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Es besteht Handlungsbedarf
Rede von Heinrich Hannover junge Welt 3. November 2004


Wie es dazu kommen konnte, dass heute wieder deutsche Soldaten, Waffen und andere Industrieprodukte an Kriegen in aller Welt beteiligt sind. Zur Eröffnung der ver.di-Ausstellung „Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges“


„Erinnerungsarbeit gegen den Trend. Hier besteht Handlungsbedarf. Die vergessenen Opfer des Kalten Krieges“ heißt eine Ausstellung von ver.di Berlin-Brandenburg, der antifa-Redaktion und der Initiativgruppe zur Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges, die gestern abend in der Medien-Galerie im Haus der Buchdrucker (Dudenstraße 10, 10965 Berlin-Kreuzberg) eröffnet wurde. Über die Justizopfer des Kalten Krieges sprach der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Dr. Heinrich Hannover, der viele Betroffene vor Gericht verteidigt hatte. junge Welt veröffentlicht seine Rede – zeitgleich mit Ossietzky (Heft 22/2004) – im Wortlaut.


Mein ehemaliger Kollege, der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder sah keinen Handlungsbedarf, als ich ihn im September 1999 an die dringend nötige Rehabilitierung der Justizopfer des Kalten Krieges erinnert habe. Im Unterschied zum Justizunrecht der DDR, das bekanntlich den Gesetzgeber des wiedervereinigten Deutschlands zu großzügigen Wiedergutmachungsregelungen veranlasst hat, sei bei uns alles rechtsstaatlich zugegangen. Man kann die Korrespondenz auf meiner Webseite nachlesen.


Kriminalisierung der Opposition

Herr Schröder muss vergessen haben, dass der Kalte Krieg auf beiden Seiten Justizunrecht hervorgebracht hat. Er muss vergessen haben, was in den 50er und 60er Jahren in bundesrepublikanischen Gerichtssälen tatsächlich geschehen ist. Vergessen, dass das politische Strafrecht unwidersprochen als Waffe im Kalten Krieg bezeichnet werden konnte, dass der SPD-Kronjurist Adolf Arndt nachträglich klagte, das 1.Strafrechtsänderungsgesetz, mit dem 1951 die Kriminalisierung der Opposition gegen Adenauers Politik der Wiederaufrüstung und der Restauration der alten Machtverhältnisse begann, habe sich als Schlangenei erwiesen. Vergessen, dass die Richter und Staatsanwälte, die in den 50er und 60er Jahren Kommunisten und andere Antifaschisten für die Betätigung ihrer Gesinnung bestraften, noch dieselben waren, die schon unter Hitler gedient und dass viele von ihnen schon damals Widerstandskämpfer verurteilt hatten. Vergessen, dass Menschen, die unter Hitler in Konzentrationslagern und Zuchthäusern ihrer Freiheit beraubt wurden und nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes ihrer Gesinnung treu geblieben waren, erneut eingesperrt wurden, wenn sie sich politisch betätigten. Ja, dass Widerstandskämpfern sogar die Renten und andere Wiedergutmachungsleistungen, die ihnen wegen im Nazistaat erlittener KZ- und Zuchthaushaft zustanden, aberkannt und bereits geleistete Zahlungen zurückgefordert wurden. Ein enormer Komplex von Justiz- und Verwaltungsunrecht, der eines Rechtsstaats unwürdig war und nur aus dem aus Hitlers Tagen überkommenen antikommunistischen Kollektivhass und dem in alte Funktionen wiedereingesetzten Personal des NS-Staats zu erklären ist.

