenserInnen gegen die Militärdiktatur
in den von Israel besetzten Gebieten und mit dem Protest der Israelis palästinensischer
Herkunft gegen ihre Diskriminierung sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit
des linken Internationalismus darstellen. Diese Solidarität schließt
selbstredend eine deutliche Kritik aller antisemitischen, völkisch-nationalistischen
bzw. islamistischen Töne diverser palästinensischer Strömungen
mit ein.
Vernünftigen Linken sollte es leicht fallen, zwischen Internationalismus
und kritikloser Unterstützung des palästinensischen Befreiungsnationalismus
zu unterscheiden und den Antisemitismus im Antizionismus zu erkennen und kenntlich
zu machen. Doch die Anfang der neunziger Jahre noch möglichen komplexen Betrachtungsweisen
waren anscheinend nur ein kurzes Aufflackern des kritischen Denkens, die wieder
binären Positionen Platz gemacht haben. Nur die Fahnen haben gewechselt.
„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, sagt eine israelische
Regierung, die sich genauso mit Israel gleichsetzt, wie es die VertreterInnen
der radikalen Linken in Deutschland tun. Diese Linke kennt keine Unterschiede
mehr, nicht einmal
zwischen der Regierung und den Regierten, zwischen Klassen, zwischen Frauen und
Männern, zwischen EinwandererInnen aus den GUS-Staaten und sephardischen
Juden.
Positionen für einen sofortigen Abzug aus den besetzten Gebieten und Frieden
gibt es durchaus, wie es z. B. im vergangenen Sommer das Symposium „Palästina:
Israel 2002. Das Ende der Zukunft?“ in Hamburg zeigte. Doch die VertreterInnen
von Positionen, die sich gegen ethnisch und/ oder religiös homogene Staaten
richten, bekommen wenig Gehör in der linken Debatte. Für manche Linke
sind solche Positionen zu kompliziert.
Sie sind lieber kompromisslos – für Israel und gegen Palästina.
Im nächsten Jahr vielleicht wieder umgekehrt. Hauptsache, man weiß,
welche Flagge hochzuhalten ist.
II. Eine Sharon-Linke kann
es nur außerhalb Israels geben
Die Zeitschrift konkret zum Beispiel unterstützte früher entschieden
die PLO, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Fatah das Existenzrecht Israels
noch nicht anerkannte. Heute ist sie in den Reihen der überzeugtesten Verteidiger
der israelischen Politik zu finden. Zurecht wird diese Position als „Sharon-Linke“
bezeichnet (Stefan Reinecke am 7. Mai 2002 in der taz). Der Kampf gegen den Antisemitismus
wird mit der Solidarität mit einem rechten Abenteurer in eins gesetzt.
Das über Jahrzehnte gepflegte binäre Denken in der Linken hat nicht
unwesentlich zur ihrer theoretischen und praktischen Schwächung beigetragen
und setzt sich bruchlos im Nahostkonflikt fort, nur dass man die Seiten gewechselt
hat. Statt eines Antiimperialismus, der häufig einen antisemitischen Antizionismus
einschloss, setzt man nun auf eine „Analyse“ des Nahostkonflikts,
die allein aus der Perspektive der deutschen Verantwortung für die Shoah
entworfen wird. Solche undifferenzierten binären Positionierungen werfen
all das über Bord, was aufgeklärtes Denken ausmacht.
Es entbehrt nicht einer gewissen Absurdität und einer latenten Allmachtsphantasie,
dass gerade deutsche radikale Linke sich als SprecherInnen der Regierung Sharon
in Deutschland sehen und sich damit völlig über die Kritiken und Einschätzungen
israelischer Linker und Gruppen wie Bat Shalom oder Gush Shalom hinwegsetzen.
Die israelische Gesellschaft hat nach dem Scheitern der Verhandlungen von Camp
David und Tabla einen beeindruckenden Rechtsruck vollzogen, der mit jedem neuen
Selbstmordattentat noch verstärkt wird. Die Militarisierung der israelischen
Gesellschaft und die Zerschlagung der palästinensischen Zivilgesellschaft
sind langfristige Ziele des Premierministers Ariel Sharon, die nach und nach zum
Nachteil beider Gesellschaften erreicht werden.
