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Die Rakete des UN-Sanitäters
Klaus Polkehn junge Welt 26. Oktober 2004


Um die seit Jahren sich steigernde Brutalisierung und Repression der Besatzung zu rechtfertigen, die auch vor westlichen Journalisten, Augenzeugen aus dem Ausland und allzu hilfsbereiten UNO-Mitarbeitern nicht ganz halt macht, erhebt die israelische Öffentlichkeitsarbeit bisweilen abenteuerliche Anschuldigungen:


Mit einer PR-Kampagne versuchte Israel, der Kritik am Vorgehen im Gazastreifen zu begegnen – in Deutschland nicht ohne Erfolg

Am 29. September hatte die israelische Armee im Norden des Gazastreifens ihre „Operation Tage der Buße“ eröffnet. Am Abend des 1. Oktober dann konnte man auf den hiesigen Bildschirmen, sei es ZDF-Heute oder ARD-Tagesschau, den graugrünen Film sehen, aufgenommen aus der Luft:

Zwei Männer, die zwei Ambulanzwagen verlassen, ein Mann trägt ein „Objekt“, er rennt damit zum Wagen, wirft es hinein. Auf dem Dach des Transporters klar zu lesen: „UN“. Dazu aus dem Off die Stimmen der hiesigen Nachrichtensprecher: Die Israelis erklärten zu dem Film, er beweise, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk UNRWA in Gaza mit den Terroristen unter einer Decke stecke. Fahrzeuge der Vereinten Nationen würden die für den Abschuss auf Israel vorgesehenen Kassam-Raketen transportieren.

Was der deutsche Fernsehzuschauer (noch) nicht wusste: Am Abend des 30. September hatte Premier Ariel Scharon bei einer Sitzung seines Sicherheitskabinetts die israelischen Sicherheitsdienste angewiesen, die Luftwaffe und andere Dienste sollten „Luftaufnahmen freigeben und den Medien zugänglich machen“. Israel eröffnete am 1. Oktober „eine Public-Relations-Kampagne, um der erwarteten internationalen Kritik an den jüngsten militärischen Operationen im nördlichen Gazastreifen entgegenzutreten“, so die Jerusalem Post (3. Oktober). Am 1. Oktober hatte übrigens UNRWA gegen die Behinderung bei der Verteilung von Lebensmitteln im Gazastreifen durch Israel protestiert. Da passten die Filmaufnahmen am Abend wie die Faust aufs Auge.

Am 3. Oktober gab UNRWA in Gaza eine Pressekonferenz – wie so oft war dies kein Thema für deutsche Medien. Dort meldete sich der Sanitäter Wahel Ghabajen, 38 Jahre alt, zu Wort. Er sei der Mann in dem Film. Am 1. Oktober sei er informiert worden, im Flüchtlingslager Dschabalija gebe es einen Verletzten. Als er dort mit seinem UN-Fahrzeug ankam, stellte sich heraus, dass bereits ein anderer Sanitäter den Verletzten geborgen hatte. „Also ging ich mit der Krankentrage zum Wagen zurück“, sagte Ghabajen, „klappte sie zusammen und warf sie hinten in den Wagen“. Genau diesen Moment zeigte der Film. „Wenn es eine Rakete gewesen wäre, hätte ich sie nicht hineingeworfen, sondern wäre etwas vorsichtiger damit umgegangen“, sagte Ghabayen laut Jerusalem Post (4. Oktober).

Zuvor hatte UNRWA-Kommissar Peter Hansen erläutert, in dem Film sehe man einen Mann rennen, der ein Objekt trägt, das offensichtlich nur wenige Kilo wiegt. Eine Kassam-Rakete wiegt an die 50 Kilogramm. Hansen: „Nicht einmal Goliath hätte mit einer solchen Rakete rennen können.“

Israelische Sicherheitsbeamte erklärten indes am 3. Oktober auf einer Pressekonferenz, es gebe „keinen Zweifel“, dass der Mann eine Kassam-Rakete getragen habe. „Wenn es irgendwelche Zweifel gibt, betreffen sie das Fahrzeug, ob es nämlich ein authentisches UN-Fahrzeug war oder ein von Terroristen getarntes Fahrzeug (Jerusalem Post, 4. Oktober). UNRWA-Kommissar Peter Hansen hingegen: Es ist nicht das erste Mal, dass Israel gegen UNRWA Fälschungen auffährt, „beispielsweise erklärten vor einigen Monaten zwei Minister öffentlich, dass UNRWA-Ambulanzen Körperteile gefallener israelischer Soldaten abtransportiert hätten“. Auch in dem Falle hätten Untersuchungen ergeben, „dass daran nichts Wahres war“. Ha’aretz zitierte am 4. Oktober den israelischen UN-Botschafter Dan Gillermann: „Peter Hansens Register ist hinsichtlich des Abstreitens armselig. Ich könnte erwarten, dass sich jemand in seiner Position verantwortlicher verhält. Militärexperten bestätigen, dass man sehr klar sehen kann, dass es sich um eine Rakete handelt.“

Was fand sich am 6. Oktober in den Medien? Die Zeitungen in Deutschland informierten, dass Gillermann auf seiner Position beharre. Ha’aretz teilte da bereits mit, die israelische Armee gebe zu, „dass Geheimdienstexperten über die Identität des Objekts geteilter Meinung sind“: „Eine erneute Untersuchung bestätigt, dass es Zweifel unter den Analysten darüber gibt, worum es sich handelt. Die Debatte dauert bis zu diesem Augenblick an.“ An diesem Tag druckte Ha’aretz ein Interview mit Peter Hansen. Der sagte: Der ganze Vorgang „spiegelt ein typisches Strickmuster des israelischen Verhaltens gegenüber der UNO wider – rüde Anklagen ohne Grundlage in den Fakten, die schließlich im Sande verlaufen, ohne dass Israel sich je darum kümmert, sich zu entschuldigen.“ Ha’aretz nannte die ganze Geschichte ein „PR-Desaster“ für Israel.

Die Jerusalem Post berichtete am 6. Oktober ausführlich über eine Pressekonferenz in Tel Aviv, wo sich der Operationschef der Luftwaffe, Generalmajor Yisrael Ziv, zu dem Vorgang äußerte. Die Zeitung meinte, „es bleiben Zweifel“. Der General räumte ein: „Es könnte eine Krankentrage gewesen sein.“ Dann aber sagte er: „Ich schlage vor, wir beschäftigen uns nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Kontext. Die Vereinten Nationen bieten Kämpfern, die Bomben legen, Deckung.“

Am 7. Oktober erfuhren die deutschen Zeitungsleser – zumindest in einigen Blättern – in einer kurzen versteckten Meldung, Israel räume ein, es habe sich in der Tat um eine Krankentrage und nicht um eine Rakete gehandelt. Die Fernsehzuschauer, die am 1. Oktober die erschreckenden und eindrucksvollen Filmaufnahmen gesehen hatten, wurden nicht über das Dementi informiert.
 26. Oktober 2004