Antideutsche
Kriegsführung
Ein Lehrgang für AnfängerInnen
und Fortgeschrittene
Wenn im folgenden von ‚Antideutschen‘ die Rede ist, dann ist damit
eine Positionierung gemeint, die sich eigentlich in Gegnerschaft zu Kapitalismus,
(deutschem) Nationalismus und Imperialismus wähnt, aber – aufgrund
außergewöhnlicher, geradezu einmaliger Umstände – davon
absieht, um an der Seite der US-Alliierten etwas noch ‚Schlimmeres‘
zu verhindern. Im Zentrum vieler antideutschen Argumentationsfiguren steht deshalb
die Begründung eines Ausnahmezustandes, der das ‚eigentlich richtige‘,
sprich das eigene politische Handeln zugunsten einer Kriegsbefürwortung suspendiert,
die mit denUS-alliierten Kriegen gegen die „Achse des Bösen“
zusammenfällt.
Die Paradoxie, das ‚eigentlich falsche‘ für das ‚jetzt
richtige‘ zu halten, ist nicht besonders orginell und schon gar nicht einmalig.
Das Ganze hat Geschichte.
Die bellizistische Linke hat dies bereits vorgemacht, als sie im Zuge des US-alliierten
Krieges gegen den Irak 1991 antifaschistisches Gedankengut in die Kriegsschatulle
der Kriegskoalitionäre warf, um so dem stink-normalen imperialistischen Krieg
eine moralische und politische Legitimation zu verleihen.
Antideutsche Kriegsbefürwortungen betreten also kein Neuland. Sie treten
in die Fußstapfen einer billizistischen Linke, die ihren ausgerufenen ‚Ausnahmezustand‘
längst vergessen hat und mittlerweile gut, sprich ganz normal damit leben
kann.
Zwischen dieser bellizistischen Linken und den Antideutschen besteht aber auch
ein Unterschied.
Als die bellizistische Linke 1991 den US-alliierten Krieg gegen den Irak befürwortetete,
lag das Epizentrum politischer Erschütterungen noch in der Mitte einer linken,
liberalen und pazifistisch-gesinnten Öffentlichkeit. Sie sollte auf Kriegskurs
gebracht werden. Am besten war sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Mit der
Konversion antifaschistischer Denkfiguren zu kriegstauglichen Begründungen
hatte die bellizistische Linke staatstragende Bedeutung erlangt – was sich
bis ins deutsche Außenministerium hinein bezahlt machte.
Heute streitet die ‚liberale‘ Öffentlichkeit nicht mehr über
das prinzipielle ‚Ob‘, sondern über das nuancierte ‚Wie‘.
Heute streitet die ‚liberale‘ Öffentlichkeit nicht mehr über
die Notwendigkeit von Krieg, sondern über den notwendigen Grad der Enttabuiiserung
des Militärischen. Dieser Transformationsprozeß kann als abgeschlossen
bezeichnet werden. Der Umbau der Grünen von einer pazifistischen (Oppositions-)Partei
hin zu einer kriegsführenden (Regierungs-)Partei in weniger als zehn Jahren
fügt sich darin nahtlos ein.
In diesem Kontext sind antideutsche Kriegsbegründungen und -befürwortungen
bedeutungslos. Sie werden als Argumentationshilfen und -(Kriegs-)anleihen nicht
mehr gebraucht.
Dennoch blieben antideutsche Argumente nicht ohne Wirkung. Viele Anti-Kriegs-Gruppen
setzten sich mit diesen auseinander. Einige zerstritten sich an den aufgeworfenen
Fragen und nicht selten führte die Befürwortung US-alliierte Kriege
zu persönlichen Zerwürfnissen und politischen Gegnerschaften.
In diesem Text geht es weniger darum, den BefürwortInnen von US-alliierten
Kriegen die politische Gegnerschaft zu erklären. Für mich persönlich
ist eine solche Kriegsbefürwortung indiskutabel.
Mir geht es vielmehr darum, zentrale Axiome aufzugreifen, die in ihrer Verknüpfung
und Verkettung in ein reaktionäres Politik- und Gesellschaftsverständnis
münden. Dabei kreisen viele der darin verwandten Argumentationsfiguren um
blinde Flecken, Leer- und Bruchstellen linker Politik der letzten 30 Jahre.
Auf die darin vorgenommenen Ausdeutungen möchte ich antworten. Ihnen will
ich in allen wesentlichen Punkten widersprechen.
Woher kommen die Antideutschen? Wer steckt dahinter? Warum liest man so viel darüber
und sieht dabei so wenig?
Wer Lust an (psychoanalytischen) Spiegelungen hat, könnte verschwörungstheoretisch
antworten und ein antideutsches Kartell aufdecken: mit ‚Bahamas‘ als
Zentralorgan, ‚Jungle Word‘ als pluralistische Vorfeldpublikation,
antideutschen AutorInnen als Führungskader, einzelnen Antifa-Gruppen als
Interventionstruppen – und nicht zu vergessen, mit ‚Konkret‘
als aktuelles antideutsches Aussteigerprogramm und Reha-Zentrum für ehemalige
Kriegskoalitionäre.
Ein solch makabres Szenarium würde zu aller Erst der eigenen Genugtuung dienen
– und der Lust, sich selbst zu erschrecken. Es wird den zum Teil recht unterschiedlichen
biographischen und politischen Hinter- und Beweggründen nicht gerecht. Nicht
alle antideutschen Positionen münden automatisch in Zustimmung von US-alliierten
Kriegen. Genauso wenig sind alle Kritiken an antisemitischen Positionen in der
radikalen Linken, an nationalen Befreiungskonzepten und antiimperialistischen
Strategien nur deshalb falsch und unbedeutend, weil sie in einen antideutschen
Diskurs miteingebunden sind.
Mir geht es darum, jenseits personeller Zuschreibungen, so etwas wie einen Fahrtenschreiber
für antideutsche Kriegsdiskurse zu erstellen. Damit möchte ich nicht
nur verhindern, im Gestrüpp individueller Gegenreden hängen zu blieben.
Mir geht es gleichermaßen darum, an den verschiedenen Knotenpunkten antideutscher
Erzählweisen inne zu halten, um Gegenpositionen deutlich zu machen.
Das Problem an einer solchen argumentativen Gegnerschaft ist und bleibt jedoch,
daß sie nur bedingt greift. Sicherlich stoßen antideutsche Denkfiguren
und historische Einordnungen auch in der radikalen Linken auf viel Unwissenheit.
Allzu oft wird eine antideutsche Provokation wie zum Beispiel ein Plakat im Frankfurter
FH-Asta: ‚Lange lebe Israel‘ oder eine israelische Staatsflagge auf
einer Anti-Kriegsdemonstration in Düsseldorf mit Reaktionen beantwortet,
die den antideutschen ‚Opfern‘ Zutritt zu einer imaginären Diaspora
gewähren – umgeben von Feinden von ganz rechts bis ganz links, von
ganz oben bis ganz unten. Selten werden diese Positionen dazu gezwungen, aus der
Provokation herauszutreten, sich an einer politische Praxis messen zu lassen,
die verbal zumindest noch vorgibt, in Opposition zu den herrschenden Verhältnissen
zu stehen. Die eigene Unsicherheit, argumentativ nicht ausreichend gewappnet zu
sein, dem moralischen Super-Gau antideutscher Selbstinszenierungen keine eine
politische Praxis entgegensetzen zu können, verleitet zu lächerlichen
Show-downs, die das antideutsche Drama ins persönlich-familiäre übersetzen.
In diesem Sinne ist es notwendig, antideutschen Positionen auch inhaltlich zu
widersprechen.
Meine Befürchtung jedoch ist, daß damit das antideutsche Phänomen
nur bedingt erklärt werden kann. Denn die Faszination für antideutsche
Haltungen speist sich weniger aus argumentativer Stärke, als aus einem radikalen
Gestus, auf deren Bedeutung ich am Ende dieses Textes zurückkommen werde.
Und noch etwas besticht ganz gewaltig in der antideutschen Weltansicht: Sie ist
eindeutig, klar, wie ein gerader Strich, von der deutschen (Nazi-)Vergangenheit
zum Horizont des bald Drohenden gezogen, ohne Bedenken, Brüche, Widersprüche,
Zweifel und Ungewissheiten – und Scham vor historischen Relativierungen.
Eine Welt, so dichotom wie schlicht: Da ist zum einen Deutschland, von oben bis
unten, von links bis rechts, von Frau bis Mann volksgemeinschaftlich geeint und
zur Wiederholung nazistischer Verbrechen bereit. Und auf der anderen Seite Israel,
Heimstätte der Opfer des Holocaust und finaler Endpunkt des eliminatorischen
Antisemitismus. Israel, Ort jüdischen Daseins, das abermals kurz vor der
Auslöschung steht – was mit allen Mitteln verhindert werden muß.
Eine weltpolitische Lage, die die 40er Jahren nachstellt und zu entsprechend regressiven
Schlußfolgerungen führt: Bühne frei für die US-alliierten
Befreier.
Man kann die Dummheit dieser historischen Analogien und Kurzschlüsse in der
Luft zerreißen. Man sollte es tun. Was diese antideutsche Weltsicht jedoch
so faszinierend macht, ist nicht die (Tiefen-)Schärfe der Analyse, sondern
deren Schlichtheit.
Während antideutsche Positionen im Anschlag auf das WTC einen eliminatorischen
Antisemitismus, im Islamismus einen religiös-verbrämten Faschismus und
von Taliban bis Hisbollah deren terroristischen Handlanger ausmachen und im selben
Atemzug die US-Allierten zur Befreiung, zur Rettung der Zivilisation, beauftragen,
tun ‚wir‘ uns schwer.
Wir zweifeln an der US-alliierten Version, die bereits einen Tag nach den Anschlägen
vom 11. September 2001 Bin Laden zum Urheber der Anschläge machte. Wir zweifeln
an den Menschenrechtszielen dieses begonnenen (Welt-)Krieges. Wir halten ökonomische
Interessen, die riesigen Erdöl- und Gasvorkommen in Zentralasien, die neu
verteilt werden, für relevant, aber nicht für die einzige Erklärung.
