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Noch einmal über die Besatzungsideologie
Ran Ha Cohen ZNet Deutschland 26. Juni 2006


Die Geschichte der Besatzung ist nicht nur eine über das palästinensische Leiden und die israelische Aggression; sie ist auch eine Geschichte der Ideologie, die Geschichte von Fiktionen, die die israelische Gesellschaft fabriziert, um ihr Kolonial-Projekt zu rechtfertigen, dass gerade seinen 40. Jahrestag feiert. Diese Fiktionen haben ein Geschichte: man kann ihre Karriere von Geburt bis zur Reife verfolgen, ihre Verlagerung vom Rand ins Zentrum und umgekehrt, ihren Aufstieg und Fall unter bestimmten Teilen der israelischen Gesellschaft oder Medien, zuweilen ihren (umkehrbaren) Tod.

Vor ein paar Jahren widmete ich zwei Zeitungsspalten der Ideologie der Besatzung, indem ich einer heiklen Zusammenfassung folgte, die ein israelischer Siedler gegeben hatte. Die meisten dieser Argumente sind heute noch auf dem Markt. Man kann heute noch Israelis hören, die die Besatzung wegerklären, indem sie auf die Zurückweisung des Teilungsplanes durch die Palästinenser vor 60 Jahren hinweisen. Auch darauf, dass „sie uns alle in Meer werfen wollen“, eine Fortsetzung der Pessach-Agenda („in jeder Generation wollen sie uns vernichten“) bis zur augenblicklichen politischen Anwendung der Hamas-Charta. Aber einiges hat sich geändert. Wenn man heute einen Israeli über die Besatzung fragt, was wird er dann antworten?

Die Orthodoxen und Hardliners vom rechten Flügel (Likud und weiter rechts) werden wahrscheinlich mit traditionelleren Argumenten kommen: „Es ist alles unser Land ...“ Wenn man aber zu einem Mainstreamer kommt – einem von denen, die sich selbst als „moderate vom rechten Flügel ansehen“, Zentrum oder Linke (die Termini sind fast synonym im gegenwärtigen israelischen Diskurs),Wähler von Kadima, Labor oder Meretz – dann wird man folgendes hören: „Die Besatzung ist beendet!“

Fast alle Israelis glauben, dass die Besatzung des Gazastreifens zu Ende ist. Die Palästinenser sind jetzt dort frei; sie können ihr Leben gestalten, wie sie wollen. Und Israel hat nichts damit zu tun. Sie stellen sich ein ähnliches Szenario für die Westbank vor, wie es schon hinter der Mauer realisiert wurde oder bald realisiert werden wird.

Diese Fiktion ist seit dem Rückzug aus dem Gazastreifen im letzten Sommer populär geworden, aber ihre Wurzeln gehen bis in die Oslo-Jahre zurück, als besonders die zionistische Linke (Yossi Sarid unter anderem) den Mythos kultivierten, dass ein palästinensischer Staat im Grunde schon existieren würde oder im Begriff wäre innerhalb von 14 Tagen aufzutauchen – nicht später als 1998, wie die Oslo-Abkommen festgelegt hatten. Man erinnere sich auch an die von Bush gebrochenen Fristen). Tatsächlich stellt diese Fiktion einen ernsten Wunsch der Leugnung dar: da der liberale Israeli weiß, dass die Besatzung nicht auf ewig mit Demokratie und Gerechtigkeit zusammen bestehen kann, sollte die Besatzung verschwinden – aber auf virtuelle Weise, indem man sie einfach leugnet. Auf einer anderen Ebene glauben viele israelische Liberale, Araber könnten nicht mit Kultur und Moderne zusammengehen – also wird ihre Existenz geleugnet, virtuell und tatsächlich, indem man die unerwünschten Nachbarn hinter eine große Mauer wegsperrt und alles über sie vergisst. Dies klingt dann wie eine ziemlich gute Lösung.

„Wir sind hier – sie sind dort“, sagt der Gefängniswärter. „Wir sind hier, sie dort“, war Ehud Baraks raffinierter „Friedens-Slogan“. Die tatsächlichen Machtbeziehungen zwischen „hier“ und „dort“ müssen dabei geleugnet werden; in der Tat werden die Israelis nur durch den palästinensischen gewalttätigen Widerstand an diese Machtstrukturen erinnert. Gäbe es diesen „Terrorismus“ nicht, (ein Terminus der unterschiedslos für legitime und illegitime palästinensische Gewalt benützt wird), dann würden die Israelis jetzt alles über ihre eingeschlossenen Nachbarn vergessen. Dem gemäß werden die hartnäckigen, selbst gebauten Qassamraketen, die die israelische Stadt Sderot terrorisieren, als typische arabische Undankbarkeit aufgefasst, ja, als schändliche Undankbarkeit für das große Geschenk, das Israel den Palästinensern dargeboten habe, als es sich aus dem Gazastreifen zurückgezogen habe und damit angeblich ihre Freiheit, Ehre und Wohlbefinden wieder hergestellt habe.

Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Nachdem die Siedler aus dem Gazastreifen abgezogen worden waren, verhängte Israel über den kleinen Landstreifen eine totale Belagerung: die 1,5 Millionen eingesperrten Palästinenser hatten keinen Zugang zum Meer (Israel erlaubte keinen Hafenbau), keinen Zugang über die Luft (Israel zerstörte den Flughafen von Gaza) und alle Übergänge sind unter israelischer Kontrolle (und praktisch die meiste Zeit geschlossen).

Seit dem Hamas-Sieg bei den Wahlen im Januar 2006 hat Israel und die Internationale Gemeinschaft eine wirtschaftliche Belagerung über den Gazastreifen verhängt und die finanziellen Verpflichtungen mit der Palästinensischen Behörde gekappt. Um die Angestellten der Behörde zu bezahlen, muss Bargeld eingeschmuggelt werden. Israels „Sicherheitssystem“ – die leibhaftige Besatzung – ist es, die entscheidet, ob Menschen in Gaza Mehl, Medizin oder andere Waren erhalten – wann und wie viel.

Während diese wirtschaftliche und physische Belagerung aus der Luft, vom Meer und zu Land verhängt wurde und während Gaza täglich mit Granaten, durch die Artillerie und von See her bombardiert wird, können Mitte-Links-Israelis sagen, dass „Israel den Gazastreifen verlassen hat. Die Palästinenser können nun endlich den Gazastreifen wieder aufbauen, Häuser für die Flüchtlinge bauen , zu Investments ermutigen und Arbeitsplätze schaffen, die Menschen in Gaza könnten jetzt wieder wie Menschen leben“. (Zitiert aus einem Brief an die ausgezeichnete hebräische Website Ha’okets). Die Situation in der Westbank ist nicht viel anders. Dort sind die Palästinenser in kleinere Käfige gesperrt als im Gazastreifen, die Belagerung ist nicht ganz so hermetisch. Während die Palästinenser hinter hohe Mauern gesperrt werden, mit einem satanischen System von Straßensperren und Passierscheinen, durch Straßen „Nur für Juden“ und Siedlungen zerteilt, Tag und Nacht durch Armeeüberfälle auf ihre Dörfer, Häuser und Schlafzimmer schikaniert, glauben viele Israelis, die Besatzung ziehe sich zurück, und ihr Ende sei nur eine Zeitfrage oder gar eine Frage der Semantik.

Leider verschwindet Kolonisierung nicht dadurch, dass man sie leugnet. Tatsächlich ist die israelische Besatzung auf ihrem Höhepunkt, schlimmer al je zuvor. Nichts macht dies deutlicher als die Diskussion über „gibt es eine humanitäre Krisis in Palästina oder nicht, das einmal ein „Land von Milch und Honig“ war.


Apropos

Haaretz berichtete am Dienstag, dass die Knesset eine neue Gesetzesvorlage debattiert, die von führenden Juristen hart kritisiert wird; sie würde es ermöglichen, die Untersuchungshaft einer Verdachtsperson zu verlängern, ohne dass sie im Gericht anwesend ist und verhindern, dass sie ihren Anwalt innerhalb von 30 Tagen sieht. Die Gesetzesvorlage wurde vom Justizministerium vorgelegt und vom Shin Beth-Sicherheitsdienst befürwortet.

Falls man sich fragt, warum auf einmal solch eine Gesetzesvorlage nötig ist oder wer diese „Verdächtigen“ sein mögen, der muss zunächst hebräisch lernen. Die Haaretz-Version in dieser Sprache erklärt: „Bis zum Ende des Militärregimes im Gazastreifen hatten die Untersuchungsbehörden weiter reichende Befugnisse als jene, die durch das Verhaftungsgesetz gewährt wurde. Jetzt wo das Militärregime in Gaza beendet ist, ist ein neues Gesetz nötig, um den Sicherheitsdiensten mehr Durchsetzungskraft/ Ermächtigung zu geben.“ Ein paar Tage nach dieser Debatte – als ob man die Ansicht durchsetzen wolle – drang die israelische Armee (das erste Mal nach dem Rückzug) in den Gazastreifen ein und entführte – „verhaftete“ – zwei Palästinenser. Die Besatzung ist vorüber – lang lebe die Besatzung.


Dr. Ran HaCohen wurde 1964 in den Niederlanden geboren und wuchs in Israel auf. Er hat ein BA in Computerwissenschaften, ein MA in vergleichender Literatur und seinen PhD in Jüdischen Studien. Er ist Universitätsprofessor in Israel und schreibt für die israelische Zeitung Yedioth Achronot. Dieser Artikel erschien zuerst bei Antiwar.com und wurde mit der Erlaubnis des Autors veröffentlicht.
 26. Juni 2006