Linke
Bellizisten auf Gespensterjagd
von Alfred Schobert
Militärpolitische Normalisierung
mit Antisemitismus-
und Antiamerikanismus-Vorwürfen
Konstitutiv für eine Vorkriegszeit ist die Formierung einer publizistischen
Kriegs-„Partei“, die vermittelt über die Öffentlichkeit
den Souverän auf den anstehenden Krieg einschwört. Dieser Prozess begann
unmittelbar, nachdem die Bilder der einstürzenden Twin Towers und des schwer
beschädigten Pentagons über die Bildschirme gegangen, ein Drahtzieher
für die Akte exterministischen Terrors öffentlich benannt und damit
erste militärische Angriffsziele bestimmbar waren.
Die Phrase, dass nach dem 11. September nichts mehr so sein werde wie zuvor, war
ein wichtiger Moment im Formierungsprozess der Kriegs-„Partei“. Sie
ist aus verschiedenen Gründen, die hier aus Platzmangel nicht alle benannt
werden können [
1], wahr und falsch zugleich. Genau
genommen steht sie unter und über dieser Unterscheidung. Denn bei ihrem Einsatz
ging es zumeist nicht um die bloße Feststellung, dass nun nichts mehr so
sein werde wie zuvor (ein konstativer Sprechakt, der feststellt, was ist), sondern
der Einsatz der Phrase war Teil eines komplexeren performativen Aktes, er schuf
erst die Realität (mit), als deren Beschreibung er auftrat.
Falsch ist der Satz u.a. insofern, als die vermeintliche Neuigkeit darin besteht,
auf ein altes Reaktionsmuster zu verfallen, nämlich Krieg, und dies zudem
in nachgerade archaischer Weise öffentlich legitimiert wurde: von „Rache“
und „Vergeltung“ war die Rede. Die manichäistische Vorstellung,
hier kämpfte das Gute gegen das Böse, ist auch nicht eben taufrisch
(und bringt Bush und Bin Laden auf Augenhöhe), und der erklärte Wille,
bin Laden dead or alive zu bekommen, erinnert an die Zeiten des mythisierten Wilden
Westens, bestenfalls an Western, wo ein gerechter Sheriff seinen Mustang sattelte,
um die Finsterlinge zu jagen.
Richtig ist der Satz u.a. insofern, als bei der Kriegsformierung nicht nur eine
neue Allianz geschmiedet wurde, in der die Schurken von gestern aufgenommen wurden,
um gegen den Alliierten von gestern vorzugehen, legitimiert durch einen Beschluss
des UN-Sicherheitsrates, für den es in der Geschichte des Völker-rechts
und der internationalen Politik keinen Präzedenzfall gibt. Ebenso weist die
publizistische Kriegs-„Partei“ in der Bundesrepublik Deutschland ein
Novum auf. Sie reicht von der Bild bis zur Bahamas, von starkdeutsch bis antideutsch.
Auch die Jungle World marschiert (von wenigen Ausnahmen abgesehen und ungebremst
durch manche Unentschlossene) seit ihrer ersten Nummer nach dem 11. September
schnurstracks an die Front. Für sie war in der Tat nach dem 11. September
nichts mehr so wie zuvor, vor allem sie selbst war bis zur Unkenntlichkeit verwandelt.
Der wohl endgültigen Normalisierung von weltweiten Einsätzen der Bundeswehr
stand man dort fortan hilflos gegenüber.