Wir bemühen uns, ein eigenes Bild von den Taliban, Gotteskriegern und dem
Islam als Antipode zum ‚Westen‘ zu machen. Wir lehnen es entschieden
ab, die US-Alliierten damit zu beantragen, diese reaktionäre Gegnerschaft
zum ‚Westen‘ dem Erdboden gleich zu machen und stehen den Fragen erst
einmal rat- und hilflos gegenüber: Wie könnte unsere eigene Gegnerschaft
aussehen? Mit wem könnten wir unsere Feindschaft teilen?
Wir teilen die Kritik an einem Antiamerikanismus und haben Angst, (wieder und
anders) von Imperialismus zu sprechen. Wir spüren das heillose Durcheinander
vieler Überlegungen, die Unmöglichkeit, diese in eine tragfähige
Analyse und Strategie zu übertragen. Uns fehlt eine Praxis, in der unsere
Gegnerschaft erlebbar wird und an der die Entwicklung einer Theorie Anteil hat.
Von all dem scheinen sich antideutsche Positionen ‚befreit‘ zu haben.
Sie haben sich in eine weltpolitische Lage hinein halluziniert, in der jede radikale
Opposition zu spät ist, in der ihr eigenes Handeln und Tun bedeutungslos
wird, angesichts der Zuspitzung, auf die nur noch die US-Alliierten eine Antwort
haben. Sie verknüpfen ihre eigene totale Entpolitisierung mit einer Militarisierung,
die den US-Allierten Bombern folgt, mit der typischen Überdosis von ‚Drückebergern‘,
die ihr sicheres Zuhause mit noch radikaleren Kriegsdrohungen zu kaschieren versuchen.
Antideutsche, antinationale Positionen haben sich nicht neu erfunden. Sie sind
aus der Kritik all zu schlichter und einfacher Imperialismusanalysen und Solidaritätsbekundungen
(von ‚USA-SA-SS‘ bis hin zum ‚Sieg im Volkskrieg‘) hervorgangen.
Sie wuchsen an der Kritik einer internationalistischen Solidaritätsarbeit,
die die eigenen Kämpfe um Befreiung an die Guerilla in Latein- und Mittelamerika
delegierte, die den bewaffneten Kampf vorallem am Feind maß und nicht an
den gesellschaftlichen Vorstellungen, die darüber hinauswiesen. Eine Kritik,
die an das Verbundensein mit den weltweiten Kämpfen mehr Anforderungen stellte,
als die gemeinsame Gegnerschaft, an die eigene politische Glaubwürdigkeit
mehr als den (geborgten) radikalen Gestus.
Es gehört zur Ironie antideutscher Begebenheiten, daß sie sich aus
und in diesen (produktiven) Brüchen und Widersprüchen entwickelten,
um mit ihrem neugeschaffenen Weltbild – unter anderen Vorzeichen –
dort zu enden, wo selbst die politischen Kurzschlüsse der 70er und 80er Jahre
nicht hinreichen. Mit einem entscheidenden Unterschied: sie wollen selbst nichts
mehr verändern. Sie basteln an einem schein-radikalen Abgang, der verdecken
soll, daß ihre politischen Konsequenzen dort anklopfen, wo schon viele vor
ihnen mit der Abrechnung linker Geschichte die „Rückkehr in die Menschlichkeit“
(Buchtitel des RZ-Aussteigers und Angeklagten im OPEC-Prozeß Hans-Joachim
Klein) einläuteten: im deutschen Außenministerium.
Ich werde mich im folgenden i.w. auf die Stellungnahmen und Ereignisse rund um
den in Afghanistan begonnenen US-Alliierten (Welt-)Krieg 2001 konzentrieren.
Dabei sollte nicht vergessen werden, daß linke Kriegsbefürwortungen
bereits auf eine gewisse Tradition zurückgreifen können.
Der Exodus vorallem namhafter deutscher Linker begann mit dem US-Alliierten Krieg
gegen den Irak 1991. Die Reihe linker KriegsbefürworterInnen reichte von
Hans Magnus Enzenberger, Wolf Biermann, Dan Diner bis hin zu zum Konkret-Herausgeber
Hermann L. Gremliza und seinem Hausautoren Wolfgang Pohrt. Die Konversion antifaschistischer
Argumentationen in waffenfähiges Kriegsgerät für einen stink normalen
imperialistischen Krieg bediente sich vorallem zweier Gedankengänge, die
auch für die Befürwortung der folgenden US-alliierten Kriege Verwendung
fanden:
Im Mittelpunkt stand die existentielle Bedrohung des Staates Israels durch den
Irak. Antisemitismus, machtpolitisches Kalkül und die Erinnerung an den Holocaust
wurden kurzgeschlossen, die ‚Endlösung der Judenfrage‘ im NS-Staat
wurde mit der Politik des Iraks gleichgeschaltet.
Dazu exportierte man den deutschen Faschismus in den Irak, machte aus dem ‚Hundesohn
des Westens‘ „Hitler’s Wiedergänger“ (Hans Magnus
Enzenberger), aus der irakischen Armee eine SS-Sturmtruppe und Leibgarde. Auf
der anderen Seite dieser Bühneninszenierung traten die US-Allierten als Befreier
auf, die den militärischen Sieg über das Nazi-Deutschland im Irak nachspielen
sollten.
Zum Ersatz oder komplementär wurde eine zweite Bühne aufgebaut. Der
Präsident des Iraks, Saddam Hussein, wurde als barbarischer ‚Schlächter‘
präsentiert, der auf ‚unsere‘ Regeln und Werte scheißt,
mit dem man nicht reden kann, der nicht ‚vertragsfähig‘ ist.
Aus der Reihe umgänglicher und nützlicher Diktatoren verbannt, rief
man zu seiner Beseitigung auf, als ‚Tyrannenmord‘ kostümiert.
Das Gegenbild war darin bereits eingezeichnet: Der „zivilisatorische Westen“,
der bei allen (Kapitalismus-)Kritik, angesichts solch drohender Barbarei, verteidigt
werden muß.
Beiden Denkfiguren (linken) KriegsbefürworterInnen des US-alliierten Krieges
gegen den Irak werden wir im begonnenen (Welt-)Krieg gegen Afghanistan wiederbegegnen.
Antideutscher Ausnahmezustand (im
Inneren)
Mit geradezu insulanischem Weitblick inspizierte die ‚Bahamas‘ die
innerdeutsche Kampffront nach den Anschlägen vom 11. September 2001: „...
von der FAZ bis zu den Autonomen reicht die Gemeinschaft derer, die sich klammheimlich
darüber freuen, daß dem ‚großen Teufel Amerika‘ nun
dasselbe Schreckliche widerfährt wie dem ‚kleinen Teufel Israel‘.“
„Kaum fielen die ersten Bomben auf Afghanistan, machten die Friedensfreunde
von DKP bis NPD, von Horst Mahler bis Günter Grass an der Heimatfront mobil.“
(Andrea Albertini, Jungle World vom 17. OKtober 2001).
Noch weiter holte das u.a. mit „antideutsche Gruppen“ unterzeichnete
Papier „Kritische Fragen an den friedensbewegten Protest“ aus. Was
zum Schein in Frageform offen gehalten wird, kann als programmatische Feststellung
verstanden werden: „Erzwingt die Tatsache, daß von islamistischer
Seite ... der Anschlag vom 11.9. (...) rationalisiert wird, nicht notwendig den
Schluß, daß die Antikriegsbewegung und die expliziten Apologeten des
islamistischen Terrors geistig miteinander verwandt sind?“
Und zur Abrundung dieses Sittengemäldes sei Tjark Kunstreich aus der Jungle
Word vom 13. Februar 2002 zitiert: „Der schon legendäre antisemitische
Bekenntnisdrang auf Indymedia nach dem 11. September war keineswegs eine vorübergehende
Erscheinung ... Wo deutsche Linke sich zusammenrotten, faßt man auch schon
mal Mut, es den „Judenknechten“ und „Zionistenschweinen“
zu zeigen: So auf Demonstrationen in Düsseldorf, Freiburg und unlängst
anläßlich des alljährlichen Totentanzes an der Gedenkstätte
der Sozialisten in Berlin, wo Leute mit pro-israelischen Transparenten beschimpft
bzw. von den Veranstaltern ausgeschlossen wurden ... Mit anderen Worten: Was der
politischen Klasse die Walser-Rede war, ist der deutschen Linken der 11. September.“
Der Bogen war gespannt. Er reicht von der NPD bis zur politischen Klasse, von
DKP bis zur PDS, von der deutschen Linken bis zu den Antiimperialisten hier in
Deutschland – von Hamas bis Hisbollah im Nahen Osten, von Saddam Hussein
bis zu den Taliban, von Al Qaida in Afghanistan bis wo auch immer. Eine unheilvolle
Allianz von Mitgliedern und Sympathisanten des „islamistischen Terrors“.
Ein Stimmungsbild, aus dem nur eines herausragt: Der antideutsche Leuchtturm,
einziger Lichtblick inmitten einer pechschwarzen Nacht.
Was dieses völkisch konturierte Horrorkabinetts zusammenhält, deckt
wirklich alles ab, was die (deutsche) Linke in den letzten 20 Jahren zu kritisieren
gelernt hat: vom (verkürzten) Antikapitalismus bis zum Antiamerikanismus,
vom (linken) Antizionismus bis zum (eliminatorischen) Antisemitismus.
Wer nur Feinde um sich weiß und dabei auf nur halbherzige Freunde bauen
kann, lebt nicht nur verdammt gefährlich. Er weiß, daß er verhöhnt,
geschlagen, gejagt, gehetzt, verfolgt wird – vom völkischen Mob, von
den Linken, von der deutschen Regierung und den weltweit operierenden ‚Djihadisten‘.
Nirgendwo kann ein Antideutscher sicher sein, überall lauert die Gefahr.
Wer dieser Gefahr unerschrocken in die Augen sieht, wer ihr trotzdem die Stirn
bietet, der beweist ungeheuren Mut – und genau das soll der antideutsche
Frontverlauf suggerieren.
