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Es besteht Handlungsbedarf
Rede von Heinrich Hannover junge
Welt 3.
November 2004
Wie es dazu kommen konnte, dass heute wieder deutsche Soldaten,
Waffen und andere Industrieprodukte an Kriegen in aller Welt beteiligt sind.
Zur Eröffnung
der ver.di-Ausstellung „Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges“
„Erinnerungsarbeit gegen den Trend. Hier besteht Handlungsbedarf.
Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges“ heißt eine Ausstellung
von ver.di Berlin-Brandenburg, der antifa-Redaktion und der Initiativgruppe zur
Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges, die gestern abend in der Medien-Galerie
im Haus der Buchdrucker (Dudenstraße 10, 10965 Berlin-Kreuzberg) eröffnet
wurde. Über die Justizopfer des Kalten Krieges sprach der Bremer Rechtsanwalt
und Publizist Dr. Heinrich Hannover, der viele Betroffene vor Gericht verteidigt
hatte. junge Welt veröffentlicht seine Rede – zeitgleich mit Ossietzky
(Heft 22/2004) – im Wortlaut.
Mein ehemaliger Kollege, der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder
sah keinen Handlungsbedarf, als ich ihn im September 1999 an die dringend nötige
Rehabilitierung der Justizopfer des Kalten Krieges erinnert habe. Im Unterschied
zum Justizunrecht der DDR, das bekanntlich den Gesetzgeber des wiedervereinigten
Deutschlands zu großzügigen Wiedergutmachungsregelungen veranlasst
hat, sei bei uns alles rechtsstaatlich zugegangen. Man kann die Korrespondenz
auf meiner Webseite nachlesen.
Kriminalisierung der Opposition
Herr Schröder muss vergessen haben, dass der Kalte Krieg auf beiden
Seiten Justizunrecht hervorgebracht hat. Er muss vergessen haben, was in den
50er und 60er Jahren in bundesrepublikanischen Gerichtssälen tatsächlich
geschehen ist. Vergessen, dass das politische Strafrecht unwidersprochen als
Waffe im Kalten Krieg bezeichnet werden konnte, dass der SPD-Kronjurist Adolf
Arndt nachträglich klagte, das 1.Strafrechtsänderungsgesetz, mit dem
1951 die Kriminalisierung der Opposition gegen Adenauers Politik der Wiederaufrüstung
und der Restauration der alten Machtverhältnisse begann, habe sich als Schlangenei
erwiesen. Vergessen, dass die Richter und Staatsanwälte, die in den 50er
und 60er Jahren Kommunisten und andere Antifaschisten für die Betätigung
ihrer Gesinnung bestraften, noch dieselben waren, die schon unter Hitler gedient
und dass viele von ihnen schon damals Widerstandskämpfer verurteilt hatten.
Vergessen, dass Menschen, die unter Hitler in Konzentrationslagern und Zuchthäusern
ihrer Freiheit beraubt wurden und nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ihrer
Gesinnung treu geblieben waren, erneut eingesperrt wurden, wenn sie sich politisch
betätigten. Ja, dass Widerstandskämpfern sogar die Renten und andere
Wiedergutmachungsleistungen, die ihnen wegen im Nazistaat erlittener KZ- und
Zuchthaushaft zustanden, aberkannt und bereits geleistete Zahlungen zurückgefordert
wurden. Ein enormer Komplex von Justiz- und Verwaltungsunrecht, der eines Rechtsstaats
unwürdig war und nur aus dem aus Hitlers Tagen überkommenen antikommunistischen
Kollektivhass und dem in alte Funktionen wiedereingesetzten Personal des NS-Staats
zu erklären ist.