Während sich die israelische Linke völlig im Klaren darüber ist,
dass eine militärische Lösung keinen Frieden bringt und die Selbstmordattentate
vom harten Vorgehen der israelischen Armee eher angestachelt als beendet werden,
weigert sich ein Teil der Linken hierzulande, diese Positionen zu unterstützen
oder überhaupt zu verstehen.
Eine Linke, die ihren Namen verdient, müsste hingegen gemeinsam mit israelischen
Linken die sofortige Beendigung der israelischen Okkupation, den Abbau der Siedlungen
sowie Friedensverhandlungen unterstützen. Das würde eine kritische Solidarität
mit den linken Bewegungen in Israel einschließen, die sich gegen die Besatzungspolitik
engagieren, statt einer politisch irrelevanten Anbiederung an einen starken Staat.
Das Letzte, was Sharon braucht, sind deutsche Linke. Linke Solidarität sollte
sich vor allem an die in der Gegenwart Unterdrückten richten, also an PalästinenserInnen.
Die israelische Besatzung ist der Ausdruck eines Staatsterrorismus, die palästinensische
Gewalt ist eine Reaktion darauf. Dieser Grundsatz darf aber nicht dazu verleiten,
alle anderen Einflüsse auf den palästinensischen Widerstand zu ignorieren.
Während in der ersten Intifada zum Beispiel Frauen eine bedeutende Rolle
einnahmen, werden sie nun von patriarchalischen Kräften aus dem politischen
Leben verbannt.
Der Antisemitismus in Deutschland wird zur alleinigen Beurteilungskategorie im
Nahostkonflikt erhoben. Zwar ist es richtig, dass die Deutschen am meisten vom
Antisemitismus verstehen, aber dass es gerade die Linken sein müssen, die
keine Parteien und politischen Positionen, sondern nur noch ein homogenes Staatsgebilde
zur Kenntnis nehmen, wenn es um Israel geht, bedeutet nichts anderes als die Preisgabe
elementarer linker Überzeugungen. Die Verbohrtheit dieser Position geht so
weit, dass die in diversen Nationalstaaten lebenden Jüdinnen und Juden gerade
so, wie es Antisemiten üblicherweise tun, einfach Israel zugeordnet werden.
Völlig ignoriert werden dabei Positionen, wie sie zum Beispiel Hanno Loewy
formulierte (Die Zeit, 17./18. April 2002 ): „So bin ich kein Israeli, sondern
Jude und deutscher Staatsbürger.“ Ebenso geht es vielen linken Juden
in Frankreich, die sich keineswegs dem „weltweiten jüdischen Projekt“
von Leuten wie Sharon zugehörig fühlen. In Januar des Jahres 2001 erschien
in Le Monde ein Aufruf jüdischer Intellektueller, der sich sowohl gegen die
antisemitischen Angriffe in Frankreich als auch gegen die israelische Politik
gegenüber den PalästinenserInnen richtete.
Daniel Bensaid argumentierte in diesem Zusammenhang ähnlich wie Loewy: „Persönlich
verstehe ich mich zuerst als laizistischen und internationalistischen Aktivisten
und als Staatsbürger des Landes, in dem ich lebe und arbeite. Als Jude bezeichne
ich mich nur unter zwei Umständen: Gegenüber Antisemiten, in der Erinnerung
an die Leiden der Vergangenheit, und gegenüber Zionisten, die vorgeben, in
meinem Namen zu sprechen. Natürlich gerät man dabei in Widersprüche.
Doch diese Widersprüche sind ein Produkt der Geschichte. Der Massenmord der
Nazis an den Juden war eine hundertprozentig europäische Tragödie, so
wie die Dreyfus-Affäre eine hundertprozentig französische Angelegenheit
war. (...) Zu zeigen, dass ‚die Juden‘ und die israelischen Regierenden
nicht dasselbe sind, ist ein Mittel des Kampfes gegen Antisemitismus.“
Teile der deutschen Linken dagegen kennen nur noch „die Juden“ als
eine homogene Gruppe, auf die man die eigenen Sehnsüchte nach Identität
und Orientierung projiziert. Gegen Deutschland, gegen den Antisemitismus zu sein,
bedeutet, so der Kurzschluss, die Juden nur als Opfer des Antisemitismus wahrzunehmen.
Damit werden die PalästinenserInnen zum Sündenbock einer linksdeutschen
Trauerarbeit, die nicht auf Reflexion, sondern auf Identifikation abzielt. Die
Rechte der PalästinenserInnen werden für diese eigenwillige deutsche
Vergangenheitsbewältigung geopfert.
