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„Israel kennt keine Gleichheit“
junge Welt Andrea Bistrich
1. Juli 2006
Gespräch mit Jonathan Cook. Über den jüdischen demokratischen
Staat, der seine palästinensischen Bürger diskrimiert, die Neuerfindung
der Besatzung, die absehbare Kassam-Intifada und die notwendige Überwindung
des Zionismus
Jonathan Cook ist der erste ausländische Korrespondent mit Sitz in der israelisch-arabischen
Stadt Nazareth in der Galiläa-Region. Seit September 2001 berichtet er von
dort aus über den Nahen Osten. Sowohl geographisch als auch journalistisch
gesehen, erlaube ihm diese Position eine größere Freiheit in der Bewertung
der wahren Natur des Konflikts und seiner zugrunde liegenden Ursachen, erklärt
Cook.
Jonathan Cook gründete im Februar 2004 die Nazareth Press Agency. Seine
Artikel werden in zahlreichen Medien veröffentlicht: The Guardian, The Observer,
The Times, Le Monde diplomatique, Al Dschasira, The Daily Star und Al Ahram Weekly.
Bei Pluto Press ist nun sein Buch „Blood and Religion: The Unmasking of
the Jewish and Democratic State“ erschienen. Das Gespräch wurde vor
der israelischen Invasion im Gazastreifen geführt.
Ihr Buch „Blood and Religion: The Unmasking of the Jewish and Democratic
State“, das Sie kürzlich in Großbritannien vorgestellt haben
und das in diesem Monat in den USA erscheint, wird von Nahost-Experten viel gepriesen.
Warum muss der jüdische und demokratische Staat entlarvt werden?
Ich habe das Wort „entlarven“ gewählt, weil das der Begriff
ist, den Ehud Barak nach dem Scheitern der Camp-David-Verhandlungen im Juni 2000
auf Yassir Arafat anwendete. Barak sagte, er hätte den palästinensischen
Führer entlarvt, dass er kein Partner für den Frieden sei. Doch das
Gegenteil war der Fall: Das Scheitern von Camp David und Israels Reaktion während
der zweiten Intifada stellten gerade jene bloß, die wie Barak behaupteten,
Israel sei ein Partner für den Frieden. Der Konflikt zwischen Israel und
den Palästinensern ist solange unüberbrückbar, wie Israels Selbstverständnis
das eines „jüdischen und demokratischen Staates“ ist. Das ist
die Prämisse, auf der mein Buch beruht. Der jüdische und demokratische
Mythos hält die Israelis davon ab, den im Wesentlichen zutiefst undemokratischen
Charakter ihres Staates zu hinterfragen – von Sozialwissenschaftlern
häufig auch als ethnischer Staat oder Ethnokratie bezeichnet – und
davon, eine friedliche Lösung für den Konflikt mit den Palästinensern
zu finden.
Wie demokratisch ist der jüdische Staat wirklich?
Die Idee, dass Israel einfach nur ein jüdischer Staat sei, erzeugt bei den
meisten gebildeten Israelis Missbehagen. Hört es sich doch ein bisschen
zu sehr nach einem „afrikanischen Staat“ oder einem „katholischen
Staat“ an. Daher fügt man dem gerne das Wort „demokratisch“ hinzu,
als eine Art von öffentlicher Aberkennung, ein Dementi sozusagen, dass Israel
nur ein ethnischer oder religiöser Staat sei. Die jüdische und demokratische
Idee ist höchst ausschlaggebend für Israel; sie ist beispielsweise
der zentrale Grundsatz des Grundrechts der Freiheit und Menschenwürde von
1992, eine Art israelische „Bill of Rights“. Dieses Dokument, das
Israel als einen jüdischen und demokratischen Staat definiert, schließt
umgekehrt das Prinzip der Gleichheit aus. Aus diesem Grund glauben die meisten
Israelis, dass der Begriff „Gleichheit“ sich lediglich auf die Juden
in Israel beziehe, und nicht auf die ein Fünftel israelischen Bürger
palästinensischer Herkunft. Diese sind die wenigen Hinterbliebenen einer
palästinensischen Mehrheit, die einst Palästina bewohnte. Zwar haben
sie die Staatsbürgerschaft erhalten, werden aber wie ein Abszess in der
israelischen Gesellschaft behandelt – und häufig auch als „Krebsgeschwür“ bezeichnet.
Israel hat jeden Versuch unterlassen, sie zu integrieren oder anzupassen. Warum?
Weil sie als Nicht-Juden den jüdischen Staat gefährden. Also muss man
sie, nunmehr Pseudobürger, von den anderen trennen und aussondern.