In der Stunde Null des Jahres 1945, als sich die Deutschen in dem Ruf „Nie
wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ einig zu sein schienen, war es unvorstellbar,
dass sie sich noch einmal der Herrschaft des Großkapitals unterwerfen würden,
dessen Verantwortlichkeit für den Krieg, die 50 Millionen Toten und die
zerstörten Städte damals im öffentlichen Bewusstsein war, was
sich in Sozialisierungsartikeln einiger Länderverfassungen und sogar im
Ahlener Parteiprogramm der CDU niederschlug. Aber die Entfernung des Nazipersonals
aus einflussreichen Stellen in Politik, Justiz und Wirtschaft blieb ebenso wie
die Einsetzung überlebender Antifaschisten in Regierungsämter und Verwaltungsfunktionen
nur Episode. Nur zu bald entdeckten die nur oberflächlich entnazifizierten
Westdeutschen, dass es sich mit amerikanischer Kapitalunterstützung ganz
gut leben ließ und dass ihr aus Hitlers Tagen überkommener Antikommunismus
durchaus die Sympathien der amerikanischen Besatzungsmacht hatte. Ja, es stellte
sich heraus, dass nicht nur die im Kampf gegen die „bolschewistische Gefahr“ bewährten
Geheimdienstler, sondern auch Hitlers Wehrmachtsoffiziere und -generäle,
die eben erst wegen Kriegsverbrechen von alliierten Militärgerichten zu
hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, wieder gebraucht wurden, um den
Krieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten. Und so wurden sie auf Initiative der
Regierung Adenauer schon Anfang der 50er Jahre aus dem Landsberger Kriegsverbrechergefängnis
entlassen und konnten ihre im antikommunistischen Kampf bewährte Gesinnung
in die Bundeswehr und die staatsbürgerliche Bildung junger Menschen einbringen.
Feindbild Sowjetunion
Dass die Sowjetunion die Hauptlast bei der Niederringung des Hitlerreichs
geleistet und ungeheure Opfer an Menschenleben gebracht hatte, dass das Land
ein riesiger Kriegsschauplatz gewesen war, dass seine Städte und Dörfer,
seine Industrieanlagen, Verkehrsmittel und Maschinen zerstört waren und
die Menschen nichts nötiger brauchten als Frieden und Kraft zum Wiederaufbau,
wurde in einer gewaltigen Lügenkampagne aus den Köpfen der Deutschen
vertrieben und durch das Feindbild einer aggressiven Sowjetmacht ersetzt, die
ihren Machtbereich mit Waffengewalt mindestens bis zum Rhein vortreiben wolle.
Alle politischen Aktivitäten, die sich gegen eine deutsche Wiederbewaffnung
richteten, wurden verdächtigt, der russischen Dampfwalze Vorschub leisten
zu wollen. Wer sich in diesem Land als Sozialist oder Pazifist bekannte und Widerstand
gegen die Remilitarisierung und die Restauration der alten Machtverhältnisse
leistete, wurde verdächtigt, Bundesgenosse Stalins und seiner Terrorclique
zu sein und nichts anderes im Sinn zu haben, als stalinistische Verhältnisse
auf die Bundesrepublik zu übertragen. Da hatte eine kollektive Gehirnwäsche
stattgefunden, die nur funktionieren konnte, weil noch die alten, von der Goebbels-Propaganda
erzeugten Feindbilder und Denkblockaden virulent waren, an die man, nunmehr unter
demokratischem Vorzeichen, anknüpfen konnte.
So konnte die Regierung Adenauer schon 1950 verfügen, dass Mitgliedern
der KPD, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und anderer linksgerichteter
Organisationen der Zugang zum öffentlichen Dienst verwehrt wurde. Den nach
dem Zusammenbruch des Nazireichs entfernten Beamten hingegen wurde 1951 durch
das 131er-Gesetz die Rückkehr in ihre Ämter in Justiz und Verwaltung
eröffnet. Damit war das Personal wieder beisammen, um alle, die ein anderes,
von den Interessen des Kapitals und der Rüstungsindustrie unabhängiges
Deutschland wollten, als Kriminelle abzustempeln. Im gleichen Jahr 1951 wurde
beim Bundesverfassungsgericht der Antrag auf Verbot der KPD gestellt, jener Partei,
deren Mitglieder sehr viel früher als die heute offiziell gefeierten Attentäter
vom 20. Juli 1944 gegen Hitler und seine Bande Widerstand geleistet und in diesem
Kampf die größten Opfer gebracht hatten. Ein Verfahren, das am 17.August
1956 mit dem Verbot der KPD endete und eine Fülle neuer Strafverfahren auf
der Grundlage des uferlosen Tatbestandes des Verstoßes gegen das KPD-Verbot
auslöste.
Was sich in den 50er und 60er Jahren in deutschen Gerichtssälen abgespielt
hat, ist dank gehorsamer, von kapitalkräftigen Inserenten und Sponsoren
abhängiger Medien nur tropfenweise ins öffentliche Bewusstsein gedrungen.