In diesem verworrenen Rollenspiel sind die Juden nur noch eine metonymische Figur,
in der die Ermordeten von gestern die Unterdrücker von heute überlagern.
Dass beides wahr ist, ohne dass das eine das andere erklärt oder gar legitimiert,
dass es gegenwärtig Opfer des Antisemitismus und von Juden zu verantwortendes
Leid gibt, passt nicht ins Bild.
Früher gehasst, werden die Juden heute als idealtypische Verkörperung
der Opfer, als Objekte von Liebe und Mitgefühl wahrgenommen, doch bleiben
sie für die Deutschen eine Projektion, ein selbst geschaffenes Bild, ein
Fetisch. Sie sind immer noch nicht das, was die Aufklärung postulierte, nämlich
menschliche Wesen, die man ihren Handlungen gemäß beurteilen, anerkennen,
kritisieren, lieben oder hassen kann, sondern die TrägerInnen einer früher
verabscheuten Wesenheit, die heute bedingungslos verteidigt wird.
In diesem Zusammenhang beweist der Philozionismus eines Teils der deutschen radikalen
Linken nicht deren Befreiung von einem alten Vorurteil, sondern ihre Unfähigkeit,
sich davon zu lösen. Ihre Werteskala hat sich nur umgedreht. Deshalb entspricht
das Bild, das sich Deutsche von Juden machen, gerade nicht den Selbstbildern von
Juden. Die unterschiedlichen Selbst- und Fremdbilder, insbesondere die unterschiedlichen
kollektiven Erinnerungen an die Shoah, sind aber für eine Beurteilung des
Nahostkonflikts wesentlich.
Es ist interessant zu beobachten, dass einige der bekanntesten VertreterInnen
der israelischen radikalen Linken eine entgegengesetzte Haltung einnehmen. Manche
israelischen AktivistInnen weigern sich, als BürgerInnen eines repressiven
Staates öffentlich die palästinensischen
Selbstmordattentate zu denunzieren. Michael Warschawski sieht seine Rolle als
Israeli im Kampf gegen die 50jährige Unterdrückung einer vertriebenen
und rechtlosen Bevölkerung nicht darin, die PalästinenserInnen über
Wege und Mittel ihres Kampfes zu belehren. Diese hierzulande schwer nachvollziehbare
Position bedeutet keine Gleichgültigkeit gegenüber den völlig willkürlich
gewählten Opfern der Attentate, sondern ist Ausdruck des Bewusstseins, dass
die palästinensische Gewalt ein Resultat des israelischen Staatsterrorismus
darstellt.
Gleichwohl sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Selbstmordattentate,
die aus archaischen Vorstellungen und aus der Religion sich legitimieren wollen,
nicht das Geringste mit einer aufgeklärten linken Politik zu tun haben. Sie
sind zwar Akte der Verzweiflung, dennoch sind sie barbarisch. Zudem sind sie ein
Teil der militärischen Strategie unter anderem der Hamas, die die Verzweiflung
instrumentalisiert. Dass Verzweiflung zu religiösem Fanatismus führen
kann, ist soziologisch zwar zu erklären, aus einer aufgeklärten Position
aber zu verurteilen. Es ist auch falsch, alle PalästinenserInnen mit diesen
Anschlägen zu identifizieren, genauso wie es falsch ist, alle Israelis mit
ihrer Regierung gleichzusetzen.
III. Unterschiedliche Erinnerungen
Die Erinnerung an die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges formte
das historische Bewusstsein Israels. Die brillante Analyse „Die siebte Million“
von Tom Segev beschreibt dieses Phänomen. Einerseits wurde die Erinnerung
an die Shoah ein Pfeiler der israelischen Identität, andererseits instrumentalisierte
der Zionismus diese Erinnerung, um seine nationalistische Politik zu legitimieren.
Der israelische Historiker führte mehrere Beispiele an, um dieses Phänomen
zu illustrieren. Angefangen in den fünfziger Jahren, als Ben Gurion den ägyptischen
Präsidenten Gamal Abdel Nasser mit Adolf Hitler verglich, bis zum Libanonkrieg,
als Menachem Begin erklärte, die Alternative zur israelischen Besatzung in
Beirut sei ein neues Treblinka.