Doch auch dieses Novum ist durchsetzt von alten Beständen. Wo AutorInnen
der Jungle World publizistischen Kriegsdienst leisten, bleiben bei der Lektüre
Effekte eines déjà vu nicht aus. Da lastet die Geschichte vergangener
Geschlechter wie ein Alp auf der Gegenwart, manches historische Ereignis wiederholt
sich als Farce oder auch nur als polemischer Furz von Autoren, deren Analysefähigkeit
kaum der Komplexität von Latrinenparolen gewachsen ist – alles in allen
ein gespenstisches Treiben. In einer wüsten Anachronie werden der Zweite
Weltkrieg, der zweite Golfkrieg (und dessen Weltkriegsreminiszenzen) und das Gegen-wartsgeschehen
übereinander gelegt, als projiziere man mehrere Dias aufeinander. Klare Sicht
kann man da nicht mehr erwarten. Aus der Erfahrung des zweiten Golfkriegs, wo
– als erster Schritt zur militärpolitischen Normalisierung Deutschlands
– die starke Antikriegsbewegung mit Anti-semitismus- und Antiamerikanismus-Vorwürfen
geplättet worden war, wo durch die Hussein-Hitler-Analogie der Nazismus in
den Orient expediert worden war, wo ausgerechnet radikale Linke in der Konkret
in (verständlicher) Sorge um Israel (die auch GegnerInnen des Krieges nicht
fremd war) ungewollt mit ihrem Verweis auf Auschwitz die Blaupause für die
spätere rotgrüne Legitimierung des Angriffskrieges gegen Jugoslawien
entwickelt hatten, wurde offenkundig wenig gelernt.
Die Hauptgespenster, die zu jagen sich die zur Truppe mutierten Journalisten vorgenommen
haben, heißen „Antisemitismus“ und „Antiamerikanismus“;
biswei-len werden sie auch zu einem Doppelgespenst gekoppelt [
2].
Das Fundament bildet das Dogma, der Anschlag auf das WTC sei einzig und allein
ein antisemitischer Anschlag; entsprechend verliert man den parallelen Anschlag
auf das Pentagon aus den Augen. Ob es sich bei dem, was in einer – angesichts
ihrer Dogmen und des zu Tage tretenden Glaubenseifers beinahe „heilig“
zu nennenden – Hetzjagd verfolgt wird, tatsächlich durchweg um Antisemitismus
und Antiamerika-nismus handelt, sei an dieser Stelle gerade nicht mal so dahingestellt,
als irgendwie diskutabel oder umstritten betrachtet. Dies zu tun bedeutete nämlich,
die notwendige Kritik an Antisemitismus (und auch Antiamerikanismus) und den Kampf
dagegen unglaubwürdig zu machen, damit zu erschweren und zu untergraben;
der Begriff (und Vorwurf) darf nicht zur beliebig einsetzbaren Spielmarke verkommen.
In der Korrektursparte „Kreuzworträtsel“, hieß es am 24.
Oktober: „Einige böse Leserbriefe hat uns ein Kommentar über eine
indische Schriftstellerin [Arundhati Roy; A.S.] eingebracht. Ob sie wirklich so
antisemitisch argumentiert, wie behauptet, darüber lässt sich streiten.“
Statt nun aber Einwände mindestens explizit zu machen, und den zuvor erhobenen
Vorwurf argumentativ und am Material zu stützen oder aber mit formvollendeter
Bitte um Entschuldigung zurückzunehmen, setzte man nur eins drauf: „Ebenso
darüber, wie man es interpretieren kann, dass sie nun auch der rechtsextremen
Jungen Freiheit ein Interview gewährt hat.“ Letzteres ist, ohne dass
da viel interpretiert werden muss, ein krasser politischer Fehler Roys. Zu recherchieren
wäre allerdings, wie es zu diesem Interview kam; ebenso wäre es von
Interesse, was Roy denn in diesem Interview gesagt hat.
Vor allem aber: Was ist von einem Antisemitismus-Vorwurf zu halten, den man erst
in aller Härte aufstellt, um dann ein wenig kleinlaut und als handle es sich
um eine Kleinigkeit, bei der Beliebigkeit nicht weiter ins Gewicht falle, einzuräumen,
darüber lasse sich streiten?
Thomas von der Osten-Sacken hatte eine Woche zuvor unter dem Titel „Monströse
Visitenkarte“ [
3] Roy massiv angegriffen. Als
gewiefter Demagoge lässt Osten-Sacken die antisemitische Sünde der 1959
geborenen Roy bereits während des historischen Nazismus beginnen. Es sei
„eines der großen Erfolgsprojekte der Nazis“ gewesen, „antikoloniale
Bewegungen gegen die imaginierte plutokratisch-jüdisch-angloamerikanische
Weltherrschaft zu unterstützen“, so auch die indische Unabhängigkeitsbewegung,
die vom Berliner Sender „Free India Radio mit Propaganda versorgt“
worden sei. Über die Resonanz der Nazi-Propaganda und ihre indische Rezeption
verliert Osten-Sacken kein Wort da das Ressort „Internationales“ der
Jungle World in der Hauptsache eine Vereinigung antideutscher Gesinnungsstärke
ist, kann Osten-Sacken dort die gesamte indische antikoloniale Bewegunmg auf Subhas
Chandra Bose (1897-1945), den „Duce von Bengalen“ und Widersacher
der Gandhianer, und seine Naziconnection reduzieren.