Daß dieses Feindgemälde nicht nur zur dekorativen Innenausstattung
antideutscher Architekten gehört, sondern das wirkliche Leben widerspiegelt,
kann der Stellungnahme der ‚Antifaschistischen Aktion Dortmund‘ entnommen
werden:
„‚Kein Frieden den Feinden Israels‘, so stand es auf dem Transparent
einiger proisraelischer DemonstrantInnen, die sich am 17. November 2001 auf die
ruhrgebietsweite Friedensdemonstation nach Dortmund begaben. In einer Zeit, in
der die Existenz Israels, nicht zuletzt durch das Abrücken der USA, bedroht
ist wie nie zuvor, erkannten proisraelische DemonstrantInnen die Notwendigkeit,
eindeutig ihre Solidarität mit Israel kundzutun ... .Als die proisraelischen
DemonstrantInnen sich trotz massiven Gewaltandrohungen seitens des zornigen völkischen
Mobs nicht davon abhalten ließen, ihre Argumentation weiter vorzutragen,
wurden sie kurzerhand von den ganz und gar nicht friedlichen „FriedensfreundInnen“
handfest attackiert ... Bezeichnender Weise gingen die massivsten Gewaltandrohungen
von einem vermeintlichen Genossen aus Dortmunder „Zusammenhängen“
aus. Dieser antiimperialistische Kämpfer konnte sich nach eigener Aussage
kaum zurückhalten, die DemonstrantInnen ... zusammenzuschlagen.“
Wenn man die neuzeitlichen Bezüge herausnimmt, wähnt man sich mit dieser
Stellungnahme in Zeit der NS-Judenpogrome versetzt. Alle schauen zu, alle lassen
es geschehen. Selbst die USA als mächtigste Schutzmacht lassen Israel im
Stich. Nur einige „proisraelische DemonstrantInnen“ zeigen Flagge,
umzingelt vom „völkischen Mob“, angeführt von einem „antiimperialistischen
Kämpfer“. „Ein vermeintlicher Genosse“, eine versteckte
Andeutung, die mit dem Hitler-Stalin-Pakt zu Ende gedacht werden darf.
Man muß nicht antideutsch sein, um den Pazifismus großer Teile der
Friedensbewegung zu kritisieren. Auch die Kritik am Antiamerikanismus ist kein
orginäres Zeugnis antideutscher Positionierungen. Selbst auf die Kritik an
einem Antiimperialismus, der ausschließlich in ökonomischen Kategorien
gedacht und verstanden wird, auf eine Kapitalismuskritik, die in ihrer Personalisierung
und Verkürzung auf das (spekulative) Finanzkapital dem Antisemitismus in
die Arme läuft, haben Antideutsche keine Urheberrechte. Sie haben diese aufgegriffen
und zueinander in Beziehung gesetzt und damit ihren Anteil, daß bestimmte
linke Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt, neu gedacht und in eine
andere Praxis umgesetzt werden müssen.
Woher kommt aber diese unverschämte Ignoranz, mit der Antideutsche dieses
geborgte Wissen nur sich selbst zuschreiben? Woher kommt diese Arroganz, mit der
sie all die Ansätze und Bemühungen zum Verschwinden bringen, die sich
um eine Umsetzung, um eine Praxis bemühen, in der diese (Selbst-)Kritik aufgehoben
ist?
Der erwähnten Stellungnahme, dem darin aufgeschäumten Pathos geht es
um etwas ganz anderes. Das Ereignis ist nur der Stoff für ein (säkulares)
Martyrium, in dem Antideutsche als verfolgtes jüdisches Leben reinkarnieren,
in der Diaspora lebend, selbst von den ehemaligen GenossInnen verraten und verkauft.
Antideutsche Außenansichten
Der Innenansicht muß eine Beschreibung der Weltlage folgen, die dahinter
nicht abfallen will. Eine Lageanalyse, die die eigene Selbsttraumatisierung nicht
der Lächerlichkeit preisgeben darf, sondern mit harten, grauenerregenden
Fakten bestätigt.
Nur einen Tag nach den Anschlägen auf das Word Trade Center und das Pentagon
(amerikanisches Verteidigungsministerium) am 11. bSeptember 2001 wußte die
US-Regierung alles, was ihnen in den monate- und jahrelangen Vorbereitungen für
diese Anschlagsserie entgangen ist: Bin Laden ist der geistige Drahtzieher dieser
Anschläge, Al Qaida die weltweit agierende Organisation, die Taliban in Afghanistan
die „Herberge“ und zwischen fünf und 60 Staaten, die solche Angriffe
auf die eine und andere Weise unterstützen.
Ein wenig später, dafür wieder auf der Überholspur, wußten
antideutsche Krieger nicht nur genau dasselbe. Sie wußten mehr, um nicht
zu sagen, die ganze Wahrheit. Auch sie brauchten dafür keine Beweise, so
wenig wie die Nato, die sich zwei Tage nach den Anschlägen in den Kriegszustand
versetzte. Während die US-Alliierten alle Hände voll zu tun hatten,
ganz pragmatisch für ihr erstes Kriegsziel zu mobilisieren und dafür
die ‚Allianz gegen den Terror‘ (eine Mischung aus Gotteskriegern,
Diktaturen und christlichen Fundamentalisten) zusammenzustellen, nahmen sich Antideutsche
die Zeit, die Anschläge historisch und ideologisch einzuordnen. Die Bandbreite
reichte von: „Die antisemitische Komponente (der „massenmörderischen
Angriffe“) ist unübersehbar“ (Andrea Albertini, jw vom 17. Oktober
2001) bishin zum ultimativen Schluß, bei den Anschlägen handele es
sich um „ein faschistisches Massaker eliminatorischer Antisemiten“
(Flugblatt antifaschistischer Gruppen aus NRW). Als gemeinsame Mitte beider Erklärungen
kann das World Trade Center gedacht werden, das von den Attentätern als antisemitisches
Symbol für das weltweit-agierende (amerikanisch-jüdische) Finanzkapital
getroffen werden sollte
Auffallend an dieser Analyse ist die Schlampigkeit, mit dem hier eine Eindeutigkeit
vorgegeben wird, für die die tatsächlichen Ereignisse nach eigenem Belieben
zusammengestellt bzw. auseinander gerissen werden.
Was ist, wenn die Attentäter gar nicht so ahnungslos wie ihre antideutschen
Analytiker waren, und neben dem im Word Trade Center vertretenen Finanzkapital
gleichermaßen die Repräsentanten des produktiven Kapitals treffen wollten?
Warum taucht in der Analyse nur das World Trade Center als Angriffsziel auf, das
sich in der Tat für antisemitische Projektionen hervorragend eignet? Wo bleibt
die Ausdeutung des Angriffes auf das amerikanische Verteidigungszentrum, das Einbeziehen
anderer, gescheiterter Angriffsziele?
Wenn eine Analyse nur annähernd an die Motive der Attentäter heranreichen
will, dann muß diese doch zu aller Erst die Tatsache zur Kenntnis und zum
Ausgangspunkt nehmen, daß der Angriff auf das World Trade Center, der Angriff
auf das amerikanische Verteidiungszentrum, und der mutmaßlich fehlgeschlagene
Angriff auf das ‚Weiße Haus‘ als eine gemeinsame, aufeinander
abgestimmte Aktion begriffen werden muß!
Eine solche Selbstverständlichkeit würde das erwünschte Ergebnis
irritieren. Die zur Schau gestellte Eindeutigkeit würde wie ein Kartenhaus
in sich zusammenbrechen.
Fakt ist, daß man über die Motive und Hintergründe der Täter
bis heute nichts weiß. Weder gibt es ein Bekennerschreiben, noch sonst irgend
etwas, was die Täter zur Begründung ihrer Anschläge hinterlassen
haben.
Fakt ist auch, daß für die antisemitische Deutung dieser Anschläge
nicht nur die Intention der Attentäter entscheidend ist. Nicht minder wichtig
ist die Beantwortung der Frage: Wie werden diese Anschläge ‚gelesen‘?
Wer interpretiert diese Anschläge? In welchem Namen werden diese Interpretationen
vorgenommen?
Es gibt unzählige Stellungnahmen, die sich in Bezug zu diesen Anschlägen
setzen, Versuche, diese zu werten und ideologisch zuzuordnen. Im besten Fall geht
es dabei darum, die
Wirkung dieser Anschläge in dem jeweiligem gesellschaftlichen
Kontext, in dem sich die Ausdeutungen bewegen, einzuschätzen. Im schlechtesten
Fall, der mit dem Grad der ausgeübten Informationshoheit zusammenfällt,
geht es darum, die Lesart der Anschläge zu diktieren, zu monopolisieren.
Entscheidend hierfür sind nicht die eigentlichen oder vermeintlichen Motive
der Attentäter, sondern die Art und Weise, wie andere diese Anschläge
verstehen oder zu verstehen haben. So unterschiedlich die gesellschaftlichen und
politischen Kontexte, so unterschiedlich die macht-politischen Standorte sind,
aus denen heraus diese Anschläge beurteilt werden, so unterschiedlich fallen
die Ausdeutungen aus.
Für den US-Präsidenten Bush wurde „Amerika“ Angriffsziel,
„weil wir in der Welt die strahlendste Fackel der Freiheit und der Selbstverwirklichung
sind.“ (FR vom 13. September 2001)
NATO-Generalsekretär Robertson will die Anschläge als „nicht hinnehmbaren
Angriff auf die Demokratie“ (FR vom 12. September 2001),
Bundeskanzler Schröder will sie als „Krieg gegen die USA ... als Krieg
gegen die zivilisierte Welt“ (FR vom 20. September 2001) verstanden wissen.
Für den Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz war es
ein „Angriff auf die Zivilisation, auf die Freiheit und Offenheit unserer
Gesellschaften ... Das Böse schlechthin ...“ (FR vom 13. September
2001)
Für den PDS-Fraktionsvorsitzenden Roland Claus wurde dabei auch und zugleich
„das Herz nicht nur der amerikanischen, auch der Weltgemeinschaft getroffen.“
(FR vom 13. September 2001)
Für kritische, liberale AutorInnen des ‚freien Westens‘ wurde
mit diesen Anschlägen eine „Zitadelle des Kosmopolitismus“ getroffen,
ein „Massenmord an einer beispiellosen ‚community of colour‘“
(FR vom 2./3. Oktober 2001) verübt. Einige halten gar einen „Angriff
auf die US-amerikanische Intelligentsia“ für nicht ausgeschlossen,
denn: „Manhatten hat vermutlich die weltweit höchste Dichte an Schriftstellern
und Denkern pro Quadratkilometer aufzuweisen.“ (FR v. 2./3. Oktober 2001)
Gehen wir einmal davon aus, daß all diese Ausdeutungen nicht nur für
sich ganz alleine stehen, sondern eine einen relevanten Teil der Öffentlichkeit
im Westen repräsentieren bzw. formatieren. Dann liegt doch der Schluß
nahe, daß große Teile repräsentierter Öffentlichkeit in
den Anschlägen vorallem einen Anschlag auf den ‚zivilisierten Westen‘
sehen. Eine Wertung und Betrachtung, in der sich Regierung und (parlamentarische)
Opposition, Millionäre wie (Billig-)LohnemfängerInnen, Frauen wie Männer,
mehr oder weniger geeint sehen (sollen).