Dan Diner interpretierte dies als einen Ausdruck des israelischen Selbstverständnisses.
Zur überlieferten Repräsentation der Yshuviste, der Erde der Pioniere
und der „Gründerväter“, kam eine shoahzentrierte Repräsentation,
die Israel als eine Antwort auf den Genozid der Nazis und eine „Wiedergutmachung“
darstellte. Ab 1967 hätten die zionistischen Autoritäten Auschwitz als
eine „Metapher für den Mangel an Sicherheit im Inneren Israels“
gewählt. Die Grenzen des Landes wurden vor der Besetzung des Westjordanlandes
und des Gazastreifens häufig als „Auschwitz-Linie“ bezeichnet.
All das sollte nicht vergessen werden. Diese Überlegungen können uns
helfen, die psychologischen Reflexe, die israelische Erinnerung und das Selbstverständnis
besser zu verstehen. Allerdings können sie keine objektive Analyse der Tatsachen
ersetzen. In Sabra und Shatila kam es zu Massakern, unabhängig von den Beweggründen
und dem Selbstverständnis derer, die sie ausgeführt oder befohlen haben.
Die palästinensische Erinnerung ist völlig anders. Sie hat mit dem Erbe
eines in Europa geplanten und ausgeführten Genozids nichts zu tun. In den
Augen der PalästinenserInnen ist der Staat Israel nicht die Antwort auf ein
grauenhaftes, an den Juden begangenes Verbrechen – ein Verbrechen für
das sie nicht verantwortlich sind und an dem sie nicht teilgenommen haben. Sie
begreifen Israel deshalb nicht als einen Zufluchtsort für die Verfolgten
des europäischen Antisemitismus, für tausende Heimatlose und für
Überlebende aus den Vernichtungslagern der Nazis, sondern als Ergebnis eines
Kolonisierungsprozesses, der sie aus ihrer Heimat vertrieb und sie ihrer Rechte
und einer Zukunft beraubte.
Das Bild, das man in Gaza von Juden hat, ist dem in Deutschland genau entgegengesetzt.
Es gründet nicht auf der Erinnerung an einen Genozid, der im Namen Deutschlands
verübt wurde, sondern auf der Realität einer Besatzungsarmee. Weit davon
entfernt, eine befreiende Wirkung zu haben, traf die Gründung Israels mit
der Naqba, der Katastrophe, zusammen. Israel war beides, ein Hafen für eine
Masse von Parias, für Überlebende eines Genozids, und ein Staat, dessen
Gründung direkt zum Krieg und zur Vertreibung führte. Genau darin besteht
auch die Wandlung des Zionismus, dessen historische Legitimität als nationale
jüdische Bewegung wir nicht bestreiten.
Anders verhält es sich mit seiner staatlichen Praxis. Die Anerkennung der
Tatsache, dass der Krieg von 1948 die Vertreibung der PalästinenserInnen
aus ihrer Heimat bedeutete, durch die „neuen israelischen HistorikerInnen“
(Ilan Pappé, Benny Morris und andere), ist ein erster Schritt eines jüdischen
Verständnisses der palästinensischen Erinnerung. Auf der anderen Seite
bedeutet die Kritik zahlreicher arabischer Intellektueller an Roger Garaudys Leugnung
von Auschwitz ebenfalls einen wichtigen Schritt der Integration der Shoah und
ihrer Bedeutung für das israelische kollektive Bewusstsein in die palästinensische
Geschichtsschreibung. Es geht dabei nicht um Details, sondern um entscheidende
Tatsachen, auch wenn ihre Auswirkungen im Moment noch nicht deutlich werden. Ohne
gegenseitiges Verständnis werden die beiden entgegengesetzten kollektiven
Gedächtnisse nur blutige Feindschaft legitimieren.
