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Presseerklärung der Informationsstelle Kurdistan
Informationsstelle Kurdistan (ISKU) 17.
September 2005
Zum Verbot kurdischer Medien in Deutschland
Heute fanden in mehreren kurdischen Einrichtungen und Privatwohnungen in der
Bundesrepublik Durchsuchungen statt. Betroffen waren die Tageszeitung Özgür
Politika und die Nachrichtenagentur Mezopotamya (MHA) in Neu-Isenburg bei Frankfurt,
der Verlag Mezopotamya in Köln, der Musikverlag MIR in Düsseldorf sowie
zahlreiche Privatwohnungen von Özgür-Politika-MitarbeiterInnen in verschiedenen
Bundesländern.
Der Verlag E.Xani Presse-
und Verlags-GmbH, der die Zeitung seit über zehn Jahren herausgibt, wurde
verboten. Gegen die anderen betroffenen Institutionen laufen Ermittlungsverfahren.
Im Verlauf der Durchsuchungen kam es zu einigen Festnahmen. Als Rechtsgrundlage
für das Verbot musste das Vereinsgesetz herhalten. Die Herausgabe der Zeitung Özgür
Politika verstößt nach Auffassung von Innenminister Schily gegen das
1993 in der Bundesrepublik erlassene Betätigungsverbot gegen die PKK.
Schily erklärte dazu: „In
Anbetracht der erneuten Eskalation der Anschläge und Kampfhandlungen in
der Türkei bin ich nicht gewillt zu tolerieren, dass trotz eines bestandskräftigen
Betätigungsverbots gegen die PKK diese Organisation ihre Propaganda in Deutschland
offen verbreiten kann. Daran ändert auch die jüngst seitens der PKK
verkündigte ‚einseitige Waffenruhe‘ nichts, da bereits erneute
Kampfhandlungen in der Türkei zu verzeichnen sind“.
Der ehemalige RAF-Anwalt
und heutige Scharfmacher Schily folgt mit dieser Argumentation der chauvinistischen
Linie des türkischen Staates, der nach wie vor auf Vernichtung der kurdischen
Bewegung setzt, anstatt die kurdische Frage auf demokratischem Weg zu lösen.
Bereits in den neunziger Jahren hat die PKK mehrmals einseitige Waffenstände
ausgerufen, die von türkischer Seite keine Entgegnung fanden. 1999 wurden
die bewaffneten Kräfte aus dem Staatsgebiet der Türkei abgezogen. Da
der türkische Staat auf keines der Friedensangebote einging und sich die
Angriffe auf Guerilla und Zivilbevölkerung vermehrten, sah sich die kurdische
Bewegung gezwungen, aktive Selbstverteidigung zu betreiben. Bei seit dem Frühjahr
verstärkt stattfindenden Gefechten zwischen der türkischen Armee und
Guerillaeinheiten sind bereits wieder Hunderte Menschen ums Leben gekommen.
Die kurdische Bevölkerung
will Frieden, und so wird jedes Anzeichen eines Entgegenkommens des türkischen
Staates zum Anlass genommen, unverzüglich auf Gewaltmittel zu verzichten,
um einen Raum für Verhandlungen zu schaffen. Vor zwei Wochen verkündete
die Guerilla eine einmonatige militärische Aktionspause, nachdem Ministerpräsident
Erdogan in Diyarbakir erstmalig von einer demokratischen Lösung der kurdischen
Frage gesprochen hatte. Innerhalb dieser ersten zwei Wochen wurden die Angriffe
auf Guerilla und Zivilbevölkerung trotz alledem gesteigert, während
die Guerilla keine Aktionen ausführte. Eine Bilanz dieser Angriffe befindet
sich im Anhang.
Zur Eskalation führte
am Wochenende das Verbot einer in Gemlik geplanten Großdemonstration gegen
die Isolation Abdullah Öcalans und für eine demokratische Lösung
der kurdischen Frage. In Gemlik bei Bursa befindet sich der Schiffsanleger für
die Gefängnisinsel Imrali, auf der Abdullah Öcalan seit sechseinhalb
Jahren als einziger Gefangener unter verschärften Isolationsbedingungen
inhaftiert ist. Auf dem Weg zur Demonstration wurden aus der ganzen Türkei
kommende Busse gestoppt und zum Umkehren gezwungen. Auf dem Rückweg kam
es an mehreren Orten zu organisierten Angriffen von türkischen Faschisten.