Aber einem, der, wie Herr Schröder, selbst als Anwalt in politischen Strafprozessen
und Berufsverbotsverfahren tätig gewesen ist, kann diese Periode schamlosen
politischen Justizunrechts nicht verborgen geblieben sein. Die in Essen arbeitende
Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges hat
2 364 Verurteilungen dokumentiert, und das ist nur ein Bruchteil des damals praktizierten
Justizunrechts. Ich selbst habe seit meiner Anwaltszulassung im Jahr 1954 eine
Fülle von Strafverfahren gegen Menschen, die sich oppositionell gegen Remilitarisierung
und neue Kriegsvorbereitung betätigt hatten, als Verteidiger miterlebt,
stehe hier also gewissermaßen als Zeitzeuge eines Abschnitts deutscher
Justizgeschichte, der dringend einer öffentlichen Bewusstmachung bedarf.
Nicht nur, um den letzten noch lebenden Betroffenen dieses Justizunrechts eine
späte Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, sondern auch, um unseren Zeitgenossen
begreiflich zu machen, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass heute wieder
deutsche Soldaten, Waffen und andere Industrieprodukte an Kriegen in aller Welt
beteiligt sind.
Der Naziverbrecher bedient
Eines meiner ersten Mandate als junger Anwalt betraf Gewerkschafter, die
gegen das Goslarer Stahlhelmtreffen im Juni 1955 protestiert hatten und deshalb
wegen Versammlungsstörung angeklagt und verurteilt wurden. Schon damals
schützten Polizei und Justiz nicht die Protestdemonstration der demokratisch
und pazifistisch gesinnten Gewerkschafter, sondern den militaristischen Mummenschanz
unbelehrbarer alter Neonazis und die Rede des Herrn Kesselring, eines als Kriegsverbrecher
verurteilten und vorzeitig begnadigten Generalfeldmarschalls der Hitler-Wehrmacht.
Meine Mandanten, die „Kesselring raus!“ gerufen hatten, wurden von
der Justiz belehrt, dass nicht ihnen, sondern den Anhängern des Nazigenerals
das Recht der Versammlungsfreiheit zugestanden hätte. Eine Parteinahme der
Justiz, die ins politische Konzept der deutschen Wiederbewaffnung passte.
Einen anderen frühzeitigen Kritiker dieser Entwicklung, den aus der
SPD ausgetretenen Sozialisten Lorenz Knorr, habe ich in den 60er Jahren vor dem
Landgericht Wuppertal gegen den Anklagevorwurf verteidigen müssen, dass
es eine Beleidigung sei, wenn man Hitlers Generäle als Massenmörder
bezeichnet und sagt, dass einem um die Zukunft bange werden könne, wenn
solchen Leuten die Erziehung der deutschen Jugend anvertraut werde. Bezeichnend
für die Zusammensetzung des damaligen Justizpersonals war der Umstand, dass
die Anklage von einem Staatsanwalt erhoben wurde, der in der NS-Zeit beim Sondergericht
Prag tätig gewesen und dort Todesurteile gegen tschechische Staatsangehörige
erwirkt hatte, die ihrer Gegnerschaft gegen Hitlers Krieg Ausdruck gegeben hatten.
Als Richter fungierte in erster Instanz ein Mann, der unter Hitler Ankläger
am Sondergericht Wuppertal gewesen war.
Einem anderen im Zuge der Wiederbewaffnung reaktivierten Mitkämpfer
Hitlers begegnete ich im Thälmann-Mordprozess, dessen Durchführung
ich im Wege eines Klageerzwingungsverfahrens mit 40jähriger Verspätung
gegen eine widerstrebende, von einem einst bewährten Nationalsozialisten
geführte Staatsanwaltschaft durchsetzen konnte. Der an der Ermordung Thälmanns
und wehrloser sowjetischer Kriegsgefangener beteiligte SS-Funktionär Wolfgang
Otto, rechte Hand des Buchenwalder Lagerkommandanten, war nach dem Krieg vom
amerikanischen Militärgericht zu 20 Jahren Freiheitsstrafe wegen der an
ausländischen Häftlingen verübten Verbrechen verurteilt worden.