In der Stunde Null des Jahres 1945, als sich die Deutschen in dem Ruf „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ einig zu sein schienen, war es unvorstellbar, dass sie sich noch einmal der Herrschaft des Großkapitals unterwerfen würden, dessen Verantwortlichkeit für den Krieg, die 50 Millionen Toten und die zerstörten Städte damals im öffentlichen Bewusstsein war, was sich in Sozialisierungsartikeln einiger Länderverfassungen und sogar im Ahlener Parteiprogramm der CDU niederschlug. Aber die Entfernung des Nazipersonals aus einflussreichen Stellen in Politik, Justiz und Wirtschaft blieb ebenso wie die Einsetzung überlebender Antifaschisten in Regierungsämter und Verwaltungsfunktionen nur Episode. Nur zu bald entdeckten die nur oberflächlich entnazifizierten Westdeutschen, dass es sich mit amerikanischer Kapitalunterstützung ganz gut leben ließ und dass ihr aus Hitlers Tagen überkommener Antikommunismus durchaus die Sympathien der amerikanischen Besatzungsmacht hatte. Ja, es stellte sich heraus, dass nicht nur die im Kampf gegen die „bolschewistische Gefahr“ bewährten Geheimdienstler, sondern auch Hitlers Wehrmachtsoffiziere und -generäle, die eben erst wegen Kriegsverbrechen von alliierten Militärgerichten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, wieder gebraucht wurden, um den Krieg gegen die Sowjetunion vorzubereiten. Und so wurden sie auf Initiative der Regierung Adenauer schon Anfang der 50er Jahre aus dem Landsberger Kriegsverbrechergefängnis entlassen und konnten ihre im antikommunistischen Kampf bewährte Gesinnung in die Bundeswehr und die staatsbürgerliche Bildung junger Menschen einbringen.


Feindbild Sowjetunion

Dass die Sowjetunion die Hauptlast bei der Niederringung des Hitlerreichs geleistet und ungeheure Opfer an Menschenleben gebracht hatte, dass das Land ein riesiger Kriegsschauplatz gewesen war, dass seine Städte und Dörfer, seine Industrieanlagen, Verkehrsmittel und Maschinen zerstört waren und die Menschen nichts nötiger brauchten als Frieden und Kraft zum Wiederaufbau, wurde in einer gewaltigen Lügenkampagne aus den Köpfen der Deutschen vertrieben und durch das Feindbild einer aggressiven Sowjetmacht ersetzt, die ihren Machtbereich mit Waffengewalt mindestens bis zum Rhein vortreiben wolle. Alle politischen Aktivitäten, die sich gegen eine deutsche Wiederbewaffnung richteten, wurden verdächtigt, der russischen Dampfwalze Vorschub leisten zu wollen. Wer sich in diesem Land als Sozialist oder Pazifist bekannte und Widerstand gegen die Remilitarisierung und die Restauration der alten Machtverhältnisse leistete, wurde verdächtigt, Bundesgenosse Stalins und seiner Terrorclique zu sein und nichts anderes im Sinn zu haben, als stalinistische Verhältnisse auf die Bundesrepublik zu übertragen. Da hatte eine kollektive Gehirnwäsche stattgefunden, die nur funktionieren konnte, weil noch die alten, von der Goebbels-Propaganda erzeugten Feindbilder und Denkblockaden virulent waren, an die man, nunmehr unter demokratischem Vorzeichen, anknüpfen konnte.

So konnte die Regierung Adenauer schon 1950 verfügen, dass Mitgliedern der KPD, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und anderer linksgerichteter Organisationen der Zugang zum öffentlichen Dienst verwehrt wurde. Den nach dem Zusammenbruch des Nazireichs entfernten Beamten hingegen wurde 1951 durch das 131er-Gesetz die Rückkehr in ihre Ämter in Justiz und Verwaltung eröffnet. Damit war das Personal wieder beisammen, um alle, die ein anderes, von den Interessen des Kapitals und der Rüstungsindustrie unabhängiges Deutschland wollten, als Kriminelle abzustempeln. Im gleichen Jahr 1951 wurde beim Bundesverfassungsgericht der Antrag auf Verbot der KPD gestellt, jener Partei, deren Mitglieder sehr viel früher als die heute offiziell gefeierten Attentäter vom 20. Juli 1944 gegen Hitler und seine Bande Widerstand geleistet und in diesem Kampf die größten Opfer gebracht hatten. Ein Verfahren, das am 17.August 1956 mit dem Verbot der KPD endete und eine Fülle neuer Strafverfahren auf der Grundlage des uferlosen Tatbestandes des Verstoßes gegen das KPD-Verbot auslöste.