Ein Bus, in dem sich fünfzig Menschen befanden, wurde angezündet. Die
Sicherheitskräfte griffen spät oder gar nicht ein. In Istanbul, wo
die Busse am Losfahren gehindert wurden, kam es in mehreren Stadtteilen zu Spontandemonstrationen.
Auch in anderen Städten finden nach wie vor Protestdemonstrationen und Straßenschlachten
mit den Sicherheitskräften statt.
Erst vergangenen Samstag
brachten 100 000 Kurdinnen und Kurden aus ganz Europa ihren Wunsch nach Frieden
und einer demokratischen Lösung bei einem „Internationalen Kulturfestival“ in
Köln zum Ausdruck. Diese Massenveranstaltungen verlaufen immer friedlich
und geordnet. Ebenso friedlich hätte die in Gemlik geplante Demonstration
verlaufen können.
Die Haltung des türkischen
Staates, in die sich Schily aus wahltaktischen Gründen einordnet, zeugt
von Unlogik und Unfähigkeit. Das seit 1993 in Deutschland bestehende PKK-Verbot
ist anachronistisch und nicht auf eine Lösung ausgerichtet. Es ist unsinnig,
die PKK als Terrorproblem zu behandeln. Der kurdische Befreiungskampf hat eine
dreißigjährige Geschichte und lässt sich nicht ungeschehen machen.
Repression, ob in der Türkei oder in Deutschland, kann aufgrund der Verankerung
der Bewegung in der kurdischen Bevölkerung nur in eine Sackgasse führen.
Eine Lösung kann nur im Dialog zwischen den betroffenen Parteien erarbeitet
werden. Europas Aufgabe dabei wäre es, einen solchen Dialog zu unterstützen,
anstatt sich der Politik des türkischen Staates in der Kurdenfrage anzupassen.
Bilanz nach zwei Wochen „Waffenstillstand“
Zwei Wochen nach der Verkündung einer einmonatigen Aktionspause der kurdischen
Guerilla (HPG) am 20. August ist keine positive Veränderung zu verzeichnen.
Weder die Militäroperationen sind eingestellt worden, noch hat die Repression
gegen die kurdische Bevölkerung und kurdische Institutionen aufgehört.
Der militärische Flügel im türkischen Staat beharrt auf Gewalt
und aus dem zivilen Bereich ist keinerlei Initiative zu erkennen. Die Guerilla
hat sich an ihren Beschluss gehalten und keinerlei Aktionen durchgeführt.
Am ersten Tag der Verkündung der einmonatigen Aktionspause hat in Besta
und am Herekol eine Militäroperation unter Beteiligung tausender Soldaten
und Dorfschützer begonnen. In Gabar ist aufgrund von Bombardierungen ein
Waldbrand ausgebrochen. In Dersim-Pülümür sind zwei HPG-Kämpfer
bei einem Gefecht im Rahmen einer Militäroperation gefallen. Auch bei der
türkischen Armee gibt es laut HPG-Angaben Verluste. In Bingöl-Genc
findet ebenfalls eine Militäroperation statt.
Am zweiten Tag nach der Kongra-Gel-Erklärung kam von Justizminister Cemil
Cicek eine negative Verlautbarung. Cicek erklärte, den Kongra-Gel-Beschluss
nicht ernst zu nehmen, da es sich bei der PKK um eine terroristische Organisation
handele. Ein Staat könne nicht auf eine Erklärung einer solchen Organisation
reagieren, teilte Cicek mit.
In Trabzon-Macka fand eine
wichtige Entwicklung statt. Drei HPG-Kämpfer erledigten Einkäufe im
Rahmen der Vorbereitungen auf einen Rückzug aus der Region aufgrund der
Kongra-Gel-Entscheidung und wurden aufgrund einer Denunziation angegriffen. Dabei
wurde Ferhat Haso aus Südwestkurdistan hingerichtet und Sinan Gencer verletzt
festgenommen. Ein weiterer Guerillakämpfer konnte entkommen. Als Gencer
zum Ort des Geschehens gebracht wurde, wurde versucht, ihn zu lynchen.
Am 22. August fand eine
Razzia im DEHAP-Gebäude in Elbistan statt. Dabei wurden vier Personen festgenommen.
Am selben Tag bombardierten Hubschrauber der türkischen Armee willkürlich
das Gebiet Deriye Cirkcirok.
Am 23. August war der wichtigste
Punkt der Agenda die Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates (MGK). Dabei
erklärte das Militär die kurdische Frage erneut zu einem „Terrorproblem“ und
verwarnte die Regierung.