Diese Spaltung der Erinnerungen lässt sich gut am Beispiel einiger aktueller
Episoden in Frankreich deutlich machen. Sébastien Jolivet, ein Mitglied
der LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), und Daniel Mermet, ein Redakteur
des Radiosenders France Culture, wurden wegen Antisemitismus und „Aufhetzung
zum Hass“ angeklagt, weil sie Sharon als „Mörder“ bezeichneten
und die palästinensische Intifada unterstützen. Einige jüdische
Intellektuelle reagierten sofort und formulierten einen Aufruf zur Unterstützung
der beiden Angeklagten. Die antirassistischen Organisationen spalteten sich; die
Licra (Ligue contre le racisme et l'antisémitisme) ist die Klägerin,
die Ligue des Droits de l'Homme verteidigt die Angeklagten. Der israelische Regisseur
Eyal Sivan, der als Zeuge der Verteidigung während des Prozesses gegen Jolivet
aufgerufen war, erklärte, dass der Vergleich Sharons mit den Nazis bei israelischen
PazifistInnen gebräuchlich sei, ohne dass dies jemals zu juristischen Schritten
geführt hätte. Beide Angeklagten wurden schließlich freigesprochen,
doch bleibt ihr Missgeschick ein Ausdruck des Niedergangs einer politischen Debatte
und interner Instrumentalisierungen des Nahostkonflikts.
Die komplizierte Situation bedeutet jedoch keineswegs, dass nicht Position ergriffen
werden kann. Ein Brandanschlag auf eine Synagoge ist ein antisemitischer Akt,
der zu verurteilen und zu sanktionieren ist. Aber es ist nützlich zu wissen,
ob es Skins waren, Nostalgiker eines
Vichy-Frankreich, islamische FundamentalistInnen oder Jugendliche maghrebinischer
Herkunft, die dadurch ihre Unterstützung der palästinensischen Intifada
ausdrücken wollen.
Im Namen der Erinnerungsarbeit geschehen heutzutage viele Instrumentalisierungen.
So zum Beispiel wenn der israelische Außenminister das durch einige antisemitische
Anschläge erschütterte Frankreich mit dem Deutschland der Kristallnacht
vergleicht, einer staatlich organisierten Pogromwelle. Die Erinnerung wird in
diesem Fall demagogisch in den Dienst gegenwärtiger Interessen gestellt.
Die Erinnerung und die Unterschiede zwischen den Erinnerungen führen häufig
zu zweifelhaften Vergleichen. Der portugiesische Schriftsteller José Saramago
veröffentlichte nach einer Reise mit anderen SchriftstellerInnen ins Westjordanland
einen von der internationalen Presse rezipierten Artikel, in dem er die Vernichtungslager
mit der israelischen Besatzung verglich. Selbstverständlich ist das ein absurder
Vergleich, denn der Staat Israel hatte niemals vor, die PalästinenserInnen
auszurotten.
Die VertreterInnen eines „Groß-Israel“ wollen eher die Ausweisung,
um einen rein jüdischen Staat zu errichten. Der Vergleich mit einem Apartheidssystem
ist weit zutreffender. Denn die Ausdehnung der militärischen Besatzung –
die Aufteilung der Gebiete, die Ausbreitung der
jüdischen Siedlungen, die Grenzen und die Umgehungswege, die Störung
und die Erniedrigung der palästinensischen Bevölkerung – schafft
eine Situation der Absonderung, die an die der schwarzen Bevölkerung in den
Townships Südafrikas zu Zeiten der Apartheid erinnert.
Auch wenn der Vergleich Saramagos falsch ist, wirkt die Aufregung, die er erzeugte,
suspekt. Man wird den Eindruck nicht los, dass Saramagos Artikel nicht nur dazu
dient, die vielfache Banalisierung der Shoah zu denunzieren, sondern als Vorwand
willkommen ist, um nicht mehr über die israelische Politik gegenüber
den PalästinenserInnen sprechen zu müssen.
Die Erinnerung an Auschwitz wird somit zu einer Sichtblende, hinter der sich eine
oft mit blutiger Gewalt ausgeübte Unterdrückungspolitik verbirgt. Der
Banalisierung von Unterdrückung und Gewalt aber darf in einem Denken nach
Auschwitz kein Platz eingeräumt werden. Man muss deshalb beides in seiner
Unterschiedlichkeit in den Blick nehmen, ohne das eine zugunsten des anderen zu
verharmlosen. Wenn Saramagos Worte Kritik verdienen,
so verdient die Banalisierung der Geschehnisse in den besetzten Gebieten im Namen
der Erinnerung an Auschwitz unsere Entrüstung.
Die Gründe für die beschriebenen politischen Haltungen sind vielfältig.