Mit anderen Worten: Das vorrangige Interesse Israels ist keineswegs, möglichst
demokratisch zu sein, sondern möglichst jüdisch zu sein, um welchen
Preis auch immer. Dies bestätigen auch Umfragen unter israelischen Juden,
die zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit die Idee, Israel könnte
ein liberaler demokratischer Staat werden, ablehnt.
Während der israelische Premier Ehud Olmert wiederholt erklärt hatte,
die israelische Regierung werde mit Hamas keine Gespräche führen, gelobte
Verteidigungsminister Amir Peretz kürzlich, dass der jüdische Staat
jede Anstrengung unternehmen werde, um mit den Palästinensern ein Friedensabkommen
auszuhandeln, noch bevor man etwaige unilaterale Schritte zur Festlegung der
Grenzen in der Westbank einleiten würde. Für wie vertrauenswürdig
halten Sie solche Äußerungen?
Peretz ist der Chef der Arbeiterpartei. Sein Job in der Koalitionsregierung besteht
darin, gegenüber den Palästinensern etwas versöhnlicher aufzutreten
als der regierende rechte Flügel. So gesehen tritt Peretz in die Fußstapfen
seines Vorgängers Schimon Peres. Als Parteiführer der Arbeiterpartei
in der vorhergehenden Regierung sprach Peres ständig von Verhandlungen und
Abkommen mit den Palästinensern, wurde dabei aber schlichtweg von Ariel
Scharon ignoriert. Bedenken Sie, dass Peretz in dieser Sache keine Entscheidungen
treffen kann. Die Bedingungen eines Vertrags werden – in Verhandlungen
mit den USA – von Olmert und seinen Militärgenerälen entschieden.
Daher will er freie Hand, um seine wichtigste taktische Initiative, den Konvergenzplan,
umsetzen zu können.
Die Frage geht aber auch von einer falschen Annahme aus. Olmert ist nicht im
Begriff zu entscheiden, wie er künftig am besten vorgehen soll – unilateral
oder multilateral. Er weiß bereits, dass er unilateral vorgehen wird und
sucht nach Möglichkeiten für einen geeigneten Anfang. Die hauptsächliche
potentielle Hürde für den Plan sind nicht die Palästinenser, sondern
die Amerikaner. Dass die Palästinenser seinen Bedingungen nicht zustimmen
werden – es sind nahezu dieselben, mit denen Barak nach Camp David
kam –, weiß Olmert längst. Niemals würden sie der
Annexion Ost-Jerusalems und der heiligen Stätten zustimmen, niemals würden
sie akzeptieren, dass die Siedlungen weiterhin in der Westbank verbleiben und
niemals würden sie einen Staat befürworten, der in eine ganze Reihe
von abgeschlossenen Ghettos zerlegt ist – Gaza, die palästinensischen
Nachbarschaften in Ost-Jerusalem, die drei oder vier Enklaven in der Westbank
und die isolierten palästinensischen Gemeinden in Israel. Aus dieser Perspektive
hat es also überhaupt keinen Zweck, nach einer Einigung zu streben. Was
Olmert braucht und was er scheinbar auch erreicht, ist Amerikas Segen für
diesen Diebstahl palästinensischen Landes und der Zerstörung ihrer
nationalen Ambitionen.
Sie sprechen in Ihrem Buch von der „gläsernen Mauer“.
Was genau meinen Sie damit?
Schon immer hat Israel versucht, Juden und Palästinenser in Israel und den
besetzten Gebieten zu trennen und war lange erfolgreich, diese Trennung vor der
Welt nicht sichtbar werden zu lassen. Die Trennmauern existierten, aber man konnte
sie nicht sehen. Ich nenne das „gläserne Mauer“. In den besetzten
Gebieten beispielsweise lebten jüdische Siedler neben palästinensischen
Gemeinden. Man hätte meinen können, dass sie gewöhnliche Nachbarn
wären. Aber in Wirklichkeit genossen die Siedler alle Vorteile des israelischen
Zivilrechts, sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Israel selbst, während
für die Palästinenser ein weniger gültiges Militärgesetz
vorgesehen war. Die Juden konnten sich im Land unbehindert fortbewegen, Palästinenser
nicht. Die Siedler erhielten Wasservorräte, für Palästinenser
wurde Wasser erheblich rationiert.