Kleinigkeiten, wie die Tatsache, dass nicht einer seiner Anhänger, sondern
sein Gegner Jaharwalhl Nehru, der sich – allerdings eingeschränkt durch
die briti-sche Kolonialverwaltung – für jüdische Belange stark
machte (es gab ca. 2000 jüdische Emigranten in Indien) erster Premierminister
Indiens wurde, passen nicht in die antideutsche Weltanschauung, die ein arisches
Indien (nach arischem Geschmack) halluziniert.
Aufbauend auf dieser Halluzination fragt Osten-Sacken demagogisch, ob es, ob es
„nun späte Dankbarkeit oder nur (!) ideologische Nähe“ sei,
die Roy nun veranlasste, „sich bei den Deutschen für ihre damalige
Hilfe zu revanchieren“. Jedenfalls habe Roy in der FAZ ein „antiamerikanisch-antisemitisches
Pamphlet“ veröffentlicht.
Roy spreche nur aus, „wovon hierzulande alle [mit Ausnahme Osten-Sackens
und der paar Gerechten in der Jungle World; A.S.] überzeugt sind. Dass nämlich
am Übel der Welt eigentlich die USA und die Juden schuld seien“. Für
diese Interpretation liefert Osten-Sacken auch ein Textzitat als vermeintlichen
Beleg. Darin geht es um die amerikanische Außenpolitik und die „unbekümmerte
Politik der unumschränkten Vorherrschaft [der USA; A.S.], ihre kühle
Missachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben“ Vielleicht fragt man
sich an der Stelle schon, wo denn bei Roy von „den Juden“ die Rede
sei, wenn nicht Osten-Sacken mit umgekehrten Vorzeichen der Nazi-Imagination aufsitzt
und „die Juden“ in den Text hineinprojiziert, so dass wo USA drauf
steht, durchweg „die Juden“ drin wären.
Offenkundig umtrieb Osten-Sacken beim Schreiben die Frage, wie er seinen LeserInnen
suggerieren könne, dass für Roy hinter den USA „die Juden“
steckten, sie also ein „antiamerikanisch-antisemitisches Pamphlet“
verfasst habe. Deshalb schlüpft er in die Rolle des Sprachanalytikers und
entdeckt ein Sprachbild, ein „Stereotyp“, an dem er seinen Vorwurf
festmacht. Roy hatte tatsächlich geschrieben, die wirtschaftlichen Bestrebungen
der US-Industrie hätten sich „gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm
durch die Wirtschaft armer Länder gefressen“, und damit meint Osten-Sacken,
sie im Sack zu haben: „Die zivilgesellschaftlich engagierte [auch das noch!
A.S.] Roy verbreitet nur noch die bereits von Free India Radio gepredigte, vermeintlich
antikapitalistische Botschaft, dass das jüdische Finanzkapital – in
Form des Stereotyps von Heuschrecken – hinter den angloamerikanischen Angriffskriegen
gegen die um Freiheit kämpfenden Völker stehe.“ Die miese Formulierung
(man stelle sich einmal vor, wie das „jüdische Finanzkapital –
in Form des Stereotyps von Heuschrecken – hinter den angloame-rikanischen
Angriffskriegen steht“) wird auch durch Gedankenstriche nicht zum Gedanken
und verweist darauf, dass Osten-Sacken seine Argumentation mit heißer Nadel
strickt. Da ist ein Eiferer am Werk, und bevor er Roy mit dem Nazi Horst Mahler
in einen Topf wirft, überführt er sie noch des Vergehens, von „tausenden
Palästinensern“ gesprochen zu haben, die im Kampf gegen die israelische
Besetzungspolitik ihr Leben ließen. Damit sind seine Belege komplett, mehr
hat er nicht zu bieten. Es sind diese wenigen Worte, die in den Augen Osten-Sackens
Roys langen Essay zu einem „antiamerikanisch-antisemitischen Pamphlet“
machen.