Einer besteht darin, sich der gesellschaftlichen Konfrontation zwischen historischer
Verantwortung und zeitgeschichtlicher Erfahrung zu verweigern. Stattdessen wird,
so wie der gesellschaftliche Mainstream es tut, auch in der Linken dem Bedürfnis
nachgegeben, endlich ein Opfer sein zu dürfen bzw. sich mit den historischen
Opfern in eins zu setzen. Möllemann und
seine Freunde wollen die Israelis und letztlich auch die Juden nur als Täter
sehen, um die Deutschen von ihrer historischen Schuld zu entlasten.
Die Linken, die sich bedingungslos hinter den Staat Israel stellen, völlig
gleichgültig, welche Politik dessen Regierung betreiben mag, glauben sich
damit mit den Opfern der Geschichte, mit den in Auschwitz ermordeten Juden identifizieren
zu können, und lassen das Bedürfnis erkennen, sich ebenfalls ihrer historischen
Verantwortung zu entledigen. Stattdessen wähnen sie sich auf der richtigen
Seite und imaginieren sich ein kollektives Feindbild, einen weltumspannenden islamischen
Faschismus, der kurz davor stehe, Israel zu vernichten.
Eine existenzielle militärische Bedrohung des Staates Israel steht aber im
Moment gar nicht zur Debatte. Israelische Militärexperten streiten ab, dass
Israel durch die erste und zweite Intifada militärisch in seiner Existenz
bedroht sei. Kein Land der Arabischen Liga hat Interesse, einen Krieg mit Israel
zu beginnen, den es militärisch nur verlieren könnte.
Eine bizarre Vernichtungsphantasie der deutschen FreundInnen Israels? Die größte
Gefahr geht im Moment vom inneren Zerfall der israelischen Gesellschaft und der
Zerstörung der Reste der Infrastruktur der palästinensischen Gesellschaft
aus. Wenn die Besatzungspolitik des
Westjordanlandes und des Gazastreifens sich über Jahrzehnte fortsetzt, wäre
nicht nur die Existenz der palästinensischen Bevölkerung bedroht, sondern
auch die Demokratie in Israel und die internationale Akzeptanz des Staates.
Der Antizionismus in der arabischen Welt und der vieler PalästinenserInnen
wird mit dem traditionellen Antisemitismus der westlichen Welt, der die Shoah
hervorbrachte, in eins gesetzt. Damit wird der eliminatorische Antisemitismus
verharmlost und in seiner historischen Einmaligkeit relativiert. Wenn die PalästinenserInnen
als die Antisemiten von heute verurteilt werden, liegt darin ebenfalls eine Schuldabwehr
und eine Relativierung der Shoah.
So wenig wie Israel im Umgang mit den PalästinenserInnen Auschwitz wiederholt,
so wenig taugen die drastischen Bilder der Judenvernichtung für die Beschreibung
des palästinensischen Antizionismus. Beide Seiten bedienen sich dieser Bilder,
um eine eindeutige und drastische Position zu formulieren, die die legitimen Interessen
der Gegenseite ausblendet. Ob Benyamin Netanyahu Yassir Arafat mit Hitler gleichsetzt
oder José Saramago die Vernichtungslager der Nazis in den besetzten Gebieten
zu erkennen glaubt, beide Vergleiche dienen nur dazu, der politischen Abscheu
vor dem Gegner eine nicht mehr steigerungsfähige Dimension zu verleihen und
bezeugen nichts als die Hilflosigkeit vor einer politischen Tragödie. Doch
während Netanyahu mit diesem Vergleich seine Politik legitimiert, verleiht
Saramago nur seinem Entsetzen über die israelische Besatzungspolitik mit
einem falschen historischen Bild Ausdruck.
Hinter bedingungsloser Solidarität steht nichts anderes als die Flucht vor
einer historischen Verantwortung und der Analyse einer komplexen politischen Situation,
in der es sehr wohl Parteien, Ideen und Individuen gibt, die man verstehen kann
und mit denen man sich solidarisch erklären sollte. Undifferenzierte, bedingungslose
Solidarität wird notwendig falsch und ungerecht. Sie dient weit eher dem
Bedürfnis einer Linken, die eine Identifikation mit den Opfern sucht, als
einem linken Ein- und Widerspruch.
Eine Linke, die ihren Namen verdient, sollte sich gegen die brutale Besatzungspolitik
der israelischen Regierung wenden und sich für die legitimen Rechte der PalästinenserInnen
stark machen. Denn es liegt heute primär am israelischen Staat, die Gewalt
im Nahen Osten zu beenden. |
|
|