Was sich in den 50er und 60er Jahren in deutschen Gerichtssälen abgespielt hat, ist dank gehorsamer, von kapitalkräftigen Inserenten und Sponsoren abhängiger Medien nur tropfenweise ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Aber einem, der, wie Herr Schröder, selbst als Anwalt in politischen Strafprozessen und Berufsverbotsverfahren tätig gewesen ist, kann diese Periode schamlosen politischen Justizunrechts nicht verborgen geblieben sein. Die in Essen arbeitende Initiativgruppe für die Rehabilitierung der Opfer des Kalten Krieges hat 2 364 Verurteilungen dokumentiert, und das ist nur ein Bruchteil des damals praktizierten Justizunrechts. Ich selbst habe seit meiner Anwaltszulassung im Jahr 1954 eine Fülle von Strafverfahren gegen Menschen, die sich oppositionell gegen Remilitarisierung und neue Kriegsvorbereitung betätigt hatten, als Verteidiger miterlebt, stehe hier also gewissermaßen als Zeitzeuge eines Abschnitts deutscher Justizgeschichte, der dringend einer öffentlichen Bewusstmachung bedarf. Nicht nur, um den letzten noch lebenden Betroffenen dieses Justizunrechts eine späte Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, sondern auch, um unseren Zeitgenossen begreiflich zu machen, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass heute wieder deutsche Soldaten, Waffen und andere Industrieprodukte an Kriegen in aller Welt beteiligt sind.


Der Naziverbrecher bedient

Eines meiner ersten Mandate als junger Anwalt betraf Gewerkschafter, die gegen das Goslarer Stahlhelmtreffen im Juni 1955 protestiert hatten und deshalb wegen Versammlungsstörung angeklagt und verurteilt wurden. Schon damals schützten Polizei und Justiz nicht die Protestdemonstration der demokratisch und pazifistisch gesinnten Gewerkschafter, sondern den militaristischen Mummenschanz unbelehrbarer alter Neonazis und die Rede des Herrn Kesselring, eines als Kriegsverbrecher verurteilten und vorzeitig begnadigten Generalfeldmarschalls der Hitler-Wehrmacht. Meine Mandanten, die „Kesselring raus!“ gerufen hatten, wurden von der Justiz belehrt, dass nicht ihnen, sondern den Anhängern des Nazigenerals das Recht der Versammlungsfreiheit zugestanden hätte. Eine Parteinahme der Justiz, die ins politische Konzept der deutschen Wiederbewaffnung passte.

Einen anderen frühzeitigen Kritiker dieser Entwicklung, den aus der SPD ausgetretenen Sozialisten Lorenz Knorr, habe ich in den 60er Jahren vor dem Landgericht Wuppertal gegen den Anklagevorwurf verteidigen müssen, dass es eine Beleidigung sei, wenn man Hitlers Generäle als Massenmörder bezeichnet und sagt, dass einem um die Zukunft bange werden könne, wenn solchen Leuten die Erziehung der deutschen Jugend anvertraut werde. Bezeichnend für die Zusammensetzung des damaligen Justizpersonals war der Umstand, dass die Anklage von einem Staatsanwalt erhoben wurde, der in der NS-Zeit beim Sondergericht Prag tätig gewesen und dort Todesurteile gegen tschechische Staatsangehörige erwirkt hatte, die ihrer Gegnerschaft gegen Hitlers Krieg Ausdruck gegeben hatten. Als Richter fungierte in erster Instanz ein Mann, der unter Hitler Ankläger am Sondergericht Wuppertal gewesen war.

Einem anderen im Zuge der Wiederbewaffnung reaktivierten Mitkämpfer Hitlers begegnete ich im Thälmann-Mordprozess, dessen Durchführung ich im Wege eines Klageerzwingungsverfahrens mit 40jähriger Verspätung gegen eine widerstrebende, von einem einst bewährten Nationalsozialisten geführte Staatsanwaltschaft durchsetzen konnte. Der an der Ermordung Thälmanns und wehrloser sowjetischer Kriegsgefangener beteiligte SS-Funktionär Wolfgang Otto, rechte Hand des Buchenwalder Lagerkommandanten, war nach dem Krieg vom amerikanischen Militärgericht zu 20 Jahren Freiheitsstrafe wegen der an ausländischen Häftlingen verübten Verbrechen verurteilt worden. Die westdeutsche Wiederaufrüstung hatte auch ihm schon 1952 die Freiheit gebracht, die er nutzte, um seine Einstellung in den Schuldienst des Landes Nordrhein-Westfalen zu betreiben. Er wurde, obwohl er seine Beteiligung an den Verbrechen der SS im KZ Buchenwald nicht verschwieg, als Lehrer für Religion und Geschichte an einem katholischen Gymnasium in Geldern angestellt und verbeamtet. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf den in den 50er Jahren herrschenden Ungeist, der eine solche Reaktivierung von Naziverbrechern möglich machte.