Das wirft denn doch einige Fragen auf: Ist das Sprachbild Heuschrecken originär
nazistischer (und nur nazistischer) Propagandastoff, wie Osten-Sacken –
ohne Nachweis – suggeriert? Welche Rolle spielt das Symbol im System der
Kollektivsymbolik [
4] des (vielsprachigen und kulturell
heterogenen) Indiens, in dem Roy sich bewegt und in dem sie schreibt, vielleicht
auch – das sei Osten-Sacken konzediert – unter Einschluss von in der
Kollektivsymbolik über Jahrzehnte sedimentierter alter Nazi-Radio-Propaganda
aus Berlin? Und welche Rolle spielt es im System der Kollektivsymbolik im hiesigen
Kontext, in den Roys Text per Übersetzung und Publikation verpflanzt wurde?
[
5] Nun mag für solche Fragen von Übersetzung
und kulturellem Transfer in einem einspaltigen Kommentar der Jungle World kein
Platz sein. Doch hieße dies, entsprechend etwas vorsichtiger mit Wertungen
und Verdammungen zu sein – was einem Journalisten im Kampfeinsatz aber fern
liegt. Osten-Sacken tritt fortwährend als Kriegspropagandist auf. Sein Herzanliegen:
Angriffe auf den Irak und die Erledigung Saddam Husseins, dem gewiss kaum jemand
eine Träne nachweinen würde, verkauft als emanzipatorischen Aktion.
Ja, die Emanzipation sei, so dialektisch ist der Weltlauf, ins Weiße Haus,
ins Pentagon und US-amerikanische außenpolitische think tanks eingezogen,
nachdem die Linken (zumal die in Deutschland, abgesehen von den wenigen Gerechten
um Osten-Sacken) und die Befreiungsbewegungen der Dritten Welt, Leute vom Schlage
Roys, sie so schmählich verraten haben. [
6] Als
Anlagen zu einem Bewerbungsschreiben für Posten einer Abteilung für
Psychologische Kriegsführung des Pentagon eignen sich seine Texte allerdings
mangels Qualität nicht, siehe die journalistisch peinliche Korrektur, die
die Redaktion nachschieben musste. [
7]
Jemand, den es anders als Osten-Sacken nicht an die Front drängt, könnte
dagegen auf die Idee kommen, dass das vermeintlich nazistisch-antisemitische Stereotyp
zur Umschreibung des „jüdischen Finanzkapital“ im hiesigen kulturellen
Kontext auf die Heilige Schrift, auf das, was von Christen „Altes Testament“
genannt wird, also jenen jüdischen Text, dessen Botschaft die Christen überwunden
zu haben vorgeben, zurückgeht. Ausgerechnet dieses Kollektivsymbol soll nun
ganz eindeutig und ohne jeglichen Interpretationsspielraum antisemitisch sein?
Das müsste es an besagter Textstelle sein, denn mehr hat Osten-Sacken im
Kontext nicht zu bieten, um nachzuweisen, Roy kritisiere nicht allgemein die Effekte
kapitalistischer Globalisierung (was in der Jungle World [noch] nicht pauschal
unter Antisemitismusverdacht steht), sondern einzig und allein das „jüdische
Finanzkapital“. Im Kontext der besagten Passage spricht Roy übrigens
nicht von „Finanzkapital“, sondern von Industrie, nicht zuletzt der
Union Carbide, die für die ökologische Verwüstung Bhopals und den
Tod Tausender Menschen verantwortlich ist. In diesem Zusammenhang ist es dann
vor allem eine ästhetische Frage, ob man die Verwüstung der Region,
für die kapitalistische Produktion/Destruktion der Union Carbide mit der
Metapher vom Heuschreckenschwarm beschreibt.
Doch mit solchen Feinheiten geben sich Osten-Sacken und die (Mehrheit der) Jungle
World nicht mehr ab. Man befindet sich im Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei,
und da wird aus jedem Holz ein Pfeil geschnitzt. Selbst Rosa Luxemburgs „Sozialismus
oder Barbarei“ wurde später umgelogen zu „Zivilisation oder Barbarei“.