Die westdeutsche Wiederaufrüstung hatte auch ihm schon 1952 die Freiheit
gebracht, die er nutzte, um seine Einstellung in den Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen
zu betreiben. Er wurde, obwohl er seine Beteiligung an den Verbrechen der SS
im KZ Buchenwald nicht verschwieg, als Lehrer für Religion und Geschichte
an einem katholischen Gymnasium in Geldern angestellt und verbeamtet. Der Fall
wirft ein Schlaglicht auf den in den 50er Jahren herrschenden Ungeist, der eine
solche Reaktivierung von Naziverbrechern möglich machte.
Auch die amerikanische Besatzungsmacht hat sich im geheimdienstlichen und
im militärischen Sektor bedenkenlos alter Nazi-Gewaltverbrecher bedient,
wenn es um die Schwächung des damaligen Weltfeindes Sowjetunion ging. Christopher
Simpson hat dieses dunkle Kapitel deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit in seinem
viel zu wenig beachteten Buch „Der amerikanische Bumerang. NS-Verbrecher
im Sold der USA“ auf über 400 Seiten dokumentiert. Aber wehe dem,
der diese Kumpanei kritisierte, wenn ihm irgendeine Verbindung zum Reich des
Bösen jenseits der Zonengrenze nachgesagt werden konnte, und sei es auch
nur die inhaltliche Übereinstimmung mit Meinungsäußerungen von
Exponenten der SED. Auf ihn wartete die Justiz mit einem umfassenden Arsenal
von juristischen Waffen, die jede der herrschenden Freund-Feind-Vorgabe widersprechende
Meinungsäußerung abzustrafen gestatteten.
Atomkriegspläne der USA
Im Strafprozess gegen führende Persönlichkeiten des Friedenskomitees
der Bundesrepublik Deutschland, der von November 1959 bis April 1960 vor dem
Landgericht Düsseldorf, von der westdeutschen Medienöffentlichkeit
kaum beachtet, stattfand, saßen nicht nur Kommunisten, sondern auch engagierte
Christen auf der Anklagebank, die im Rahmen einer damals noch weltweit aktiven
Friedensbewegung die öffentliche Meinung gegen Wiederaufrüstung und
neue Kriegsvorbereitung zu stärken versuchten. Die Weltfriedensbewegung
war für die von den Interessen der Rüstungsindustrie abhängige
US-amerikanische Politik und deren westdeutschen Satelliten ein Störfaktor,
dem nicht nur mit Bedrohungslegenden über angebliche Angriffskriegspläne
der Sowjetunion, sondern auch mit Mitteln des Strafrechts begegnet werden musste.
Zu den im Düsseldorfer Prozess erörterten Aktionen der Weltfriedensbewegung
gehörte zum Beispiel der Stockholmer Appell vom März 1950, der das
absolute Verbot der Atomwaffe als einer Waffe des Schreckens und der Massenvernichtung
forderte. 500 Millionen Unterschriften hatten unermüdliche Mitarbeiter aller
Hautfarben in allen Ländern der Erde gesammelt, eine heute mangels einer
entsprechenden Organisation kaum wiederholbare Leistung. Es hätte den Interessen
der globalen Rüstungsindustrie und ihrer Denkfabriken widersprochen, wenn
die Menschen in aller Welt begriffen hätten, dass die lukrativen Geschäfte
der Rüstungsindustrie wieder mit dem Risiko eines Weltkrieges betrieben
wurden, der seit Erfindung der Atombombe mit einer alles bisher Dagewesene übertreffenden
Massenvernichtung enden könnte.
Die Angeklagten und wir Verteidiger redeten gegen Wände, wenn wir die
Gefahr neuer, unter amerikanischer Führung geplanter Kriege unter Vorlage
einer Fülle von Beweisdokumenten vortrugen. Für die damals amtierenden
bundesdeutschen Richter und Staatsanwälte war das alles nur kommunistische
Propaganda und Tarnung der wahren Absicht des Friedenskomitees, die Verhältnisse
der DDR auf die freiheitlich-demokratische und friedliebende Bundesrepublik zu übertragen.