Auch die amerikanische Besatzungsmacht hat sich im geheimdienstlichen und im militärischen Sektor bedenkenlos alter Nazi-Gewaltverbrecher bedient, wenn es um die Schwächung des damaligen Weltfeindes Sowjetunion ging. Christopher Simpson hat dieses dunkle Kapitel deutsch-amerikanischer Zusammenarbeit in seinem viel zu wenig beachteten Buch „Der amerikanische Bumerang. NS-Verbrecher im Sold der USA“ auf über 400 Seiten dokumentiert. Aber wehe dem, der diese Kumpanei kritisierte, wenn ihm irgendeine Verbindung zum Reich des Bösen jenseits der Zonengrenze nachgesagt werden konnte, und sei es auch nur die inhaltliche Übereinstimmung mit Meinungsäußerungen von Exponenten der SED. Auf ihn wartete die Justiz mit einem umfassenden Arsenal von juristischen Waffen, die jede der herrschenden Freund-Feind-Vorgabe widersprechende Meinungsäußerung abzustrafen gestatteten.


Atomkriegspläne der USA

Im Strafprozess gegen führende Persönlichkeiten des Friedenskomitees der Bundesrepublik Deutschland, der von November 1959 bis April 1960 vor dem Landgericht Düsseldorf, von der westdeutschen Medienöffentlichkeit kaum beachtet, stattfand, saßen nicht nur Kommunisten, sondern auch engagierte Christen auf der Anklagebank, die im Rahmen einer damals noch weltweit aktiven Friedensbewegung die öffentliche Meinung gegen Wiederaufrüstung und neue Kriegsvorbereitung zu stärken versuchten. Die Weltfriedensbewegung war für die von den Interessen der Rüstungsindustrie abhängige US-amerikanische Politik und deren westdeutschen Satelliten ein Störfaktor, dem nicht nur mit Bedrohungslegenden über angebliche Angriffskriegspläne der Sowjetunion, sondern auch mit Mitteln des Strafrechts begegnet werden musste. Zu den im Düsseldorfer Prozess erörterten Aktionen der Weltfriedensbewegung gehörte zum Beispiel der Stockholmer Appell vom März 1950, der das absolute Verbot der Atomwaffe als einer Waffe des Schreckens und der Massenvernichtung forderte. 500 Millionen Unterschriften hatten unermüdliche Mitarbeiter aller Hautfarben in allen Ländern der Erde gesammelt, eine heute mangels einer entsprechenden Organisation kaum wiederholbare Leistung. Es hätte den Interessen der globalen Rüstungsindustrie und ihrer Denkfabriken widersprochen, wenn die Menschen in aller Welt begriffen hätten, dass die lukrativen Geschäfte der Rüstungsindustrie wieder mit dem Risiko eines Weltkrieges betrieben wurden, der seit Erfindung der Atombombe mit einer alles bisher Dagewesene übertreffenden Massenvernichtung enden könnte.

Die Angeklagten und wir Verteidiger redeten gegen Wände, wenn wir die Gefahr neuer, unter amerikanischer Führung geplanter Kriege unter Vorlage einer Fülle von Beweisdokumenten vortrugen. Für die damals amtierenden bundesdeutschen Richter und Staatsanwälte war das alles nur kommunistische Propaganda und Tarnung der wahren Absicht des Friedenskomitees, die Verhältnisse der DDR auf die freiheitlich-demokratische und friedliebende Bundesrepublik zu übertragen. Sie entledigten sich ihrer Aufgabe durch Zurückweisung einer Fülle von Beweisanträgen auf Verlesung von mehr als 600 Dokumenten, mit denen wir dem Gericht die Augen für die Gefahren der deutsch-amerikanischen Kriegspolitik und die Notwendigkeit einer weltweiten Friedensarbeit öffnen wollten. Noch heute sind die amerikanischen Atomkriegspläne zur Vernichtung der Sowjetunion, die inzwischen in Veröffentlichungen von Karl Heinz Roth und Jürgen Bruhn dokumentiert sind, einer breiten Öffentlichkeit unbekannt. Auch was wir damals wussten und beweisen wollten, blieb noch weit hinter den schier unglaublichen Fakten zurück, die man heute in Jürgen Bruhns Buch „Der Kalte Krieg oder: Die Totrüstung der Sowjetunion“ nachlesen kann. Aber auch das, was man schon damals über Kriegsplanungen wissen konnte, wollten die Richter nicht hören, ihr antikommunistisches Feindbild versperrte jeden Zugang für neue Informationen.