Keine Frage werden in dieser Meinungsbildung Stimmen, die dazu quer liegen, nicht
auftauchen. Stimmen, die sagen, daß es „den Amerikanern“ recht
geschieht, Stimmen, in denen Schadenfreude zum Ausdruck kommt, daß es „die“
auch mal erwischt, Stimmen, in denen sich ein liberaler, eurozentrierter Antiamerikanismus
artikuliert oder ein lächerlicher Antiimperialismus, der die weltweite Ausbeutung
und Unterdrückung zu den eigentlichen Urhebern dieser Anschläge erklärt.
Dazu zählen auch jene neonazistischen und neofaschistischen Gruppen und Parteien,
die in diesen Angriffen das „jüdisch-amerikanische Finanzkapital“
getroffen sehen und deshalb gutheißen.
Zur Beantwortung der Frage, ob diese Anschläge antisemitisch begriffen bzw.
im antisemitischen Weltbild ‚gelesen‘ werden, reicht nicht, auf Neonazis
und Neofaschisten zu verweisen. Entscheidend ist die Mächtigkeit, mit der
eine Ausdeutung und Einordnung unternommen wird, mit welchem Zuspruch, mit welcher
Zustimmung diese rechnen können. Da es keine eigene Untersuchungen dazu gibt
– weder von Antideutschen, noch von der radikalen Linken – sind wir
auf die Auswertung bürgerlicher Öffentlichkeit angewiesen, deren Hegemonialität
als Bewußtseinsindustrie auch von Antideutschen nicht (ernsthaft) bestritten
werden kann. Wenn man all dies einigermaßen nüchtern voraussetzt, wenn
man sich die unterschiedlichen Ausdeutungen vergegenwärtigt, dann kann eines
ganz sicher festgehalten werden: Die Anschläge vom 11. September 2001 werden
am aller wenigsten im antisemitischen Kontext gelesen und verstanden. Zentral
ist vielmehr der Versuch, sie als Angriff auf die ‚westliche Zivilisation‘
zu deuten.
Anstatt sich der politischen Bedeutung dieser Ausdeutungen zu stellen, anstatt
zu begründen, warum diese Ausdeutungen ohne Belang sind, genügt sich
die antideutsche Analyse mit einer schein-radikalen Gestus.
Warum neben dem Antisemitismus, andere reaktionäre Ideologien keine Erwähnung
und Einordnung erfahren, warum sich Antideutsche nicht in politische Gegnerschaft
dazu setzen, hat gute Gründe.
Denn knapp hinter der schein-radikalen Geste findet ein Rückgriff auf genau
jene Ideologien statt, die nun auch Antideutsche zur Rettung der Welt bereithalten.
Genau dann nämlich, wenn sie angesichts der (drohenden) islamistischen-faschistischen
Barbarei zur Verteidigung der westlichen Zivilisation aufrufen.
Ich werde später darauf noch ausführlicher zurückkommen.
Für die Behauptung, daß diese Anschläge
nur antisemitisch
zu verstehen und zu werten sind, verweisen Antideutsche nicht nur auf Neonazis
und antiamerikanische Ressentiments, die ohne viel Federlesens kurzgeschlossen
werden. Ein Antiamerikanismus, der jenseits antideutscher Zusammenlegungs-Forderungen,
auch ohne Antisemitismus auskommt.
Als Beweis führen sie vorallem Zitate aus Stellungnahmen von Al Qaida auf,
die vor und während dem US-Alliierten Krieg in Afghanistan der westlichen
Öffentlichkeit präsentiert wurden. So zitierte die Nachrichtenagentur
afp den Al-Qaida-Sprecher Suleiman Abu Gheith mit folgenden Worten: „Wir
ächzen seit mehr als 80 Jahren unter dem Joch der gemeinsamen Aggression
von Juden und Kreuzrittern ... Die jungen Männer, die die Vereinigten Staaten
zerstört haben ... vollbrachten eine gute Tat. Sie trugen die Schlacht ins
Herz der USA. Mit Gottes Einverständnis wird die Schlacht auf ihrem Territorium
weitergehen, bis sie unsere Länder verlassen, die Unterstützung der
Juden beenden und das ungerechte Embargo gegen das irakische Volk aufheben, das
mehr als eine Million Kinder verloren hat ...“ (FR v. 11. Oktober 2001)
Auf der Webseite der britischen Regierung wurde Osama bin Laden mit einer im Februar
1998 öffentlich gemachten Fatwa (ein religiöses Rechtsgutachten) zitiert,
die einen verpflichtenden Aufruf an alle Muslime enthielt: „... das Töten
von Amerikanern und ihren zivilen und militärischen Verbündeten ist
für jeden einzelnen Muslim ... eine religiöse Pflicht, bis die Al-Aksa-Moschee
aus der Umklammerung der Amerikaner befreit ist und ihre Armeen muslimisches Gebiet
geräumt haben.“ (FR v.9. Oktober 2001)
Keine Frage: diese Stellungnahmen machen sich nicht nur die Anschläge vom
11. September 2001 zu eigen. Mit ihnen verknüpft sich ein Weltbild, das ideologisch
von Antisemitismus und Antiamerikanismus gleichermaßen geprägt ist.
Teilen wir einmal, für einen längeren Gedankengang, die antideutsche
(und US-Alliierte) Logik, daß sich mit diesen Stellungnahmen Bin Laden und
Al Qaida als Auftraggeber und Attentäter selbst überführt haben.
Teilen wir für diesen Gedankengang weiterhin, daß es sich dabei um
antisemitische Anschläge gehandelt hat.
Was hat das noch mit linker, revolutionärer Politik zu tun, die US-Alliierten
mit der Beseitigung antisemitistischen Terrors zu beauftragen?
Nicht einmal für bürgerliche Zeitungen ist es ein Geheimnis mehr, daß
Bin Laden, als antikommunistischer Held verehrt, die Taliban, aus den Mudschaheddin
hervorgegangen, die Koranschulen in Pakistan als Rekrutierungsbasis für ‚Gotteskrieger‘
und der pakistanische Geheimdienst als Dienstleister und Organisator, von den
USA mitfinanziert und ausgerüstet wurden, um sie als Bodentruppen gegen die
damalige sowjetische Besatzungsmacht in die Schlacht zu schicken. Wie kann man
die US-Alliierten mit etwas beauftragen, was die USA mit dem größten
verdeckten CIA-Auslandseinsatz nach dem Zweiten Weltkrieg stark gemacht haben?
Dabei war den USA der Islam so egal wie das Gesellschaftsbild, das damit entworfen
wurde. Und am aller wenigsten ging es darum, die afghanische Bevölkerung
‚glücklich‘ zu machen. Primäres Ziel war es, der damaligen
Sowjetmacht ein „zweites Vietnam“ in Afghanistan zu bereiten –
auf dem langen Weg, den Ostblock, die Warschauer Pakt-Staaten, als militärischen
und ideologischen Gegenpol zum Kapitalismus, in die Knie zu zwingen. Im Kampf
gegen den ‚Kommunismus‘, gegen die Feinde des ‚freien Westens‘
war jeder Diktator, jede reaktionäre Ideologie recht und willkommen. Wenn
heute und morgen US-Alliierte gegen ihre früheren Freunde Krieg führen
(wie im Krieg gegen den Irak zuvor), dann führen sie keinen Krieg gegen eine
menschenverachtende Politik , sondern gegen einen ehemaligen Freund, der eigene
Machtansprüche formulierte, die den Interessen ihrer (Ko-)Ziehväter
heute im Wege stehen.
So dumm und reaktionär diese antideutschen Kriegskoalitionäre daherkommen,
so schwierig wäre es, sich als deutsche Linke zu aller erst, folgende Fragen
zu stellen: Was macht die soziale und politische Basis derer aus, die heute „den
Amerikanern“ und „den Juden“ den Krieg erklären?
Wie gehen wir mit Bedingungen um, unter denen das nackte Überleben im Vordergrund
steht, wo revolutionäre, emanzipatorische Ideen nicht (nur) an ihren Versprechen
gemessen werden, sondern zu aller erst an der Fähigkeit, das alltägliche
Überleben zu garantieren? Woran liegt es, daß im Kampf gegen die eigenen
Regime und gegen Imperialismus die reaktionären und religiösen Antworten
mehr Gewicht bekommen haben als die revolutionären?
Woran ist die revolutionäre, antikolonialistische Linke gescheitert, wenn
man ihre (militärische) Niederlagen nicht als einzige Antwort akzeptieren
will? Welches Vakuum hat die antikolonialistische und antiimperialistische Linke
hinterlassen, in das islamische Bewegungen hineinstoßen? Welchen (unfreiwilligen)
Beitrag hat die revolutionäre Linke dazu geleistet? Wie müßte
eine politische Praxis aussehen, die diesen reaktionären und antisemitischen
Heilsversprechen den Boden entzieht? Welche Antworten haben wir auf Antisemitismus
und christlich-abendländischem Fundamentalismus, hier, in der BRD?
Sich solchen Fragen zu stellen, hieße, die eigene politische Praxis in den
Mittelpunkt einer Analyse zu stellen, anstatt sich im Für und Wider US-alliierter
Kriege selbst zu entpolitisieren.
Sich solche Fragen zu stellen, sich auf die Suche nach Antworten zu begeben, ist
sicherlich mühsam und verunsichernd – vorallen dann, wenn mann+frau
dabei auf Gewaltverhältnisse stoßen, denen wir theoretisch feindlich,
im wirklichen Leben (als Lohnabhängige z.B.) eher unauffällig bis versöhnlich
gegenüberstehen.
