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Das eigentliche Ziel
Uri Avnery
15. Juli 2006
Das eigentliche Ziel ist es, das Regime im Libanon zu stürzen und eine Marionetten-Regierung
einzusetzen.
Dies war schon Ariel Sharons Ziel bei der Invasion des Libanon 1982. Es ist ihm
nicht gelungen. Aber Sharon und seine militärischen und politischen Elitezöglinge
haben dies nie wirklich aufgegeben.
Genau wie 1982 wurde auch die jetzige Operation in vollständiger Koordination
mit der USA geplant und ausgeführt.
Wie damals geschieht dies auch jetzt in Übereinstimmung mit einem Teil der
libanesischen Elite. Das ist die Hauptsache. Alles andere ist Lärm und Propaganda.
Am Vorabend der Invasion von 1982 sagte der Außenminister der USA Alexander
Haig zu Ariel Sharon, bevor die Invasion anfange, sei eine „klare Provokation“ notwendig,
um die nötige Akzeptanz in der Weltöffentlichkeit zu schaffen.
Die Provokation fand tatsächlich statt – genau zum richtigen
Zeitpunkt – als Abu-Nidals Terrorbande versuchte, den israelischen
Botschafter in London zu ermorden. Dies hatte zwar keine Verbindung mit dem Libanon
und noch weniger mit der PLO (sie war ein Feind Abu Nidals), aber es genügte,
als die Provokation zu dienen, auf die man gewartet hatte.
Dieses Mal ist die nötige Provokation durch die Gefangennahme zweier israelischer
Soldaten durch die Hisbollah geliefert worden. Jeder weiß, dass sie nicht
anders als durch Gefangenenaustausch befreit werden können. Aber die große
Militärkampagne, die seit Monaten vorbereitet war, wurde der israelischen
und internationalen Öffentlichkeit als Rettungsmaßnahme verkauft.
(Seltsam genug geschah dasselbe zwei Wochen vorher im Gazastreifen. Hamas und
seine Partner nahmen einen Soldaten gefangen – dies war dann die Rechtfertigung
für eine massive Operation, die seit langem vorbereitet war, und deren Ziel
es ist, die palästinensische Regierung zu demolieren.)
Das erklärte Ziel der Libanon-Operation ist es, die Hisbollah von der Grenze
zu vertreiben, um es ihr zu verunmöglichen, weitere Soldaten gefangen zu
nehmen und Raketen auf israelische Städte abzufeuern. Die Invasion in den
Gazastreifen zielt offiziell auch darauf ab, Sderot und Ashkelon aus der Schussweite
der Qassams zu bringen.
Das erinnert an die „Operation Frieden für Galiläa“, 1982.
Damals wurde der israelischen Öffentlichkeit und der Knesset erklärt,
das Kriegziel sei, die Katjuschas 40 Kilometer weg ins Landesinnere abzudrängen.
Das war eine bewusste Lüge; denn elf Monate lang war vor dem Krieg keine
einzige Katjuscha-Rakete (noch ein einziger Schuss) über die Grenze geschossen
worden. Von Anfang an war es das Ziel der Operation, Beirut zu erreichen und
dort einen Quisling-Diktator einzusetzen. Wie ich es mehr als einmal erzählt
habe, hat mir Sharon selbst dies so neun Monate vor dem Krieg erzählt, und
ich habe es damals entsprechend mit seinem Einverständnis veröffentlicht
(ohne ihn direkt zu zitieren).
Natürlich hat die jetzige Operation auch verschiedene sekundäre Ziele – und
diese schließen die Befreiung der Gefangnen nicht mit ein. Jeder normale
Mensch weiß, dass dies nicht mit militärischen Mitteln erreicht werden
kann. Aber wahrscheinlich ist es möglich, einige der Tausende von Raketen
und Katjuschas, die die Hisbollah während der letzten Jahre gehortet hat,
zu zerstören. Für dieses Ziel sind die Armeechefs bereit, die Bewohner
von israelischen Städten zu gefährden, die den Raketen ausgesetzt sind.
Sie glauben, das lohne sich, wie ein Austausch von Schachfiguren.