Am selben Tag erschien
die Meldung, dass die Bewohner des 1994 entvölkerten Dorfes Dönertas
bei dem Versuch der Rückkehr dazu gezwungen wurden, als Dorfschützer
tätig zu werden. Wer sich weigerte, musste das Dorf erneut verlassen.
Gleichzeitig wurden Fabriken
in Silopi nahe der Grenze nach Südkurdistan von der türkischen Armee
beschossen, die ständig Grenzverletzungen verübt und grenzüberschreitende
Operationen androht. Die Bevölkerung von Silopi befindet sich deshalb in
Lebensgefahr.
Laut einer HPG-Erklärung
ist eine Schafherde durch von der türkischen Armee gelegte Minen am 23.
August in Hakkari vernichtet worden. Am selben Tag wurde im Zap-Gebiet eine Operation
eingeleitet. Durch einen zuvor gelegten Hinterhalt starben bei einer Explosion
zwei Soldaten der türkischen Armee, drei weitere wurden verletzt. Nach dem
Vorfall bombardierten Hubschrauber willkürlich das Gebiet. Dabei brach in
Ertus ein Waldbrand aus.
Am 24. August wurden der
DEHAP-Vorsitzende Tuncer Bakirhan und weitere Vorstandsmitglieder vor den Haftrichter
geschickt. Anlass auf den staatsanwaltschaftlichen Antrag auf Haftbefehl war
eine Abschlusserklärung einer DEHAP-Versammlung. Der Haftbefehl wurde vom
zuständigen Richter abgelehnt, allerdings wurde zur Auflage gemacht, dass
die Beschuldigten das Land nicht verlassen dürfen und sich einmal wöchentlich
bei der Polizei in Ankara melden müssen.
In Malatya überfiel
am gleichen Tag die Jandarma eine Hochzeit, weil angeblich eine PKK-Fahne bei
der Feier aufgehängt worden sei. Der befehlshabende Offizier gab den Befehl,
jeden zu erschießen, der sich rührt, weil für ihn kein Unterschied
bestehe zwischen den Hochzeitsgästen und „denen in den Bergen“.
In Izmir fand ein Lynchversuch an fünf vermeintlichen PKK-Anhängern
statt. In Batman wurde eine Militäroperation eingeleitet.
Am 25. August begaben sich
kurdische Frauen als Mitglieder der Initiative „Mütter für den
Frieden“ nach Ankara. Die Mütter wollten in Ankara mit Premierminister
Erdogan und dem Generalstabschef Özkök zusammen treffen, um ihre Forderung
nach einem zweiseitigen Waffenstillstand zum Ausdruck zu bringen. Aber entgegen
seiner zuvor in Diyarbakir gemachten Ankündigung, „jeden anzuhören,
der etwas zu sagen hat“, verweigerte Erdogan sich einem Treffen. Am gleichen
Tag genehmigte das Innenministerium ein Ermittlungsverfahren gegen den Bürgermeister
von Diyarbakir, Osman Baydemir, und weitere sechs Stadtratsmitglieder, weil diese
eine Ambulanz für eine Guerilla-Beerdigung gestellt hätten.
Auch in der Behandlung
Abdullah Öcalans, als dem eigentlichen Ansprechpartner in einem Dialog für
eine Lösung der kurdischen Frage, hat sich nichts geändert. Zwischen Öcalan
und seiner Verteidigung hat seit zwölf Wochen kein Kontakt stattgefunden.
Auch der Vorsitzende des
Menschenrechtsvereins (IHD), Yusuf Alatas, stellte fest, dass innerhalb dieser
einen Woche der Nationalismus und die Gewalt angestiegen seien. Der stellvertretende ÖDP-Vorsitzende
Hakan Taymaz, der zu der Gruppe von Intellektuellen gehört, die mit Premierminister
Erdogan vor dessen Diyarbakir-Besuch zusammen getroffen waren, bezeichnete die
Entwicklungen als „besorgniserregend“. Der Kongra-Gel-Beschluss sei
bedeutungsvoll, aber der Staat wisse dieses nicht zu nutzen, erklärte er.