Diese Fragen bis zum Ende zu gehen, würde möglicherweise den Abstand
zwischen all den ‚anderen‘, die sich mit reaktionären und religiösen
Vorstellungen und Praxen abfinden und ‚uns‘ viel kleiner machen, als
es die Theorie der radikalen Linken vorgibt.
Antisemitismus Plus Antiamerikanismus Plus Islam Gleich eliminatorischer Antisemitismus
Gleich (religiös verbrämter) Faschismus
Antisemitismus und Antiamerikanismus auch in arabischen Ländern festzustellen
ist das eine. Darüber jedoch US-alliierte Kriegsziele zu bestimmen, ist etwas
ganz anderes – vorallem dann, wenn man den antideutschen Blick auf die Verhältnisse
(noch) ernst nimmt: Warum haben die Antideutschen nicht zum (US-alliierten) Krieg
gegen Deutschland, Österreich oder Italien aufgerufen? Warum beginnen Antideutsche
mit ihrem militärischen Kreuzzug nicht vor der eigenen Haustür?
Man könnte ihnen mangelnde politische Konsequenz vorwerfen. Naheliegender
ist jedoch, daß immer dann ein Gespür für Irrsinn einsetzt, wenn
sie selbst unter diesem begraben werden könnten. Spätestens dann versöhnen
sie sich mit den Verhältnissen hier, exportieren ihre antideutsche Analyse
ins Ausland und lassen dort Krieg führen.
Damit die Bomben auch ideologisch das eigene Zuhause verschonen, mußte etwas
gefunden werden, was das ‚deutsche Haus‘ von anderen unterscheidet:
ein Zusatz, ein Unterscheidungsmerkmal, etwas bewährtes, das ganz sicher
nach ‚außen‘ verweist: der Islam.
Der eigene Nachhauseweg war gesichert. Nun konnte man in den Orient schweifen,
ExpertInnen lauschen und eine ‚Koranschule‘ eröffnen, was die
Jungle Word auch mit einer gleichlautenden Beitragsserie unter der Zwischenüberschrift
„Islam und Antisemitismus“ tat.
Auch wenn es dabei Zwischentöne gab, so blieb als Stimmungsbild eines zurück:
Wo man auch hinschaut sind „teuflische Feinde“ (Götz Nordbruch,
Jungle World vom 28. November 2001) am Werk.
Es werden Verschwörungstheorien zitiert, mit denen ‚die Juden‘
für die Anschläge am 11. September 2001 verantwortlich gemacht werden.
Es wird ein Antiamerikanismus in den arabischen Ländern konstatiert, der
sich in „Bekundungen großer Teile der ägyptischen, saudi-arabischen
und jordanischen Bevölkerung (ausdrückt), bei den Attentaten habe es
die Richtigen getroffen ...“ (Götz Nordbruch, Jungle World vom
28. November 2001)
Dann machen wir einen großen oder wenn man will, ganz kleinen Sprung in
die ägyptische al-Azhar Universität, um über den dort lehrenden
Sheikh Muhammad al-Tantawi zu erfahren, daß die „oberste religiöse
Autorität des sunnitischen Islam“ unter Zuhilfenahme des Koran das
christlich-abendländische Stereotyp vom ‚ewigen Juden‘ in die
arabische, islamische Welt übersetzt.
Daß es Antisemitismus und Antiamerikanismus auch in der islamische Welt
gibt, ist sicherlich damit bewiesen. Daß jede Linke hier sich in politische
Gegnerschaft dazu stellen muß, sollte klar sein. Daß die Suche nach
Gegenströmungen schwierig und mühsam ist, hier wie dort, kann als bittere
Tatsache festgehalten werden.
Anstatt sich in diesem Sinne auf den Weg zu machen, wird der Sack zugemacht: „Die
ideologischen Wurzel des Djihad, der Antisemitismus, ist in der ganzen arabischen
Welt weit verbreitet. Im Haß auf Israel, den Westen und den ‚jüdisch
kontrollierten Weltmarkt‘ können sich Moslems aller Glaubensrichtungen
wiederfinden ... Dieser Terrorismus, dessen Protagonisten einer „faschistischen
Ideologie mit islamistischem Antlitz“ (Christopher Hitchens) anhängen,
ist spätestens seit dem 11. September virulent.“ (Andrea Albertini,
Jungle World vom 17. Oktober 2001)
Was als antideutsches Fatwa gegen die „ganze arabische Welt“ verstanden
werden kann, hatte die ‚Bahamas‘ bereits in ihrem Marschgepäck,
als sich der US-alliierte Krieg in Afghanistan noch in der Vorbereitsungsphase
befand: „US-amerikanische Militärschläge gegen islamistische Zentren
hätte jeder bis auf weiteres zu begrüßen ... Sollte wirklich
Afghanistan das erste Ziel eines US-Gegenschlages sein, wäre zu fordern,
daß dieser so konsequent wie möglich erfolgt, d.h. einen Sturz nicht
nur des Taliban-Regimes, sondern auch die Verhinderung weiterer islamistischer
Herrschaft ...“
Wer die „ganze arabische Welt“ so zeichnet, wer sich nicht für
die Brüche, Widersprüche und Gegnerschaften interessiert, dem geht es
nicht (mehr) um gesellschaftliche und politische
Prozesse, die beeinfluß-
und veränderbar sind. Der will etwas zu Ende bringen, festschreiben, homogenisieren,
zu Kultur und/oder (zweite) Natur werden lassen, was in einer Katastrophe münden
muß, wenn nicht von ‚außen‘ zivilisierend eingegriffen
wird. Daß sie damit die abendländische ‚Zivilisation‘ beauftragen,
weiß man. Daß ihnen dabei weder ideologiekritisch noch geschichtliches
etwas einfällt, ist beschämend. Sie setzten ganz still und dreist auf
das über Jahrhunderte hinweg für’s Abendland geprägte Bild
vom ‚barbarischen‘ und ‚unzivilisierten‘ Orient, für
dessen Missionierung nun auch antideutsche Kontingente bereitstehen.
Damit sind die Weichen für einen „Kampf der Kulturen“ gestellt,
für einen Krieg des ‚freien Westens‘ gegen den „islamistischen
Terror“.
Wer dabei wie Andrea Albertini mit ihrem Kir Royal-Bewußtsein den Schlachtruf
„Sherry statt Sharia!“ (Jungle World vom 17. Oktober 2001) ausgibt,
schert sich nicht mehr darum, in einer Reihe mit den Theoretikern des ‚Zivilisationskrieges‘,
Huntington und Bassam Tibi, in den Krieg ziehen. Daß diese u.a. Oswald Spenglers
Werk „Der Untergang des Abendlandes“ beerben, findet in diesem Zusammenhang
keine Erwähnung. In einem anderen schon: In seinem bereits erwähnten
Beitrag „Teuflische Feinde“ führt Götz Nordbruch u.a. den
ägyptischen Professor für Philosophie, Hassan Hanafi, an, der das Konstrukt
von der Notwendigkeit einer arabischen Identität mit antisemitischen Verschwörungstheorien
verknüpft: „Hanafi verweist dabei ausdrücklich auf Oswald Spenglers
Werk „Der Untergang des Abendlandes“, das die Aufklärungskritik
der völkischen Revolution der zwanziger Jahre in Deutschland repräsentiert.“
‚Teuflische‘ Verbindungen zwischen islamistischen und antideutschen
Interpreten Oswald Sprenglers Werk „Der Untergang des Abendlandes“.
Die Implantierung des Holocaust
in die Gegenwart –
Der Orient als antideutscher Entsorgungspark
Man könnte meinen, daß mit Antisemitismus und Antiamerikanismus als
Basissubstrat und islamistischem Terror als Brandbeschleuniger der ultimative
Cocktail gemixt ist, mit dem der bittere Nachgeschmack einer Befürwortung
US-alliierter Kriege heruntergespült werden kann. Mehr geht nicht, könnte
man meinen – und hat die Rechnung ohne die Antideutschen gemacht.
Als hätten sie Angst, daß selbst dieses Horrorszenario eine politische,
eine revolutionäre Antwort nicht ausschließt, sondern dringender denn
je macht, wird der letzte Trumpf gezogen, der alles (aus-)sticht: die Drohung
eines Holocaust. Ein Anspielen einer historischen Situation, in der nur noch die
Feuerkraft des ‚guten‘ Imperialismus (USA, England) zählte. Eine
historische Situation, in der gewöhnliche Imperialismen mit antiimperialistischen
Widerstandsgruppen gemeinsam gegen etwas noch schlimmeres kämpften: gegen
die Verwirklichung des ‚1000 jährigen Reiches‘, gegen das nationalsozialistische
Vernichtungsprogramm von Jüdinnen/Juden. Die Einzigartigkeit nationalsozialistischer
Verbrechen brachte eine außergewöhnlichen Anti-Hitler-Koalition hervor:
Mehr und weniger gemeinsam kämpften amerikanische und britische Soldaten
mit kommunistischen WiderstandskämpferInnen in Griechenland und Italien,
mit der Resistance in Frankreich.
Wie tritt man heute einer ‚Anti-Hitler-Koalition‘ bei, die sich mit
der militärischen Zerschlagung der NS-Diktatur 1945 auflöste? Man (re-)generiert
eine Weltlage, die man so nahe an die historische Konstellation der 40er Jahre
heranschreibt, bis die US-Alliierten als Befreier und (antideutsche/linke) KriegsbefürworterInnen
als antifaschistische WiderstandskämpferInnen (wieder) erscheinen. Damit
hat man sich selbst einen passablen Platz in der Weltgeschichte zugewiesen, auf
den die bedeutungslose Linke aller Wahrscheinlichkeit nach verzichten muß.
Damit ergibt sich jedoch gleichzeitig ein Problem. Denn in der so skizzierten
Weltlage ist die Befreiung von Auschwitz zentral eingeschrieben. Will man diesen
moralischen Gewinn abschöpfen – und darum geht es ganz wesentlich –
muß ‚Auschwitz‘ wieder aufscheinen.