Mit nachträglicher Billigung durch den Bundesgerichtshof setzte sich das Düsseldorfer Gericht über zwingende Vorschriften der Strafprozessordnung hinweg und erfand Ablehnungsgründe, die es nur für die Beweismittel der Verteidigung, nicht aber für die der Staatsanwaltschaft anwandte. Eine sinnvolle Verteidigung wurde praktisch unmöglich gemacht. Unvergesslich ist mir der Ausspruch eines meiner Verteidigerkollegen, des späteren nordrhein-westfälischen Justizministers Diether Posser, der den Düsseldorfer Richtern und Schöffen damals ins Gesicht sagte: „Wenn Sie alle unsere Beweisanträge zurück weisen, würde ich es ehrlicher finden, unsere Mandanten durch Verwaltungsakt ins KZ einzuweisen, statt uns Anwälte als rechtsstaatliches Dekor zu missbrauchen.“ Ja, auch das war einer der Prozesse, die von Possers Parteifreund Gerhard Schröder und der parteiübergreifend geschlossen hinter diesem stehenden Parlamentsmehrheit noch heute als rechtsstaatlich qualifiziert werden, um das Thema einer Rehabilitierung der damals Verurteilten als irrelevant abtun zu können.


Unerwünschte Kontakte zur DDR

Ein anderer Komplex von Strafprozessen betraf unerwünschte deutsch-deutsche Kontakte, die dazu hätten führen können, das von den herrschenden Medien und ihren politischen Einflüsterern erzeugte Freund-Feind-Schema ins Wanken zu bringen. Im Januar 1962 hatte ich bei einer Strafkammer des Landgerichts Lüneburg einen der SPD nahe stehenden Bremer Betriebsrat zu verteidigen, dem vorgeworfen wurde, durch Teilnahme an einer FDGB-Tagung in Berlin-Karlshorst gegen das KPD-Verbot und gegen den damaligen Paragraphen 100 d StGB verstoßen zu haben, der verfassungsfeindliche Beziehungen unter Strafe stellte. Die Staatsanwaltschaft hatte durch einen Artikel im Neuen Deutschland von seinem staatsgefährdenden Tun erfahren, wo seine in der Diskussion gefallene Äußerung zitiert wurde, wie anders als durch Kontakte könne man sich näher kommen, wer auf den Zusammenbruch der DDR warte, könne auf den Sankt-Nimmerleins-Tag warten. Nun, in dem letzten Punkt hatte er sich, wie viele andere, geirrt, wenn man davon ausgeht, dass Ost- und Westdeutsche sich durch die Aneignung der DDR wirklich näher gekommen sind. Ich hielt ebenso wie mein Mandant dessen Meinungsäußerung für ein durch das Grundgesetz gedecktes Recht und rechnete mit Freispruch. Die Lüneburger Richter waren anderer Ansicht und verurteilten ihn zu sieben Monaten Gefängnis, weil er durch sein Auftreten auf dem Kongress den Interessen der verbotenen KPD genützt habe. Strafmildernd habe man ihm zugute gehalten, dass er im Kriege seine Pflicht erfüllt habe. Noch 1962 wurde ihm von bundesdeutschen Richtern als Verdienst angerechnet, dass er als Soldat in Hitlers Armeen gen Moskau marschiert war.