Sie entledigten sich ihrer Aufgabe durch Zurückweisung einer Fülle
von Beweisanträgen auf Verlesung von mehr als 600 Dokumenten, mit denen
wir dem Gericht die Augen für die Gefahren der deutsch-amerikanischen Kriegspolitik
und die Notwendigkeit einer weltweiten Friedensarbeit öffnen wollten. Noch
heute sind die amerikanischen Atomkriegspläne zur Vernichtung der Sowjetunion,
die inzwischen in Veröffentlichungen von Karl Heinz Roth und Jürgen
Bruhn dokumentiert sind, einer breiten Öffentlichkeit unbekannt. Auch was
wir damals wussten und beweisen wollten, blieb noch weit hinter den schier unglaublichen
Fakten zurück, die man heute in Jürgen Bruhns Buch „Der Kalte
Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion“ nachlesen kann. Aber auch
das, was man schon damals über Kriegsplanungen wissen konnte, wollten die
Richter nicht hören, ihr antikommunistisches Feindbild versperrte jeden
Zugang für neue Informationen.
Mit nachträglicher Billigung durch den Bundesgerichtshof setzte sich
das Düsseldorfer Gericht über zwingende Vorschriften der Strafprozessordnung
hinweg und erfand Ablehnungsgründe, die es nur für die Beweismittel
der Verteidigung, nicht aber für die der Staatsanwaltschaft anwandte. Eine
sinnvolle Verteidigung wurde praktisch unmöglich gemacht. Unvergesslich
ist mir der Ausspruch eines meiner Verteidigerkollegen, des späteren nordrhein-westfälischen
Justizministers Diether Posser, der den Düsseldorfer Richtern und Schöffen
damals ins Gesicht sagte: „Wenn Sie alle unsere Beweisanträge zurück
weisen, würde ich es ehrlicher finden, unsere Mandanten durch Verwaltungsakt
ins KZ einzuweisen, statt uns Anwälte als rechtsstaatliches Dekor zu missbrauchen.“ Ja,
auch das war einer der Prozesse, die von Possers Parteifreund Gerhard Schröder
und der parteiübergreifend geschlossen hinter diesem stehenden Parlamentsmehrheit
noch heute als rechtsstaatlich qualifiziert werden, um das Thema einer Rehabilitierung
der damals Verurteilten als irrelevant abtun zu können.
Unerwünschte Kontakte zur DDR
Ein anderer Komplex von Strafprozessen betraf unerwünschte deutsch-deutsche
Kontakte, die dazu hätten führen können, das von den herrschenden
Medien und ihren politischen Einflüsterern erzeugte Freund-Feind-Schema
ins Wanken zu bringen. Im Januar 1962 hatte ich bei einer Strafkammer des Landgerichts
Lüneburg einen der SPD nahe stehenden Bremer Betriebsrat zu verteidigen,
dem vorgeworfen wurde, durch Teilnahme an einer FDGB-Tagung in Berlin-Karlshorst
gegen das KPD-Verbot und gegen den damaligen Paragraphen 100 d StGB verstoßen
zu haben, der verfassungsfeindliche Beziehungen unter Strafe stellte. Die Staatsanwaltschaft
hatte durch einen Artikel im Neuen Deutschland von seinem staatsgefährdenden
Tun erfahren, wo seine in der Diskussion gefallene Äußerung zitiert
wurde, wie anders als durch Kontakte könne man sich näher kommen, wer
auf den Zusammenbruch der DDR warte, könne auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
warten. Nun, in dem letzten Punkt hatte er sich, wie viele andere, geirrt, wenn
man davon ausgeht, dass Ost- und Westdeutsche sich durch die Aneignung der DDR
wirklich näher gekommen sind. Ich hielt ebenso wie mein Mandant dessen Meinungsäußerung
für ein durch das Grundgesetz gedecktes Recht und rechnete mit Freispruch.
Die Lüneburger Richter waren anderer Ansicht und verurteilten ihn zu sieben
Monaten Gefängnis, weil er durch sein Auftreten auf dem Kongress den Interessen
der verbotenen KPD genützt habe. Strafmildernd habe man ihm zugute gehalten,
dass er im Kriege seine Pflicht erfüllt habe. Noch 1962 wurde ihm von bundesdeutschen
Richtern als Verdienst angerechnet, dass er als Soldat in Hitlers Armeen gen
Moskau marschiert war.