[
8] Entsprechend hielt der argumentative Hooliganismus
mit dem Dossier vom 10. Oktober, kurz nach Beginn der Luftangriffe, Einzug in
die Jungle World. „In Deutschland unterscheidet sich der Ruf nach Frieden
nur unwesentlich vom Ruf nach Krieg“, konstatierte der Untertitel des dritten
Beitrags, quasi die dritte Halbzeit einleitend, in der mit den Fäusten argumentiert
wird. [
9] Damit ist schon angedeutet, dass dem hier
marschierenden aufgeblasenen Autorenego jegliches Unterscheidungsvermögen
abhanden gekommen ist. Da der ideologiehistorisch versierte Feinanalytiker der
Antikriegsbewegung unterstellt, sie betreibe die Wiederbelebung der deutschen
Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, soll sein Text römisch zivilisiert
kommentiert werden: Tum podex carmen extulit horridulum! [
10]
Wie einst Kaiser Wilhelm, nur umgekehrt wertend, kennt der Autor nur noch Deutsche:
„Wenn es gegen die Juden und die USA geht, stellen Nazis – und andere
Kriegsgegner – ihre Aversion gegen Kanaken zurück und verbrüdern
sich mit ihren islamischen Glaubensbrüdern“. Soviel Unsinn und Diffamierung
in einem Satz unterzubringen, ist schon eine Leistung! Man könnte darüber
fast die geballte Ladung Geschichtsrevisionismus übersehen, die diese Behauptung
– vermutlich unbeabsichtigt – impliziert. Hier werden pauschal Gegner
des Krieges mit Nazis auf eine Stufe gestellt; wie die Nazis, deren Diskussionen
und Praxis der Autor geflissentlich nicht zur Kenntnis nimmt, würden die
Kriegsgegner ihren Rassismus „zurückstellen“, um mit konzentrierter
Kraft gemeinsam „gegen die Juden und die USA“ vorzugehen. Vielleicht
erklärt dies die ungeschickte Wortwahl des Bescheidwissers: „Kriegsgegner“,
wie er Gegner des Krieges nennt [
11], meint ja auch
den Gegner im Krieg, und in der Tat erklärt er Gegnern des Krieges den Krieg.
Dass er dabei „Nazis“ (und nicht etwa nur, was schlimm genug wäre,
Neonazis) zu Gegnern des Krieges verharmlost, impliziert eine Verharmlosung der
Nazi-Ideologie und -Praxis, die erschrecken lässt. Weder die heutigen Neonazis
noch die historischen Nazis waren Gegner des Krieges; genau das Gegenteil ist
richtig. Vielleicht sollte jemand dem Autor und dem verantwortlichen Redakteur
vor einer weiteren Publikation mal etwas über den Zusammenhang von Vernichtungskrieg
im Osten und der Shoah erzählen.
Es gehört speziellen Debatten-„Kultur“ der Jungle World, dass
die Dossier-Einleitung mit dem Imperativ „Bitte einsteigen!“ eine
Einladung zur Diskussion bein-haltete. Die Ankündigung, die Diskussion werde
fortgesetzt, wirkte eher als Drohung denn als Versprechen. Mit dieser Debattenvorgabe
ist die Falle für KritikerInnen dieses Krieges in der Jungle World perfekt.
Als Kriegskritiker hier einzusteigen hieße, jene delirierende Feind- und
Kriegserklärung, als legitimen Diskussionsbeitrag anzuerkennen und damit
auch hinzunehmen, es sei diskutabel, man selbst sei, da Gegner des Krieges, Antisemit
und Rassist und stehe auf einer Stufe mit den Nazis. Der Falle ist in der Jungle
World nicht zu entrinnen: Ein Debattenbeitrag in derselben Zeitung, der das Delir
rechts liegen lässt, steht dennoch praktisch mit ihm in einer Reihe; ein
Debattenbeitrag, der kritisch darauf eingeht, diskutiert das Indiskutable und
lässt sich auf sein Niveau herunterziehen.