Dies alles begann in den späten 1980er Jahren in den besetzten Gebieten
zu bröckeln, als die Palästinenser sich weigerten, ihr Leben und das
Bild der besetzten Gebiete weiterhin von Israel bestimmen zu lassen. Die erste
Intifada zwang Israel dazu, die gläsernen Mauern in solche aus Stahl und
Beton umzuwandeln: Zunächst wurde der Gazastreifen von Israel abgeriegelt
und jetzt geschieht das Gleiche in der Westbank. Das war ein erheblicher Ansehensverlust
für den jüdischen und demokratischen Staat Israel, und die politische
Führung hat sich verzweifelt um Wiederherstellung bemüht. „Convergence“,
Zusammenführung, ist der Schlüssel zum Erfolg. Wenn Israel den Anschein
eines palästinensischen Staates inszenieren kann, ohne dass tatsächlich
ein solcher existiert, dann errichtet es wieder einmal gläserne Mauern und
vertuscht damit die realen Mauern aus Beton und Stahl, die die Westbank und Gaza
abriegeln.
Welche Absichten verfolgt Olmert also mit den angekündigten Zusammenführungsplänen?
Sagen wir es deutlich: Olmert geht es nicht um Rückzug. Im Hebräischen
wird von „hitkansut“ gesprochen. Im Englischen heißt das soviel
wie „convergence“, deutsch: „Zusammenführung“. Es
gibt einige wesentliche Unterschiede zum Rückzug aus dem Gazastreifen im
letzten Jahr. Aus diesem Grund hat Olmert sich auch für einen anderen Begriff
entschieden. Bei diesem Plan geht es im Grunde darum, die israelische jüdische
Bevölkerung überall dort zusammenzuführen, wo sie sich über
vier Dekaden der Besatzung verschanzt hat, einschließlich der Mehrheit
von 430 000 Siedlern, die auf palästinensischem Boden in der Westbank
und in Ost-Jerusalem leben. Beide Gebiete wurden 1967 von Israel besetzt. Nur
eine geringe Anzahl von ihnen – vielleicht 60 000 Siedler, vielleicht
auch weniger – werden umziehen und ihre Häuser verlassen müssen.
Vor allem jene, die in abgelegenen, isolierten Siedlungen leben. Sie werden in
den großen Siedlungsblöcken, jene langen „Finger“, die
tief in die Westbank hineinreichen und diese in voneinander abgetrennte Kantone
oder Ghettos teilen, übergesiedelt.
Darüber hinaus ist die Konsolidierung des Jordantals im Gespräch – jene
lange Flanke der Westbank, die die Grenze zu Jordanien bildet. Falls Israel das
Jordantal in die Zusammenführungspläne einbeziehen sollte, was derzeit
ganz danach aussieht, dann sprechen wir von rund 40 Prozent der Westbank, die
für die Palästinenser unerreichbar werden. Und selbst wenn den Palästinensern
die gesamte Westbank und Gaza zugestanden würde, hätten sie damit doch
nur 22 Prozent ihres ursprünglichen, historischen Heimatlandes. Verabschieden
wir uns daher erst einmal von dem Mythos, Israel ziehe sich aus der Westbank
zurück.
Israel und die internationale Gemeinschaft werden nach der Zusammenführung
behaupten, dass die Besatzung beendet sei. Aber schauen Sie die Fakten an: Wenn
Israel die Ostflanke der Westbank, die lange Grenze zu Jordanien, kontrolliert
und eine Reihe von Siedlungsblöcken hinter einer „Sicherheitsmauer“,
die die Westbank an ihrer westlichen Flanke in wenigstens drei strategische Punkte
zerlegt, wie sollte man da von einem Ende der Besatzung sprechen? Wer wird die
Grenzen kontrollieren und die Bewegungen außerhalb und zwischen diesen
Kantonen? Israel, das zweifellos auch die Checkpoints und Grenzkontrollsysteme,
die es in den 1990er Jahren entwickelt hat, weiter betreiben wird. Wer wird die
knappen Wasserressourcen kontrollieren? Israel, denn die Siedlerblöcke sind über
den Hauptgrundwasserleitungen errichtet. Wer wird solche Leistungen wie die Elektrizität-
und Wasserversorgung bereitstellen? Israel, das die Versorgung und Einbehaltung
dieser Dienste als Form einer kollektiven Bestrafung regulieren kann. Wer wird
den Luftraum kontrollieren, einschließlich der Flüge in und aus der
Westbank? Wieder Israel, das auch die Radiofrequenzen kontrolliert. Und natürlich
werden die Palästinenser keine eigene Armee haben können. Wir sprechen
hier also von einer Wiedererfindung der Besatzung. Es ist wie mit einem Gefängnis,
das aufgrund von technologischen Entwicklungen keine leibhaftigen Wächter
mehr benötigt. Stattdessen bewachen Kameras die Eingänge der Zellen,
und Roboter bringen den Häftlingen das Essen. Würden wir deshalb behaupten,
dass eine solche Einrichtung kein Gefängnis mehr sei?