Auch Reisen von DDR-Bürgern in die BRD wurden kriminalisiert. Es war
ebenfalls Anfang der 60er Jahre, als ich ins Untersuchungsgefängnis Hamburg
gerufen wurde, um die Verteidigung eines nach dem Grenzübergang festgenommenen
DDR-Bürgers aus Leipzig zu übernehmen. Er hatte nach jahrelangem Warten
endlich eine Besuchserlaubnis für seine in Hamburg lebende Mutter erhalten.
Seine Betriebsgewerkschaft hatte ihm den Wunsch mit auf den Weg gegeben, in Hamburg
auch den X und den Y aufzusuchen und sie zur Leipziger Messe einzuladen. Dazu
war mein Mandant gern bereit, ohne zu ahnen, dass dieses Tun in der freiheitlichen
Bundesrepublik eine strafbare Handlung darstellte. Nach dem Verständnis
deutscher Gesetzesmacher und Richter war er für einen verfassungsverräterischen
Nachrichtendienst tätig geworden, indem er sich bereit erklärt hatte,
seiner Betriebsgewerkschaft die „Nachricht“ zu überbringen,
ob X und Y zur Leipziger Messe kommen würden. Da er noch gar nicht dazu
gekommen war, den X und den Y aufzusuchen, war seine Tat nur als Versuch strafbar.
Aber das reichte für eine Gefängnisstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt
wurde, weil man ihm glaubte, dass er in Zukunft Reisen in die BRD vermeiden würde.
Er wurde über die Grenze abgeschoben, ohne seine Mutter gesehen zu haben.
Unvergesslich ist mir sein Ausspruch: „Etwas anders hatte ich mir die westliche
Freiheit doch vorgestellt.“
Neuer Ungeist
Inzwischen haben Tausende DDR-Bürger die westliche Freiheit kennen gelernt,
die mit einer schamlosen Enteignung des Volkseigentums zugunsten kapitalkräftiger
westlicher Investoren und Vernichtung von Arbeitsplätzen begann. Und dann
erwachte in der neuen Herrenschicht noch einmal der antikommunistische Ungeist
der 50er und 60er Jahre, mit dem nun auch diejenigen zu Kriminellen gestempelt
wurden, die man damals nur als solche diffamieren, aber nicht abstrafen konnte.
In einer riesigen Prozesswelle wurden Menschen, die ihrem Staat als Politiker,
als Richter und Staatsanwälte, als Soldaten oder Geheimdienstagenten gedient
hatten, illegalisiert und nach Maßstäben abgeurteilt, die man trickreich
zu vermeiden wusste, als es um die Aburteilung des unvergleichlich größeren
Unrechts des faschistischen Massenmordstaats gegangen war. Ich rede wohlgemerkt
nicht von echten Kriminalfällen, die es freilich auch in der DDR gegeben
hat, sondern von Verfahren, in denen die Ungleichheit des angewandten Rechts
gegen deutsche Bürger diesseits und jenseits der einstigen Staatsgrenze
mit zynischer Offenheit gehandhabt worden ist, wie ich sie in meinem Buch „Die
Republik vor Gericht“ beschrieben habe.
Ich greife nur das Beispiel der Geheimdienstagenten heraus, die es in Zeiten
des Kalten Krieges auf beiden Seiten gegeben hat. Da kann ich mich auf Wolfgang
Schäuble berufen, den westdeutschen Verhandlungsführer beim Einigungsvertrag,
der einst bekannte, er habe es immer als der Logik entsprechend empfunden, dass
im vereinten Deutschland nicht nur die nachrichtendienstliche Tätigkeit
der Westagenten, sondern auch die umgekehrte Tätigkeit für die DDR
nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden könne. Was sich Herr Schäuble
nicht vorstellen konnte, ist dann, als der Einigungsvertrag unter Dach und Fach
war, bundesdeutsche „Rechts“praxis geworden. Bundesdeutsche Richter
sahen kein Problem darin, ostdeutsche Spione zu bestrafen und westdeutsche straflos
zu lassen. Eine eklatante, vom Bundesverfassungsgericht nur halbherzig gemilderte
Rechtsungleichheit, die auch auf anderen Feldern praktiziert worden ist, auf
die ich hier nicht eingehen kann. Wer freilich die politische Justiz, die in
der BRD der 50er und 60er Jahre praktiziert wurde, für rechtsstaatlich hält,
wird auch nicht erkennen, dass bis in unsere Tage Unrecht im Gewande des Rechts
verübt worden ist.
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