Dafür zieht man eine gerade Linie nach Israel, schließt die Behauptung
einer „faschistischen Ideologie mit islamistischen Antlitz“ mit dem
Palästina-Konflikt kurz und erklärt die Auslöschung des Staates
Israel zum finalen Endpunkt: „Jeder denkende Mensch hätte sofort nach
den massenmörderischen Angriffen auf das World Trade Center wissen können,
wem die Attacke der islamistischen Gotteskrieger in erster Linie galt: Israel.“
(Andrea Albertini, Jungle World vom 17. Oktober 2001)
Dieser neurologische Befund einer antideutschen Fachärztin kennt keine Zweifel,
keine Einschränkungen, nur narzißtische Gewißheit. Nicht einmal
der Versuch, die naheliegende Frage zu beantworten, wurde unternommen: Wenn diese
Anschläge eigentlich Israel galten, warum wurden dann nicht Flugzeuge direkt
in israelische Regierungsgebäude und militärische Einrichtungen gelenkt?
„In einer Zeit, in der die Existenz Israels, nicht zuletzt durch das Abrücken
der USA, bedroht ist, wie nie zuvor ...“ (Stellungnahme der Antifaschistischen
Aktion Dortmund zur „Friedensdemonstration“ am 17. November 2001 in
Dortmund) scheinen solche Erwägungen und Bedenken fehl am Platze.
Um so eifriger und wortreicher wurde Palästina, der Nah-Ost-Konflikt in eine
Kulisse des Nationalsozialismus verwandelt. Mit der Fertigkeit eines Fünfjährigen
wurde die Kriegsfront geknetet:
Auf der einen Seite Israel, Heimstätte der Überlebenden des Holocaust.
Opfer. Dazu zählen Scharon genau so wie israelische SiedlerInnen, arabische
Israelis und AnhängerInnnen der Friedensbewegung. Sie alle sind eins, deren
Unterschiede, deren Widersprüche sind bedeutungslos, nicht wichtig. In der
antideutschen Wahrnehmung zählen sie nur als Opfer. In ihrer Unterschiedslosigkeit
werden sie zum ‚Volk‘, dessen Konstruiertheit an jedem anderen Ort
dieser Welt – zu Recht – vehement angegriffen wird. Damit werden über
50 Jahre Geschichte Israel ausgelöscht, gegenstandslos. Verständlich.
Denn diese würde nur stören im antideutschen, völkisch-homogen
Weltbild. Denn Israel ist nicht nur und weit mehr als die Heimstätte der
Überlebenden des Holocaust. Israel ist auch Besatzungsmacht. Israel ist auch
eine regionale Supermacht. Und: Israel wird nicht nur von ‚außen‘,
durch den palästinensischen Widerstand angegriffen, sondern auch von ‚innen‘,
von einer schwachen, aber immerhin existenten Friedensbewegung, die die israelische
Regierungs- und Besatzungspolitik für die ‚Eskalation der Gewalt‘,
für das Scheitern politischer Lösungen mitverantwortlich macht.
All das findet keine Erwähnungen. Auf all diese Widersprüchlichkeiten
wird nicht Bezug genommen, sondern aus dem antideutschen Bild verbannt.
Auch die Feinde Israels sind im antideutschen Weltbild mit wenigen Federstrichen
beschrieben: Zuerst wird eine palästinensische Volksgemeinschaft geformt,
„das derzeit aggressivste antisemitische Kollektiv“ (Horst Pankow
in ‚Kindermörder‘, zitiert nach „Hat Israel noch eine Chance?“,
Konkret-Texte, S.229). Dann spricht man aus, was kommen mußte: „Es
ist hier ein zur Vernichtung entschlossener Antisemitismus am Werk – darin
seinem nationalsozialistischen Vorbild auf qualitativer Ebene durchaus ebenbürtig –,
der die Wahl- und Maßlosigkeit palästinensischen Massenmordens begründet.
In dieser Hinsicht kommt momentan dem Koran eine ähnliche Rolle zu wie seinerseits
Hitlers Machwerk ‚Mein Kampf‘ in Deutschland.“ (Bahamas)
In diesem paranoiden Weltbild „kämpfen immer dieselben Alliierten gegen
immer dieselben antisemitischen Barbaren und versuchen dabei, immer dieselben
Opfer – die des Holocaust – zu retten.“ (So oder So, Libertad-Zeitung,
Nr.10/ 2001)
In dem Reflex, sofort mit Argumente und Fakten dagegen halten zu wollen, steckt
bereits ein linkes Dilemma. Zu oft hat die radikale Linke in den letzten 30 Jahren
zur Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen beigetragen, um aus einem
klaren, inneren Selbstverständnis heraus auf diese unerträgliche Instrumentalisierung
zu reagieren. Zu oft wurde eine moralische Legitimation des eigenen Widerstandes
dadurch geborgt, indem man den politischen Gegner mit Nazianalogien belegte: Das
reicht von der Anti-Vietnam-Parole ‚USA-SA-SS‘ bishin zu einer Palästina-Solidarität,
die Begin (ehemaliger israelischer Ministerpräsident) mit Hitler, die Vertreibung
von PalästinenserInnen mit „Völkermord“ gleichzusetzen versuchte.
In diesem Fahrwasser linker Relativierungen bewegen sich jene antideutschen Argumentationsfiguren.
Und genau das macht es heute auch so schwer, sie als reaktionäre Geschichtsklitterung
zurückzuweisen.
Das Eingeständnis, selbst an solchen Relativierungen beteiligt gewesen zu
sein, zwingt dazu, ihnen auch im Detail zu begegnen.
Es gehört schon viel Dreistigkeit dazu, die unterschiedlichen Beweggründe,
Ziele und Vorstellungen innerhalb des palästinensischen Widerstandes so zusammenzukochen,
daß am Ende nur ‚Auschwitz‘ stehen kann und muß. Man kann
es für Dummheit oder Absicht halten, wenn dabei die verschiedenen Phasen
des palästinensischen Widerstandes mit keinem Wort Erwähnung und Berücksichtigung
finden.
Würde man den kerzengeraden Frontverlauf antideutscher Krieger verlassen,
wäre man zu aller erst mit der eigenen Unkenntnis konfrontiert, mit der Schwierigkeit,
klare Antworten oder gar kluge politische Lösungen zu finden. Wo hört
Widerstand gegen die israelische Besatzungsmacht auf? Wo fängt Antisemitismus
an? Welche (Neben/Haupt-)Rolle spielen die ‚biblischen Grenzen‘ Israels
im nationalen Selbstverständnis? Welche Bedeutung hätte ein palästinensischer
Staat als (un-)sichere Grenze zu Israel? Was unterscheidet Israel als jüdischen
Staat von islamischen Vorstellungen innerhalb des palästinensischen Widerstandes
(Hamas)? Wieviel reaktionäre Gesellschaftlichkeit verbindet beide miteinander?
Wenn in Israel, wie in Palästina emanzipatorische Prozesse marginal, religiös-nationalistische
dominant sind: Wäre dann eine Zwei-Staaten-Lösung die am wenigsten blutige
Lösung? Was macht eigentlich eine antinationale, deutsche Linke in einem
Konflikt, wo es hauptsächlich um die Anerkennung von und Schaffung von Grenzen
geht?
Die deutsche Linke hat sich – mit Blick auf Palästina – in den
letzten 30 Jahren nur selten aus der David/Goliath-Schablone gelöst. Solidarität
wurde wesentlich über das Opfersein bestimmt. Bis 1967 galten die Sympathien
Israel, ohne wahrzunehmen, welche Auswirkungen die Politik des Staates Israel
gegenüber arabischen Menschen in Palästina hatte. Nach 1967 wechselte
man die Front und sympathisierte mit dem palästinensischen Widerstand, mit
den ‚Opfern der Opfer‘. Mit dem antideutschen Aufruf, Israel zu verteidigen,
wird die Opferlogik nur um eine Kehrtwende, um einen Rückruf bereichert.
Mit ihr wird der Opfermythos nicht durchbrochen, sondern ein weiteres Mal zementiert.
Daß es auch anders geht, hat z.B. eine neue Generation von HistorikerInnen
in Israel bewiesen, die mit ihren Forschungsarbeiten ab Mitte der 80er Jahre einige
zentrale zionistische Erzählweisen in Frage stellte:
- Der zur Gründungslegende gewordene Mythos, Israel habe ein unbewohntes,
unfruchtbares Land vorgefunden: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne
Land“.
- Erst mit der Gründung Israels sei die ‚Wüste fruchtbar gemacht‘
worden. Damit einher geht die Erzählweise, daß – wenn doch palästinensische
Menschen dort lebten – diese nicht vertrieben, sondern freiwillig ihr Land,
ihr Haus verlassen haben.
- Die Legende vom friedfertigen Israel bzw. dem Yishuv (der jüdischen Gemeinde
in Palästina), der dem UN-Teilungsplan 1947 zustimmte, während einzig
und allein die arabischen Nachbarstaaten dieses Beschluß ablehnten und bekämpften.
- “Der Mythos, daß der Kampf zwischen dem Yishuv und den Arabern
dem Kampf zwischen David und Goliath glich, wobei der kleinere jüdische ‚David‘
wie durch ein Wunder den viel stärkeren arabischen ‚Goliath‘
besiegt habe. Doch die Forschungen von Amitzur Ilan und anderen haben gezeigt,
daß der Yishuv während der meisten Phasen des Krieges von 1948 hinsichtlich
der Truppenstärke und der Bewaffnung die stärkere Seite war.“
(Benny Morris, s.o.)
- “Der Mythos von der Kompromißbereitschaft (Israels) nach dem Krieg
von 1948“ (s.o.) und der Unnachgiebigkeit arabischer Staaten. „Doch
die Forschungen von Shlaim, Pappe, Morris und anderen haben nachgewiesen, daß
mindestens Jordanien und möglicherweise auch Syrien und Ägypten nach
1948 Frieden wollten und daß verschiedene Faktoren, darunter auch die Unnachgiebigkeit
Israels, alle Hoffnungen auf einen frühen israelisch-arabischen Frieden zunichte
gemacht haben.“ (Benny Morris, s.o.)
“Für jüdische Israelis sind die besetzten Gebiete kein politisches
Territorium, sondern das historische Kernland von Judäa und Samaria. Die
Besiedlung dieser Gebiete durch die Palästinenser ist nur ein kleiner Störfaktor
im großen theologisch-historischen Prozess.“ (Natan Sznaider, Soziologe
am Tel Aviv Collage in Israel, nach FR vom 22. Oktober 2001)
Mit diesen politischen Neubestimmungen schwimmen die neuen HistorikerInnen nicht
nur gegen den Mainstream in Israel. Die Anerkennung und Beachtung dieser Anstrengungen
würden auch in der deutschen Linken dazu beitragen, endlich das Opfer-TäterIn-Schemata
zu überdenken bzw. als politische Kategorie zu verwerfen.
