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Interview mit Mustafa Barghuti
Francesca Marretta Liberazione 23.
März 2006
„Tel Aviv benutzt die neue Regierung als Entschuldigung,
um nicht zu verhandeln“
Mustafa Barghuti ist Mitglied des palästinensischen Gesetzgebenden Rates
und Sekretär der fortschrittlichen Bewegung Al Mubadara. Die erste Frage
an ihn betrifft die Hamas-Regierung.
Wir haben mit der Hamas und auch mit anderen Gruppen verhandelt. Die Hamas akzeptierte
keinen Kompromiss, auch nicht die Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung.
Wir haben vorgeschlagen, eine internationale Friedenskonferenz abzuhalten und
wollten, dass ein Abkommen aller Gruppen über eine nationale Führungsrolle
der PLO getroffen wird. Außerdem ist die soziale Agenda der Hamas nicht
klar. Niemand kann ausschließen, dass sie zu einer Islamisierung der palästinensischen
Gesellschaft drängt. In diesem Moment hätten wir eine Regierung der
nationalen Einheit bilden müssen. Stattdessen ist die Hamas dabei denselben
Fehler zu machen wie die Fatah: Eine Einparteienregierung ohne eine gemeinsame
Basis. Der Punkt, an dem die Möglichkeiten eine Unterstützung der Regierung
auszuhandeln, endgültig scheiterten, war die Ablehnung eines Kabinetts,
das alle Kräfte repräsentiert, die über einige Fragen von entscheidender
Bedeutung zu aktivieren sind.
Viele Palästinenser scheinen über eine Einparteienregierung der Hamas
besorgt zu sein. Warum gab es keine stärkere Unterstützung für
die fortschrittlichen Kräfte, die eine Alternative zur Fatah darstellen?
Wenn man sich die Umfragen bis zwei Tage vor der Wahl anschaut, dann lagen wir
bei zehn bis zwölf Prozent. Am Ende gab es eine Stimmenverschiebung in Richtung
Hamas, um die Fatah abzustrafen. Die Leute dachten nicht, dass die Hamas mit
einem solchen Abstand gewinnen würde. Außerdem haben auch die Medien
die Konkurrenz zwischen diesen beiden Kräften polarisiert. Und schließlich
profitiert die Hamas, dank des sozialen Netzwerkes der Moscheen und starken finanziellen
Unterstützung, von einer weit verzweigten Organisation. Der Westen hingegen
hat immer die Fatah unterstützt, obwohl er wusste, dass sie korrupt war.
Wie wird die Außenpolitik der Palästinenser mit einer von der Hamas
geführten Regierung aussehen?
Das Problem ist nicht die Hamas, sondern Israel. Sie werden die Hamas benutzen,
um ihre einseitige Politik durchzusetzen, deren Endziele die folgenden sind:
vollständige Isolierung Gazas, Annexion Ost-Jerusalems und des Jordan-Tals;
Negation des Rechts auf Selbstbestimmung; und Zerstörung der Zwei-Staaten-Lösung.
Die neuen Projekte zur Erweiterung der Siedlungen in der Zone E1 [Jerusalem]
und der Verlauf der Mauer haben unzusammenhängende Bantustans geschaffen.
Die Hamas an der Regierung war das, worauf Israel gewartet hat: Eine Entschuldigung,
um nicht zu verhandeln. In einem gewissen Sinne sind Israel und die Hamas komplementär.
Ist das [aus den USA, der EU, Russland und der UNO bestehende]
Quartett nach [dem israelischen Angriff am 14. März 2006 auf das Gefängnis
von] Jericho noch ein Verhandlungspartner?
Dieses Quartett gibt es nicht mehr. Genauso wie es die Road Map nicht mehr gibt.
Israel hat sie niemals respektiert noch die Resolutionen der internationalen
Gemeinschaft akzeptiert. Die Politik des Ausbaus der Siedlungen ist der sichtbare
Beweis dafür. Die Road Map sah ihr Einfrieren vor.
Das Quartett scheint auch nicht mehr an der Möglichkeit einer Friedenskonferenz
zu arbeiten und schließlich spricht die Tatsache, dass es das, was in Jericho
geschehen ist, nicht eindeutig verurteilt hat, Bände.
Großbritannien sollte (ebenso wie die USA) die Absichten Israels kennen.
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder haben die Engländer den Israelis
signalisiert, dass sie dort [im Jerichoer Gefängnis als Oberaufseher] verschwinden
oder Israel hat ihnen gesagt, das sie anrücken, um [den dort illegal gefangen
gehaltenen PFLP-Generalsekretär] Ahmed Saadat zu entführen, sie also
dort verschwinden sollten. Großbritannien hat ein Verbrechen unterstützt,
das zum Tod zweier Palästinenser führte. Mit dieser Aktion haben Großbritannien
und die USA ein internationales Abkommen verletzt.
Interessiert die Palästinenser das Ergebnis der israelischen
Wahlen?
Wenn die Arbeitspartei [Avoda] irgendeine Chance hätte, dann vielleicht,
weil sie bereit wären zu verhandeln. Aber Kadima und die anderen Parteien
haben nicht die Absicht. Nicht einmal [der prowestliche Palästinenserpräsident]
Abbas wurde als Verhandlungspartner akzeptiert. Das ist ein weiterer Grund für
den Sieg der Hamas. Ein Jahr nach seiner Wahl hatten die Leute erwartet, dass
sich etwas verbessern würde. Der einzige Ausweg aus der Sackgasse, in der
wir uns befinden, ist den israelisch-palästinensischen Konflikt auf der
Grundlage der internationalen Resolutionen wieder an den Verhandlungstisch zu
bringen. Die unter Verletzung der Abkommen vorgenommenen territorialen Veränderungen
müssen rückgängig zu machen sein. Man muss zu einem Staat Palästina
in den Grenzen von 1967 gelangen. Oslo war eine Illusion.
Der designierte palästinensische Ministerpräsident Hanija (ein Vertreter
der Hamas) hat in einem Interview erklärt, dass er seinem Sohn niemals seinen
Segen geben würde, einen Anschlag zu begehen …
Ich weiß nicht, wie genau das CBS-Zitat war. Aber ich glaube nicht, dass
er irgendeinem Sohn (nicht nur seinem eigenen) seinen Segen hätte geben
müssen, um einen Anschlag zu begehen. Ich bin immer stärker davon überzeugt,
dass der beste Weg, um unser Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit zu
verwirklichen, der gewaltfreie Massenkampf des Volkes ist.
Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen
Klammern:
Antifa-AG der Uni Hannover
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