Auch Reisen von DDR-Bürgern in die BRD wurden kriminalisiert. Es war ebenfalls Anfang der 60er Jahre, als ich ins Untersuchungsgefängnis Hamburg gerufen wurde, um die Verteidigung eines nach dem Grenzübergang festgenommenen DDR-Bürgers aus Leipzig zu übernehmen. Er hatte nach jahrelangem Warten endlich eine Besuchserlaubnis für seine in Hamburg lebende Mutter erhalten. Seine Betriebsgewerkschaft hatte ihm den Wunsch mit auf den Weg gegeben, in Hamburg auch den X und den Y aufzusuchen und sie zur Leipziger Messe einzuladen. Dazu war mein Mandant gern bereit, ohne zu ahnen, dass dieses Tun in der freiheitlichen Bundesrepublik eine strafbare Handlung darstellte. Nach dem Verständnis deutscher Gesetzesmacher und Richter war er für einen verfassungsverräterischen Nachrichtendienst tätig geworden, indem er sich bereit erklärt hatte, seiner Betriebsgewerkschaft die „Nachricht“ zu überbringen, ob X und Y zur Leipziger Messe kommen würden. Da er noch gar nicht dazu gekommen war, den X und den Y aufzusuchen, war seine Tat nur als Versuch strafbar. Aber das reichte für eine Gefängnisstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, weil man ihm glaubte, dass er in Zukunft Reisen in die BRD vermeiden würde. Er wurde über die Grenze abgeschoben, ohne seine Mutter gesehen zu haben. Unvergesslich ist mir sein Ausspruch: „Etwas anders hatte ich mir die westliche Freiheit doch vorgestellt.“


Neuer Ungeist

Inzwischen haben Tausende DDR-Bürger die westliche Freiheit kennen gelernt, die mit einer schamlosen Enteignung des Volkseigentums zugunsten kapitalkräftiger westlicher Investoren und Vernichtung von Arbeitsplätzen begann. Und dann erwachte in der neuen Herrenschicht noch einmal der antikommunistische Ungeist der 50er und 60er Jahre, mit dem nun auch diejenigen zu Kriminellen gestempelt wurden, die man damals nur als solche diffamieren, aber nicht abstrafen konnte. In einer riesigen Prozesswelle wurden Menschen, die ihrem Staat als Politiker, als Richter und Staatsanwälte, als Soldaten oder Geheimdienstagenten gedient hatten, illegalisiert und nach Maßstäben abgeurteilt, die man trickreich zu vermeiden wusste, als es um die Aburteilung des unvergleichlich größeren Unrechts des faschistischen Massenmordstaats gegangen war. Ich rede wohlgemerkt nicht von echten Kriminalfällen, die es freilich auch in der DDR gegeben hat, sondern von Verfahren, in denen die Ungleichheit des angewandten Rechts gegen deutsche Bürger diesseits und jenseits der einstigen Staatsgrenze mit zynischer Offenheit gehandhabt worden ist, wie ich sie in meinem Buch „Die Republik vor Gericht“ beschrieben habe.

Ich greife nur das Beispiel der Geheimdienstagenten heraus, die es in Zeiten des Kalten Krieges auf beiden Seiten gegeben hat. Da kann ich mich auf Wolfgang Schäuble berufen, den westdeutschen Verhandlungsführer beim Einigungsvertrag, der einst bekannte, er habe es immer als der Logik entsprechend empfunden, dass im vereinten Deutschland nicht nur die nachrichtendienstliche Tätigkeit der Westagenten, sondern auch die umgekehrte Tätigkeit für die DDR nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden könne. Was sich Herr Schäuble nicht vorstellen konnte, ist dann, als der Einigungsvertrag unter Dach und Fach war, bundesdeutsche „Rechts“praxis geworden. Bundesdeutsche Richter sahen kein Problem darin, ostdeutsche Spione zu bestrafen und westdeutsche straflos zu lassen. Eine eklatante, vom Bundesverfassungsgericht nur halbherzig gemilderte Rechtsungleichheit, die auch auf anderen Feldern praktiziert worden ist, auf die ich hier nicht eingehen kann. Wer freilich die politische Justiz, die in der BRD der 50er und 60er Jahre praktiziert wurde, für rechtsstaatlich hält, wird auch nicht erkennen, dass bis in unsere Tage Unrecht im Gewande des Rechts verübt worden ist.
 3. November 2004