In Batman-Besiri wurde
eine Militäroperation eingeleitet. Die Bevölkerung von Batman marschierte
ins Operationsgebiet, um die Operation zu stoppen. Nach der Verkündung des
zuständigen Gouverneurs, die Operation sei beendet, wurde auch die Demonstration
beendet. Aber bei der Militäroperation wurden sieben GuerillakämpferInnen
getötet. Unter bisher ungeklärten Umständen kam auch ein Zivilist
ums Leben. Auch zwölf Soldaten sollen ihr Leben bei der Operation verloren
haben. Als die Bevölkerung die Leichname der getöteten GuerillakämpferInnen
aus dem Leichenschauhaus holen wollte, setzte die Polizei Schusswaffen ein. Der
25-jährige Hasan Is wurde dabei durch einen Kopfschuss getötet. Es
kam zu zahlreichen weiteren Verletzten, Festnahmen und Verhaftungen.
Die Militäroperation
blieb nicht auf Batman begrenzt. In Van-Baskale wurde der HPG-Kämpfer Salih
Dogan Yildirim bei einer Operation getötet. Auch bei der türkischen
Armee soll es zu Toten und Verletzten gekommen sein. In Gabar und Besta wurden
ebenfalls Operationen eingeleitet. Das Gebiet Gabar wurde von Flugzeugen bombardiert.
Wälder in beiden Gebieten wurden in Brand gesetzt. Weitere Operationen fanden
in Silvan, Lice, Mardin und Yüksekova statt. In Siirt-Pervari wurden bei
einer Minenexplosion auf einem Weg zu einem Dorf zwei Menschen getötet und
fünf weitere verletzt. In Siirt-Kurtalan fanden Vorbereitungen für
eine Militäroperation statt. Bei einem Gefecht im Rahmen einer Militäroperation
in Eruh wurde ein Dorfschützer verletzt.
Auch die Angriffe auf die
kurdische Zivilbevölkerung wurden in der zweiten Woche fortgesetzt. Auf
der Insel Cunda im Kreis Ayvalik wurden kurdische Geschäfte von einer Gruppe
von 500 Menschen angegriffen. Am 31. August wurden Schafherden auf einer Hochalm
in Beytüsebap von Hubschraubern aus bombardiert. In Sirnak wurde versucht,
die Bewohner zur Beteiligung an einer vom Gouverneursamt und der örtlichen
Militärkommandantur organisierten Demonstration unter dem Motto „Nein
zum Terror“ zu zwingen.
In Van-Özalp wurden
Dorfbewohner als mutmaßliche Heizöl-Schmuggler von Soldaten beschossen.
Dabei wurden zwei Kinder von Kugeln getroffen. Vier Dorfbewohner wurden durch
Schlagstockeinsatz verletzt. In Burdur-Buca kam der kurdische Wehrdienstleistende
Osman Gültekin siebzig Tage vor seiner Entlassung ums Leben. Seine Familie
zweifelt die offizielle Selbstmordversion an.
In Yüksekova wurde
dem Bürgermeister M. Salih Yildiz der Zutritt zum offiziellen Empfang anlässlich
des türkischen Nationalfeiertages am 30. August verwehrt. Am gleichen Tag
fanden Razzien in mehreren Häusern von Guerillafamilien in Hakkari statt.
Die Begründung lautete auf „mögliche Aktionen am Nationalfeiertag“.
In Siirt wurden 29 Gräber
gefallener Guerillakämpfer auf einem Friedhof zerstört. In Bursa protestierten
400 kurdische Geschäftsinhaber gegen andauernde Personenkontrollen mit der
vorübergehenden Schließung ihrer Läden. In Nusaybin wurden sechs
DEHAP-Mitglieder und zwei Journalisten verhaftet, weil sie an der Trauerfeier
eines in Trabzon-Macka getöteten Guerillakämpfers teilgenommen haben.
Gegen den Bürgermeister
von Sur und vier weitere MitarbeiterInnen wurde ein Ermittlungsverfahren wegen
einer für den in Kiziltepe von Sicherheitskräften ermordeten zwölfjahrigen
Ugur Kaymaz errichteten Gedenkstätte eingeleitet.
Ein weiteres Ermittlungsverfahren
wurde gegen den Vorsitzenden des IHD Bingöl, Ridvan Kizgin, eingeleitet,
weil er den Ausdruck „HPG-Guerilla“ benutzt und die Verstümmelung
von Guerillaleichnamen öffentlich gemacht hat. Die einmal monatlich erscheinenden
Zeitschriften „Özgür Halk“ und „Genc Bakis“ wurden
staatsanwaltschaftlich verboten.
Quelle: Özgür
Politika, 27. August 2005, 3. September 2005, ISKU |
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