Israelische Friedensaktivisten wie Jeff Halper vom israelischen
Komitee gegen den Häuserabriss haben die „Zwei-Staaten-Lösung“ inzwischen
für politisch tot erklärt. Würden Sie diese Einschätzung
als zu pessimistisch bewerten?
Nein, ganz und gar nicht. Die „Zwei-Staaten-Lösung“ war vor
Jahren schon tot. Nur hat das die internationale Gemeinschaft nicht erkannt oder
war zu ängstlich, es einzugestehen. Es gibt klare Gründe, warum Israel
sich vor einer Zwei-Staaten-Lösung fürchtet. Man erinnere sich, dass
Barak und Scharon grundlegend gegen die Oslo-Vereinbarungen waren, weil sie diese
unter der Regierung von Yassir Arafat und der palästinensischen Autonomiebehörde
als Möglichkeit für einen proto-palästinensischen Staat in der
Westbank und in Gaza sahen. Sie befürchteten, dass die palästinensische
Führung ihre Rechte nicht nur im palästinensischen Staat, sondern auch
in Israel geltend machen könnte, mit Hilfe der „subversiven palästinensischen
Bürger Israels“.
Es gab bereits unzählige Ansätze und Vereinbarungen zur Beendigung
des Konflikts. Aber alle sind fehlgeschlagen. Was sind die Gründe für
das permanente Scheitern?
Der Grund für das permanente Scheitern liegt in der Annahme, dass Israel
mit gutem Willen in den Friedensverhandlungen agiert. Aber wie ich bereits erklärte,
ist das nicht der Fall. Israel will keinen palästinensischen Staat und jede
Vereinbarung, die in dieser Hinsicht Vorbedingungen setzt, wie beispielsweise
die Roadmap, wird Israel entweder ablehnen oder manipulieren, so dass die Abmachung
praktisch wertlos wird.
Letztendlich, so lautet Ihre Prognose, wird es in absehbarer
Zeit eine dritte, „weitaus
tödlichere Intifada“ geben.
Vladimir Jabotinsky, der frühe Führer des revisionistischen Zionismus,
prägte den Begriff der „eisernen Mauer“, womit die unermüdliche
Ausübung von Druck auf die palästinensische Bevölkerung gemeint
war, von der er annahm, dass sie sich niemals der nationalen Enteignung und Versklavung
unterwerfen würde. Er hatte Recht, die Palästinenser würden sich
nicht freiwillig beugen. Aber er war zu optimistisch, was die einfache Ausübung
von Druckmitteln betraf. Man kann die Leute nicht erst bestehlen und sie wegsperren,
wenn sie ihr Eigentum zurückverlangen – und dabei noch erwarten,
dass sie sich für immer still verhalten. Israel kann die Palästinenser
in Ghettos sperren, aber das wird sie nicht auf ewig im Zaum halten. Früher
oder später werden sie einen Weg finden, zurückzuschlagen, auch hinter
ihren Mauern. Ich denke, dass die nächste Intifada die „Kassam-Intifada“ genannt
wird – nach den selbstgebauten Raketen, die die Palästinenser
aus dem Gazastreifen abfeuern, um damit israelische Häuser zu treffen. Wir
werden künftig mehr dieser Art Widerstand zu sehen bekommen.
Was wären die Voraussetzungen auf beiden Seiten zur Beendigung des Konflikts
und für einen gerechten und dauerhaften Frieden?
Um ganz ehrlich zu sein: nichts weniger als die Abschaffung des Zionismus als
Israels nationaler Ideologie. Ein zionistischer Staat, der sich dem Frieden mit
den Palästinensern verpflichtet, ist unter den gegenwärtigen Umständen
genauso undenkbar wie ein südafrikanisches Apartheidregime, das sich um
ein friedliches Zusammenleben mit der einheimischen schwarzen Bevölkerung
bemüht. Vielleicht wäre der Zionismus zu einem früheren Zeitpunkt
durchaus fähig dazu gewesen, aber der heutige jüdische Staat ist nicht
in der Lage, ein Friedensabkommen mit den Palästinensern auszuhandeln, nicht
bevor er den Zionismus aufgibt oder zur Aufgabe gezwungen wird.
Das Gespräch führte Andrea Bistrich
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