Ein anderes sekundäres Ziel ist es, die Abschreckungsmacht der Armee wieder
herzustellen Das ist ein Codewort, um auch den verletzten Stolz der Armee zu
rehabilitieren, der durch die gewagten Aktionen der Hamas im Süden und der
Hisbollah im Norden schwer gelitten hat.
Offiziell verlangt die israelische Regierung, dass die Regierung des Libanon
die Hisbollah entwaffnet und sie aus dem Grenzgebiet entfernt.
Das ist unter der augenblicklichen Regierung – einem empfindlichen
Gefüge ethno-religiöser Gemeinschaften – ziemlich unmöglich.
Die leichteste Erschütterung könnte das ganze Gebäude zum Einsturz
bringen und den Staat in vollkommene Anarchie stürzen – besonders
nachdem es den Amerikanern gelang, die syrische Armee zu vertreiben, mithin das
einzige Element, dass jahrelang für einige Stabilität gesorgt hatte.
Die Idee, im Libanon eine Quisling-Regierung zu installieren, ist nicht neu.
Schon 1955 schlug Ben Gurion vor, einen „christlichen Offizier“ zu
nehmen und ihn als Diktator einzusetzen. Moshe Sharett zeigte auf, dass diese
Idee sich auf völlige Ignoranz der libanesischen Verhältnisse gründete
und vereitelte dies. Aber 27 Jahre später versuchte Ariel Sharon dies trotzdem,
in die Tat umzusetzen. Bashir Gemayel wurde tatsächlich als Präsident
ins Amt gehievt, um kurz darauf ermordet zu werden. Sein Bruder Amin folgte ihm
und unterzeichnete mit Israel einen Friedensvertrag, wurde aber aus dem Amt vertrieben.
(Genau dieser Bruder unterstützt jetzt öffentlich die israelische Operation).
Nun kalkuliert man, dass wenn die israelische Luftwaffe genügend schwere
Schläge gegen die libanesische Bevölkerung austeilt und dabei die See-
und Flughäfen lahm legt, die Infrastruktur zerstört, die Wohnviertel
bombardiert, die Schnellstraße Beirut-Damaskus unterbricht, dann würde
die Öffentlichkeit auf die Hisbollah wütend werden und die libanesische
Regierung unter Druck setzen, dass sie Israels Forderungen erfüllt. Da die
gegenwärtige Regierung nicht einmal davon träumen kann, dies zu tun,
würde dann die Einsetzung eines Diktators durch Israel erfolgen.
Das ist militärische Logik. Ich habe meine Zweifel daran. Man kann eher
vermuten, dass der größte Teil der Libanesen wie jedes andere Volk
auf der Welt reagieren wird: mit Zorn und Hass gegen die Invasoren. So geschah
es 1982 als die Schiiten im Süden des Libanon – bis dahin so
gefügig wie ein Fußabstreifer – sich gegen die israelischen
Besatzer erhoben und die Hisbollah gründeten, die die stärkste Kraft
des Landes wurde. Wenn die libanesische Elite sich nun als Kollaborateure Israels
erweisen sollte, wird sie von der Landkarte gefegt. (Übrigens: haben denn
die Qassams und Katjuschas die israelische Bevölkerung dazu gebracht, auf
ihre Regierung Druck auszuüben, damit sie aufgibt? Im Gegenteil.)
Die amerikanische Politik ist voller Widersprüche. Präsident Bush wünscht
im ganzen Nahen Osten „Regimewechsel“. Das gegenwärtige libanesische
Regime ist aber erst kürzlich von den Amerikanern eingesetzt worden. Mittlerweile
ist es Bush nur gelungen, den Irak zu zerbrechen und dort einen Bürgerkrieg
zu verursachen, (wie es von uns hier vorausgesagt wurde). Er könnte dasselbe
im Libanon veranlassen, wenn er nicht beizeiten die israelische Armee stoppt.
Außerdem könnte ein vernichtender Schlag gegen die Hisbollah nicht
nur die Wut des Iran anheizen, sondern auch unter den Schiiten im Irak, auf deren
Unterstützung sich Bushs Pläne eines pro-amerikanischen Regimes gründen.