Anstatt die Opferpyramide immer wieder aufzurichten, ginge es darum, in Israel
und Palästina nach politischen, emanzipatorischen Prozessen Ausschau
zu halten, die sich der militärischen und nationalistisch-religiösen
Logik (beider Seiten) widersetzen. Die sich darum bemühenden Gruppen und
Organisationen sind sowohl in Israel, als auch in Palästina ohne große
politische und gesellschaftliche Bedeutung. Mit ihnen solidarisch zu sein, hieße,
ganz bescheiden, den langen Weg gesellschaftlicher Veränderungen zu teilen.
Dafür sind Antideutsche nicht zu haben. Wer ‚Auschwitz‘ fernab
vom eigenen Zuhause verhindern will, hat keine Zeit mehr, hat es ganz eilig, kann
nicht warten, hat keinen langen Weg vor Augen, sondern den Abgrund. Wer solch
große Gefahren sieht, ist kein Selbstmörder, sondern geht zur Seite
und macht Platz für Leute, die gelernt haben, Gefahren zu beseitigen. Das
ist die eigentliche Botschaft ihrer Horrorszenarien: Ihnen geht es weder um Palästina,
noch um Israel, geschweige denn um einen eigene politische Praxis. Es geht um
einen sauberen Abgang, nicht leise, sondern mit einem lauten Krach, mit wüsten
Beschimpfungen und der Androhung, wiederzukommen – mit ganz vielen großen
und starken Freunden.
In diesen Zusammenhang darf der antideutsche Ruf nach den US-Alliierten ganz unpolitisch
verstanden werden, als Geste von Halbstarken.
Antiimperialismus und Antikapitalismus
als Systemfragen suspendieren
Wenn man sich die Stellungnahmen, vorallem deren Schlußfolgerungen vor Augen
hält, fällt es schwer, antideutsche Positionen überhaupt noch mit
Antikapitalismus und Antiimperialismus in Verbindung zu bringen. Es gehört
also schon eine gute Portion Spiritualität dazu, trotz alledem daran zu erinnern,
daß sie sich ‚eigentlich‘ als schärfste KritikerInnen des
Kapitalismus verstehen – auch wenn man dafür nur noch auf ihre Kritik
des (kapitalistischen) Werts verweisen kann.
Wie kriegen es also Antideutsche hin, einerseits mit den mächtigsten Kernländern
des Kapitalismus, mit den führenden imperialistischen Staaten in den Krieg
gegen den „islamistischen Terror“ zu ziehen und gleichzeitig ihre
schärfsten KritikerInnen zu bleiben?
Was gemeinhin für unmöglich gehalten wird, bedarf in antideutscher Logik
nur zweier Ausstiegsklauseln.
Das erste ist ganz schlicht und plump. Man behauptet einfach, daß dieser
in Afghanistan begonnene Welt-Krieg der US-Alliierten mit Imperialismus und Kapitalismus
gar nichts zu tun hat: „Der Verweis auf angeblich imperialistische US-Interessen
im afghanischen Wüstensand verdreht Ursache und Wirkung der aktuellen Entwicklung ...
Dieser Krieg ist die Antwort auf einen konkreten und in dieser Form bisher nicht
dagewesenen Angriff, eine Reaktion auf die Kriegserklärung an den gottlosen
american way of life und seine nahöstliche Entsprechung in Tel Aviv und Westjerusalem.“
(Andrea Albertini, Jungle World vom 17. Oktober 2001)
Wer mag bestreiten, daß die US-Alliierten Himmel und Erde in Bewegung setzen,
wenn sie angegriffen werden, zumal auf ihrem eigenen Territorium? Wer auch immer
diese Anschläge vom 11. September 2001 geplant und durchgeführt hat,
bewegte sich in der Logik des Krieges, kalkulierte mit der Eskalation militärischer
Gewalt. Damit sind nur die Bedingungen genannt, unter denen sich die Linke die
entscheidende Frage zu stellen hat: Haben die US-Alliierten Afghanistan angegriffen,
drohen sie sechs weiteren Staaten mit Krieg, weil sie den Terror und die Unterdrückung
in der Welt beseitigen wollen und überall die Menschenrechte und ein würdiges
Leben verwirklichen wollen? Oder führen die US-Allierten Krieg, weil sie
jedem, der ihren imperialen und kapitalistischen Zielen im Weg steht, sich diesen
nicht lautlos unterwirft, den Krieg erklären – ganz egal, wie reaktionär,
wie religiös, nationalistisch oder gar revolutionär der Feind zu verstehen
ist?
Muß man den Antideutschen wirklich noch erklären, daß die USA
(und ihre Alliierten) in den letzten 40 Jahren nicht Krieg geführt haben,
um Terror und Gewalt zu bekämpfen, sondern um das Monopol darauf zu behaupten?
Ein Monopol, das von verdeckten Kriegen (wie gegen Nicaragua) bis Massenmorden
und chemischer Kriegsführung (wie in Vietnam), von biologischer Kriegsführung
(wie in Jugoslawien 1999) bishin zur Androhung eines atomaren Krieges (wie gegen
den Irak 1991) reicht. Ein Monopol auf Vernichtung(-sdrohungen), das Voraussetzung
dafür ist, imperialistische und kapitalistische Interessen auch ganz ‚friedlich‘
durchzusetzen.
Gibt es einen Grund, der vermuten ließe, daß ausgerechnet der US-alliierte
Krieg in Afghanistan, die in der Vorbereitungsphase sich befindlichen Kriege,
andere Ziele verfolgen?
So redselig Antideutsche dabei waren, die Anschläge vom 11. September 2001
richtig einzuordnen, so wortgewaltig sie den Ausnahmezustand verkündeten,
um die ‚westliche Zivilisation‘ als verteidigenswerten Normalzustand
anzupreisen, so schweigsam sind sie heute.
Bereits das wenige, was man der bürgerlichen Presse entnehmen kann, nach
sechs Monaten Krieg (einschließlich Vorbereitung), reicht, um ihnen so gut
wie alles um die Ohren zu schlagen:
Die Militärdikatur in Pakistan wurde von Deutschland für ihren Allianz-Beitritt,
für die Duldung von US-Militärbasen mit 70 Millionen Mark im Jahre 2001
belohnt, nachdem die finanzielle Unterstützung 1998 eingefroren war. Außerdem
wurde 100 Millionen Mark Hermes-Exportbürgschaften bereitgestellt, was laut
SPD-Bundeskanzler Schröder „nicht das Ende vom Lied“ (FR vom
29. Oktober 2001) sei. Ein paar Tage später schoben die USA, die vor dem
Krieg Pakistan mit Sanktionen belegten, eine Milliarde Dollar (FR vom 12. November
2001) nach.
Für den Beitritt Rußlands zur ‚Allianz gegen den Terror‘,
sprich, für Überflugrechte für US-Flugzeuge auf ihrem Weg nach
Usbekistan und Tadschikistan, wurde eine „schnellere Aufnahme in die Welthandelsorganisation
oder die Streichung russischer Schulden“ (FR vom 24. September 2001) ins
Gespräch gebracht. Mit der Professionalität von Killern einigten man
sich auch auf anderem Gebiet: Vor dem 11. September 2001 wurde der Krieg Russlands
gegen tschetschenische Rebellen, der bisher über 30 000 ZivilistInnen
das Leben kostete, als Staatsterrorismus und schwerer Verstoß gegen die
Menschenrechte kritisiert und verurteilt. Nachdem Russland „in bemerkenswerter
Weise Solidarität mit den USA“ (Gerhard Schröder, FR vom 26. September
2001) übte, versprach selbiger im Gegenzug, daß die Tschetschenien-Frage
„neu bewertet“ (FR vom 26. September 2001) werde. Seitdem darf Russland
im Namen der ‚Allianz gegen den Terror‘ all das tun, was im Kampf
gegen ‚Terrorismus‘ erlaubt ist: fast alles.
Auch geo-strategisch wurden im Zuge des US-alliierten Krieges in Afghanistan die
bisherigen Koordinaten verschoben. Galt Zentralasien als Einflußgebiet Russlands,
so verlor Russland dieses mit der Kriegserklärung der USA und Nato endgültig.
Zug um Zug, Land für Land wurde die Stationierung von US-Soldaten, die Einrichtung
von US-Basen durchgesetzt. So gelten die US-Militärbasis in Hanabad und zwei
weitere in Usbekistan, der wichtigste Nachfolgestaat der Sowjetunion, 200 Kilometer
von der afghanischen Grenze entfernt, als größte US-Stützpunkte
in Zentralasien.
Wie in den Kriegen zuvor, geht es auch um die Durchsetzung einer dauerhaften Militärpräsenz
von US-(alliierten) Streitkräften in Weltregionen, die von diesen Segnungen
bisher verschont blieben. Der US-alliierte Krieg gegen den Irak 1991 hatte zur
Folge, daß zum ersten Mal nach 1945 US-Streitkräfte in der Golfregion
(Saudi-Arabien) Fuß fassen konnten. Und auch mit diesem Krieg gegen Afghanistan
ist eine militärische Durchdringung Zentralasiens verbunden: „Die USA
wollen nach einem Bericht der New York Times über den Afghanistan-Krieg hinaus
ihre Militärpräsens in Zentralasien festigen. Wie die Zeitung ...
berichtete, bauen die USA zusammen mit einigen Verbündeten der Anti-Terror-Allianz
eine Luftwaffenbasis in Kirgisien auf, die als zentrale Schaltstelle für
Militärtransporte dienen solle. Dem Bericht zufolge sollen dort 3000 Soldaten
sowie Militärflugzeuge stationiert werden.“ (FR vom 10. Januar 2002)
Wer dabei kooperiert, wird nicht weggebombt, sondern gut bezahlt: „So sollen
die Amerikaner dem Zwergenstaat Kirgistan an die 200 Millionen US-Dollar an Investitionen
in Aussicht gestellt haben, wenn sie das US-Militär schnell und unbürokratisch
ins Land lassen. Noch höhere Summen sollen in die Nachbarrepublik Usbekistan
geflossen sein, die zu Beginn des Anti-Terror-Kampfes gleich drei Stützpunkte
zur Verfügung gestellt hatten.“ (FR vom 15. Januar 2002)
Imperialismus auf die gewaltsame Durchsetzung ökonomischer Interessen zu
reduzieren, wird in der Tat der Komplexität macht-politischer, geo-strategischer,
hegemonialer und ökonomischer Gründe nicht gerecht. Nicht überall
muß eine Erdöl- oder Gaspipline durchführen, um sich einen der
US-alliierte Kriege erklären zu können. Wenn man sich die Entwicklung
nach 1989, nach dem Zusammenbruch des Ostblockes, anschaut, dann sind die ökonomischen
Verschiebungen zugunsten kapitalistischer Kernländer weniger durch Panzer,
als durch den stummen Zwang kapitalistischer Verhältnisse erreicht worden.
