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Rassistische Attacken vor der WM:
Schreibtischtäter und ihre Neonazis
Plataforma Berlin Erschienen
in der Broschüre „Break the silence – Initiative in Gedenken
an Oury Jalloh“ 30.
Mai 2006
Kurz vor der Fußball-Weltmeisterschaft entfacht in Deutschland, das „die
Welt“ als „Gast bei Freunden“ erwartet, wiedermal eine mediale
Empörung über rechtsextreme Gewalt. Einige Fälle von hunderten
rassistischen Angriffen, die bisher vielleicht nur eine kleine Meldung Wert waren,
füllen auf einmal die Schlagzeilen. Die Brutalität und die menschenverachtende
Dimension der Neonazi-Gewalttaten werden vor Augen geführt.
Das Bildungsbürgertum, die Politiker und die Wirtschaft sind „besorgt“.
In der Christiansen-Sendung vom 21. Mai sagt Platzeck (Ministerpräsident
von Brandenburg) „jetzt benimm dich“, weil „Die Welt zu Gast
bei Freunden ist“. Auch der populistische Scharfmacher Beckstein (Innenminister
von Bayern) duldet angeblich keine rechte Gewalt. Er besitz aber im gleichen
Moment die Frechheit zu sagen: „Ein Türke lebt in München im
Zweifel sicherer als in Ankara oder Istanbul“.
Andererseits darf das volle Ausmaß der Wahrheit das Bild Deutschlands nicht
trüben. Die Warnungen des Ex-Regierungssprecher (Heye) vor den Gefahren
rechtsextremistischer Gewalt in „No-Go Areas“ („weil sie diese
möglicherweise nicht wieder lebend verlassen“) wurden mit „Entgleisung“ und „unglaubliche
Pauschalisierung“ klein geredet. Die einzige Sorge ist nicht, dass „anders
aussehende“ Menschen um ihr Leben fürchten, sondern, dass solche
Warnungen Gäste abschrecken und wirtschaftlichen Schaden anrichten. Immer
wenn Gewalttaten der Neonazis auf der Tagesordnung der Medien stehen, wie Anfang
der 90er oder Ende der 90er, wird eine Welle der „Empörung“ und
der „Betroffenheit“ ausgelöst, als ob plötzlich eine „Katastrophe“ das
Land heimgesucht hätte. Im Grunde geht es um nichts anderes als die Empörung über
den Imageschaden für Deutschland. Denn ein menschenwürdiges Leben der
MigrantInnen und Flüchtlinge war niemals ein Anliegen dieses Landes. Das
Gegenteil war und ist der Inhalt der MigrantInnen- und Flüchtlingspolitik.
Nicht die Täter der über 130 Tote und tausender Angriffe auf Leib und
Seele seit der deutschen „Wiedervereinigung“, sondern die Schreibtischtäter
in der Politik, Wirtschaft und Medien sind der Kern des Übels. Nicht erst
seit dem Mordversuch an dem 37-jährigen Ernyas M. aus Äthiopien am
16. April in Potsdam oder dem Angriff auf den Berliner Abgeordneten Giyasettin
Sayan (PDS) am 19. Mai in Berlin-Lichtenberg ist Rassismus eine bittere Realität
in diesem Land. Es gehört zum Programm des staatlichen Handelns, dass MigrantInnen
und Flüchtlinge zu kriminalisieren, zu terrorisieren und wie der letzte
Dreck zu behandeln sind. All die „Empörten“ sind entweder blind
oder Mittäter an den rassistischen Angriffen, wenn sie den Zusammenhang
des strukturellen Rassismus in Form von Sondergesetzen, Behördenschikane
und Polizeigewalt gegen MigrantInnen und Flüchtlingen mit den Mordattacken
der Neonazis ausblenden.
Das Handeln des rassistischen Pöbels und des Staates sind die verschiedenen
Seiten der gleichen Medaille. Exemplarisch ist der Deal zwischen dem rassistischen
Mob und der Politik zu Zeiten der Pogrome Anfang der 90er Jahre. Die in den 80er
Jahren massiv betriebene Hetze gegen „Asylantenflut“ kulminierte
in mordlüstigen Attacken gegen die MigrantInnen und Flüchtlinge in
Hoyerswerda und Rostock. Und der Bundestag reagierte darauf 1993 mit der lang
ersehnten faktischen Abschaffung des Asylrechts.
Es gehört zur bundesdeutschen Tagespolitik, dass die MigrantInnen und Flüchtlinge
ununterbrochen mit Kriminalität, Drogendealern, Mafia, seltsamen Ehrbegriffen,
islamitischen Terror, Schmarotzern in Verbindung gebracht werden. Die Berichte
und Diskussionen über die Attentate vom 11. September, über den Ehrenmord
an Hatun Sürücü, die Rütli-Schule und die Flüchtlinge
sind geprägt von eben diesen Bildern.