Wie sollte also die Antwort lauten? Nicht zufällig hat die Hisbollah den Überfall
mitsamt Soldatenentführung zu einem Zeitpunkt durchgeführt, als die
Palästinenser um Beistand riefen. Die palästinensische Sache ist in
der ganzen arabischen Welt populär. Indem sie ihnen zeigt, dass sie ein
Freund auch in der Not sind, wenn alle anderen Araber so schmählich versagen,
hofft die Hisbollah ihre Popularität zu vergrößern. Wenn jetzt
schon ein israelisch-palästinensisches Abkommen erreicht worden wäre,
dann wäre die Hisbollah nur mehr ein lokales libanesisches Phänomen,
ohne Einfluss auf unsere Situation.
Weniger als drei Monate nach der Bildung der Olmert-Peretz-Regierung ist es ihr
gelungen, Israel in einen Zwei-Frontenkrieg zu ziehen, dessen Ziele unrealistisch
und dessen Folgen nicht abzusehen sind.
Wenn Olmert hofft, als „Mister Macho-Macho“, als Sharon II, angesehen
zu werden, dann wird er enttäuscht werden. Dasselbe gilt für den verzweifelten
Versuch von Peretz, als imponierender „Mister Sicherheit“ ernst genommen
zu werden. Jeder hat begriffen, dass diese Operationen – im Gazastreifen
genau so wie die im Libanon – längst von der Armee geplant und
diktiert worden waren. Der Mann, der jetzt in Israel die Entscheidungen fällt,
ist Dan Halutz. Nicht zufällig wurde der „Job“ im Libanon der
Luftwaffe zugeteilt.
Die israelische Öffentlichkeit ist vom Krieg gar nicht begeistert. Sie hat
sich mit stoischem Fatalismus damit abgefunden, weil man ihr erzählt hat,
es gebe keine Alternative: und, in der Tat, wer könnte gegen ihn sein? Wer
möchte nicht, dass die „entführten Soldaten“ befreit werden?
Wer möchte nicht, dass die Katjuschas entfernt werden und die Abschreckung
wieder funktioniert? Kein Politiker wagt es, die Operation in Frage zu stellen,
(außer den arabischen Knessetmitgliedern, die von der jüdischen Öffentlichkeit
ignoriert werden). In den Medien herrschen die Generäle – und
nicht nur die in Uniform. Es gibt fast keinen früheren General, der nicht
von den Medien eingeladen wird, um zu kommentieren, zu erklären und zu rechtfertigen – und
alle sprechen mit einer Stimme.
(Als kleine Illustration: Israels bedeutendster Fernsehsender lud mich zu einem
Interview über den Krieg ein, nachdem bekannt geworden war, dass ich an
einer Anti-Kriegs-Demonstration teilgenommen hatte. Ich war ziemlich überrascht.
Aber nicht lange – eine Stunde vor der Sendung, rief ein sich entschuldigender
Talkshowmaster an und sagte, es hätte sich ein schrecklicher Fehler eingeschlichen – in
Wirklichkeit wollte man Professor Shlomo Avinery, den früheren Generaldirektor
des Außenministeriums einladen. Auf ihn kann man zählen, wenn es darum
geht, eine Handlung der Regierung mit abgehobener akademischer Sprache zu rechtfertigen – ganz
gleich, um welche es sich handelt.)
„Inter arma silent musae“ – „wenn die Waffen sprechen,
schweigen die Musen“ heißt ein altes Sprichwort. Hier passt eher:
Wenn die Kanonen donnern, hört das Gehirn auf zu arbeiten.
Nur noch ein kleiner Gedanke: Als der Staat Israel in der Mitte eines grausamen
Krieges gegründet wurde, waren die Wände mit Plakaten zugepflastert,
auf denen folgendes zu lesen war: „Das ganze Land – eine Front,
das ganze Volk – eine Armee!“
Seitdem sind 58 Jahre vergangen, doch der Slogan ist noch genau so gültig
wie damals. Was sagt das über die Generationen von Staatsmännern und
Generälen aus?
Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser autorisiert |
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