Und genauso wenig muß man ein Studium in Betriebswirtschaft abgeschlossen
haben, um zu der Erkenntnis zu gelangen, daß IWF-Strukturanpassungsprogrammen
in die meisten Länder dieser Erde viel ‚nachhaltiger‘ intervenieren,
als dies mit einer militärischen Besetzung möglich wäre.
All dies spricht nicht gegen die Ökonomie imperialistischer Kriege, sondern
für eine genaue Analyse.
Wer den Blick auch dann nicht abwendet, wenn der militärische Teil des Krieges
beendet ist, wird mit dem ‚Abzug‘ der Militärs vieles ankommen
sehen, am allerwenigsten Menschenrechte. Dafür wird er/sie eine Unzahl von
Delegationen aus Wirtschaft und Politik landen sehen, die als Siegermächte
die ‚Friedensrendite‘ unter sich aufteilen. Das Ganze wird dann, wie
am Beispiel Afghanistan, mit einer Sprechpuppe, dem afghanischen Interimpremier
Hamid Karsai gekrönt, der deutsche Wirtschaftsvertreter mit dem Versprechen
einlud: „Sie können mit einem Fuß in Kabul leben, und mit einem
in Deutschland.“ (FR v.16. März 2002)
Poetischer kann man kaum ausdrücken, wozu einige Antideutsche nicht einmal
analytisch in der Lage sind: Die Ökonomie der (militärischen) Macht
und die Macht der (kapitalistischen) Ökonomie stehen nicht in Konkurrenz,
sondern in (profitabler) Beziehung zueinander.
Kommen wir zur zweiten, zur Kapitalismus- und Imperialismus-Light-Version, die
im antideutschen Kriesgdiskurs die Oberhand behalten hat. In dieser Version hält
man kapitalistische und imperialistischen Interessen für durchaus denkbar,
aber als Maßstab für radikale Opposition jetzt nicht entscheidend.
Wie kommt es zu diesem Aussetzer? Wie kann man sich als radikale KritikerInnen
des kapitalistischen Systems noch sehen lassen, während man mit ihren führenden
Vertretern zusammen in den Krieg zieht? Man legt noch einmal den Lehrfilm über
den Zivilisationsbruch ein, spult ungefähr 60 Jahre zurück und erklärt
die Konstellationen des Zweiten Weltkrieges – ohne den geringsten Reibungsverlust
– zum Jetzt-Zustand. Dann kämpft man in imaginärer Linie mit der
französischen Resistance, mit den PartisanInnen in Jugoslawien und Italien,
mit dem Kapitalismus gegen den Kapitalismus, um die bloße Möglichkeit
der Emanzipation zu retten.
Die eigene politische Ohnmacht
in eine scheinbar radikale Geste verwandeln
Die radikale Linke hat große Mühe, sich ein einigermaßen überprüfbares
Bild von dem Krieg in Afghanistan und den kommenden Kriegen zu machen. Kleine
Teile der Antikriegsbewegung unternehmen zaghafte Schritte, um aus der humanitär
und pazifistisch geprägten Haltung „Stopp den Krieg“ herauszutreten.
Meist sind es kleine Aktionen, mit denen man der ungeheuer tief sitzende Ohnmacht
und Handlungsunfähigkeit zu entgegen versucht. An dieser und jener Ecke der
radikalen Linken wird das Analysewerkzeug der letzten 20 Jahre überprüft,
Verbindungslinien zwischen ‚Genua‘ und ‚Kabul‘ gezogen,
Zusammenhänge zwischen metropolianem Frieden und peripherem Weltkrieg erwogen.
Nicht minder schwierig und zeitraubend sind die Bemühungen, die unterschiedlichsten
Erfahrunghorizonte anzunähern, d.h. in der Regel von sehr wenig Gemeinsamkeit
auszugehen. All das klingt nicht wirklich einladend.
Wie schön ist es hingegen, Antideutsche/r zu sein. Alles scheint auf der
Hand zu liegen: Sie wissen, wem die Anschläge vom 11. September 2001 ‚eigentlich‘
galten. Sie wissen, wer dafür verantwortlich ist. Sie haben den Islam als
Wiedergänger des Nationalsozialismus entlarvt und wissen, was jetzt zu tun
ist: „Die USA, die von Linken oft und zu Recht wegen ihrer Interessenpolitik
angegriffen wurden, sind die einzige Macht dieser Welt, die zu einem Gegenangriff
im Moment in der Lage ist.“ (Andrea Albertini, Jungle Word vom 17. Oktober
2001)
Während die (radikale) Linke nach bescheidenen Interventionsmöglichkeiten
Ausschau hält, winken Antideutsche völlig entspannt US-alliierten Bombern
zu und beweisen sich als wahre Ledernacken. Sie wissen nicht nur, was zu tun ist,
sie gehen sogar voran, sind in Gedanken schon längst im Irak einmarschiert,
während sich die US-Alliierten ins Hemd machen. Ja, das sind deutsche Helden.
So wissen die Jungle-World und Konkret-Autoren Thomas Uwer und Thomas v.d. Oster-Sacken
von all den Weicheiern zu berichten, die einem Krieg gegen den Irak abwartend
bis skeptisch gegenüberstehen. Mit echtem Mitgefühl sorgen sie sich
um die ‚Falken‘ in der US-Kriegsadministration. Als wahre Kameraden
halten sie zusammen, als wahre Frontschweine wissen sie, daß ein Krieg zuhause
verloren wird – und rechnen ab: Mit dem „Establishment“ in den
USA, wo sich „der radikalste Flügel der Antikriegsbewegung“ eingenistet
hat, mit der SPD, die „einen Militärschlag gegen den Irak verurteilte“,
mit der Friedensbewegung, die „im Bundesverband der Deutschen Industrie
einen starken Fürsprecher findet“, mit dem Rest der Welt. Alle, bis
auf die ‚Falken‘ und die zwei Kriegsautoren, haben an der „militärischen
Zerschlagung des irakischen Baath-Faschismus“ (Jungle World vom 28. November
2001) keine Interesse.
Wo man nur hinschaut, (Wehrkraft-) Zersetzung und Infiltration, selbst und gerade
dort, wo man eigentlich Freunde, Verbündete vermuten könnte, wie im
US-„Establishment“. Auf die Idee, daß dieses Wahnbild von antisemitischen
Verschwörungstheorien nur so strotzt, kommen die Autoren nicht mehr. Wer
so furchtlos ist und es mit allen aufnimmt, kann auch auf seine eigene Ideologiekritik
scheißen.
Zu diesen Lederjacken-Imitaten darf sicherlich auch Matthias Küntzel gezählt
werden, der ganz kurz links antäuscht, um schließlich ganz rechts,
am US-alliierten Kriegsstab vorbei, wieder einzuspuren: „Selbstverständlich
müssen die amerikanische und die britische Politik weiterhin kritisiert werden.
Jedoch nicht deshalb, weil sie die Djihadisten verfolgt, sondern weil sie diese
nicht zielgenau und konsequent verfolgt.“ (Konkret, 11/01)
Soviel aus dem Generalstab für antideutsche Kriegsführung.
Sicherlich macht dieser militärische Gestus Eindruck – selbst dann
,wenn man die historische Kulisse zerlegt, vor der die BefürworterInnen des
‚bewaffneten Kampfes‘ auftreten. Ich nehme bewußt das Wort vom
‚bewaffneten Kampf‘ auf, denn die Antideutschen wähnen sich ja
in einer historischen (Ausnahme-)Situation, in der bewaffneter, antifaschistischer
Widerstand und imperialistischer Krieg zusammen einen gemeinsamen Feind bekämpfen.
Verweilen wir einen Augenblick in dieser Ausnahmesituation. Welche Konsequenzen
ziehen sie daraus? Mit welcher Radikalität folgen sie ihrer Analyse?
Wer nun befürchtet oder erwartet, daß Antideutsche in den Untergrund
gehen bzw. ein weltweites Netz von Widerstandgruppen aufbauen, muß enttäuscht
werden. In ihren historischen Analogien hat alles seinen Platz, nur nicht sie
selbst. Für alles haben sie ein Double gefunden: für den deutschen Faschismus,
für den eliminatorischen Antisemitismus, für die Appeasementpolitik
des Westens, für die Befreier. Nur eine Rolle bleibt auffallend unbesetzt:
der antifaschistische Widerstand. Wer meint, den Antideutschen gebührt dieser
Platz, hat den Plot in ihrem Apokalypse-Now-Szenario nicht verstanden: So blöd,
auf ihre Geschichtsdublette selbst reinzufallen, sind sie eben nicht. In First-Class-Mentalität
lassen sie sie an sich vorüberziehen: „Für Linke bleibt, am Traum
von individueller Freiheit und einem schönen Leben für alle festzuhalten:
Sherry statt Sharia!“ (Andrea Albertini, Jungle World vom 17. Oktober 2001)
Ein treffenderes Bild für das Ende antideutscher Politik könnte auch
ich nicht finden.
Wolf Wetzel
Mitautor von „Die Hunde bellen ... Von A bis (R)Z. Eine Zeitreise durch
die 68er Revolte und die militanten Kämpfe der 70er bis 90er Jahre“,
autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, Unrast-Verlag, 2001
Dieser gekürzte Beitrag ist dem Buch: „Krieg ist Frieden“, entnommen,
das im Herbst 2002 beim Unrast-Verlag, Münster, erscheinen wird.