Und die „zivilisierten Deutschen“ machen sich auch noch Sorgen um
die Integration ihrer Mitbürger. Dieser Mechanismus spielt sich nach dem üblichen
Muster ab: Erst verwehren sie uns alle Rechte, diffamieren uns als die Bösen
und dann schreibt man uns vor, wie wir uns zu unterwerfen haben. Dass mit der
Integration immer Assimilation gemeint ist, geben die wenigsten wie der Ex-Innenminister
Otto Schily in einem Tagesspiegel-Interview zu.
Die Kriminalisierung und der rassistische Diskurs nimmt in jeder Phase neue Formen
an. Nach den Attentaten vom 11. September wurde eine Hexenjagd nach „Terroristen“ mit
islamischem Hintergrund losgetreten. Im Rahmen von Anti-Terrorgesetzen und Rasterfahndungen
wurden hunderttausende von Menschen verdächtig, observiert und Daten über
sie gesammelt. Dabei passten die bezichtigten „Schläfer“ dem
Bild des „Vorzeigeintegrierten“: spricht gut deutsch, studiert, unauffällig.
Erst nach fünf Jahren beurteilt das Bundesverfassungsgericht die Rasterfahndungen
als verfassungswidrig. Aber die Praktiken der Islamophobie haben ihre Früchte
getragen. Das Kopftuchverbot in öffentlichen Einrichtungen wurde zügig
durchgesetzt. Hunderttausende von Frauen mit Kopftuch werden somit öffentlich
diskriminiert. In Berlin-Pankow führt die „Bürgeraktion gegen Überfremdung
unseres Bezirks“, an der sich Neonazis und CDU-ler beteiligen, eine Kampagne
gegen den geplanten Bau einer Moschee. Und um in den Gunst der deutschen Staatsangehörigkeit
mit Vorbehalt zu kommen, werden einbürgerungswillige MigrantInnen seit Anfang
dieses Jahres in einigen Bundesländer einer „Gesinnungsprüfung“ unterzogen,
die ihnen suggeriert, dass sie minderwertig und primitiv sind. Und wenn mensch
einmal Deutsch ist, darf eine weitere Identität nicht mehr gelten. Zehntausenden
von Menschen aus der Türkei wurde der deutsche Pass entzogen, weil sie ab
2000 die türkische wieder angenommen haben. Während die deutschen Mörder
den deutschen Pass weiter behalten, wird ein Mensch aus Nigeria ausgebürgert,
selbst wenn er staatenlos wird, nur weil er bei der Einbürgerung falsche
Angaben gemacht haben soll, obwohl Artikel 16 des GG folgendes besagt: „Die
deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der
Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen
des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos
wird.“ Gewalt der MigrantInnen wird immer im Zusammenhang mit fehlenden
Deutschkenntnissen gebracht. Beispielhaft ist die Berichterstattung über
der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln, die von der BZ als Terror-Schule
terrorisiert wurde.
Rassistische Gewalt beginnt nicht erst da an, wo ein Mensch auf der Strasse tätlich
angegriffen wird, sondern wird durch die Politik und Medien vorproduziert und
durch Machtorgane des Staates tagtäglich ausgeführt. Täglich werden
dutzende von Menschen mit Gewalt abgeschoben, mit Gewalt in Lager und Abschiebeknäste
verfrachtet, mit Gewalt zur Residenzpflicht verdammt und mit Gewalt an der „Festung
Europa“ dem Tod ausgesetzt. Täglich finden rassistische Kontrollen
im öffentlichen Raum statt. Die Polizei hat sowieso immer die „Ausländer“ auf
dem Kicker. Diese staatlich legitimierten Gewalttaten mit rassistischen Motiven
werden aber kaum erfasst und finden in den Medien keinen Platz. So ist es schon
fast eine Routine, dass bewaffnete Polizisten eines frühen Morgens deine
Wohnung ohne Vorwarnung stürmen, dich schikanieren, diskriminieren und schlagen.
So geschehen mit der Familie Ibrahim am 7. Oktober in Berlin. In dem Asylantrag
der Mutter und dem Einbürgerungsantrag der betroffenen Frau hätte man
falsche Angaben gemacht: Man habe sich als Libanesen statt als Türken ausgegeben.
Und die Berliner Boulevardpresse vom Oktober beglückwünscht die Beamten
des Sondereinsatzkommandos zu einem erfolgreichen Schlag gegen eine „vermeintlich
libanesische Gangsterfamilie“, die sich über Jahre hinweg Sozialhilfe
erschwindelt habe. Biplab Basu von der Beratungsstelle „ReachOut“ sagt: „Hierzulande
herrscht kaum ein Bewusstsein dafür, dass Polizisten häufig mit unverhältnismäßiger
Härte und Rücksichtslosigkeit gegen Ausländer vorgehen.“ Auch
die Entführung eines dreijährigen angolanischen Kindes durch die Polizei
in Dresden, um ihre Mutter zur Abschiebung zu erpressen, löst keine Welle
der Empörung aus. Wieso auch? Es sind ja nur rassistische Praktiken, die
der Staat täglich und legitim ausführen darf.
Und der Fall Oury Jalloh soll erst gar nicht aufgeklärt werden, um die mörderischen
Seiten der deutschen Polizei anzuprangern!
Das ist die Realität in Deutschland, das die „die Welt zu Gast“ bei
Rassisten empfangen wird.
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