Es kann hier nicht entschieden werden, ob dies redaktionell so beabsichtigt war,
als man jenes hetzerische Pamphlet publizierte. [
12]
Sicher ist, dass nachträglich der Redaktion die Implikationen und Konsequenzen
einer derart ausrastenden „Diskussion“ geduldig vor Augen geführt
wurden. Die Weigerung, für einen Diskussionsrahmen zu sorgen, der solche
Ausfälle ausschließt, also gewisse sonst propagierte (und seit dem
11. September mit großer Emphase hoch gehaltene) zivilisatorische Standards
erfüllt, lässt vermuten, dass man sich insgeheim bewusst ist, auf welch
schwacher argumentativer Grundlage der bellizistische Diskurs insgesamt beruht.
Genau deshalb muss er ab und an durch publizistischen Hooliganismus abgesichert
werden, da zeigt man Kritikern präventiv die Folterwerkzeuge. Dass man dabei
so nebenbei vormalige Essentials, die seit der Blattgründung für die
Identität der Zeitung standen, durch Übertreibungen ins Unermessliche
fahrlässig über Bord wirft, wird in Kauf genommen. Eine einst klare
und richtige Position verkommt zu Rabatz-Anti-Antisemitismus. Müssten nicht
mindestens die Helleren in der Redaktion dies irgendwann doch bemerken, wenn auch
spät, viel zu spät?
Ich erlaube mir eine persönliche Nachbemerkung. Vielleicht, weil ich mich
selbst wundere, nun doch alle Textbeispiele der Jungle World entnommen zu haben,
obwohl das Angebot leider breiter war, und Anfang Januar immer noch mit dem Blatt
zu hadern, obgleich mir ab der ersten Nummer nach dem 11. September klar war,
in welche Richtung dieser Zug fährt.
Teilweise zu legitimieren ist die persönliche Bemerkung wohl damit, dass
sich der eine oder die andere vielleicht die Augen reibt und fragt: „Nanu,
hat der Typ nicht über Jahre hinweg in der Jungle World über Antisemitismus
(und auch Antiamerikanismus) geschrieben, krude Allianzen bestimmter Nazis mit
bestimmten Islamisten thematisiert und dabei an manchen linken Antizionisten kein
gutes Haar gelassen?“ Ja, und in der (kursorischen) Rückschau sehe
ich auch nicht, was falsch daran gewesen ist; die Aussagen waren empirisch belegt,
das Material eher vorsichtig denn überspitzt interpretiert, und Kriegslegitimierung
wurde in der Zeitung nicht betrieben.
Nun will ich nicht öffentlich thematisieren, was es mir bedeutet, wenn eine
Zeitung, für die ich – mit einer längeren Unterbrechung –
seit ihrer Gründung geschrieben habe, nun unter lautem und meist haltlosem
„Antisemitismus“- und Antiamerikanismus“-Geschrei für den
Krieg „der Zivilisation gegen die Barbarei“ mobil macht, wie enttäuschend
das ist usw. Das schmerzt, doch das gehört nicht hierher. Allerdings frage
ich mich, was an der jüngeren linken Antisemitismus-Debatte, zu der ja auch
diese Artikel gehören, insgesamt vielleicht falsch gelaufen ist, so dass
sie zu den hier kritisierten Resultaten geführt hat. Darüber wird in
naher Zukunft diskutiert werden müssen, wenn jemand die Muße und die
Nerven hat, die linken Debattentexte zu analysieren (einige sind, das sagt mir
mein Gedächtnis spontan, wirklich schauderhaft, wahllose Antisemitismus-Vorwürfe
sind nicht neu, und manche Ausfälle werden retrospektiv kenntlicher).
Für die m.E. auch jetzt weiterhin nötige kritische Thematisierung von
Antisemitismus wird das Terrain dadurch jedenfalls unwegsamer. Denn man steht
nicht nur in einer Gesamtöffentlichkeit, in der – siehe nur die Walser-Debbatte
und die begeisterte Aufnahme Finkelsteins – die Tabuisierung von Antisemitismus
längst nicht mehr funktioniert, den erklärten Antisemiten gegenüber,
sondern muss zugleich auch gegenüber gewissen Anti-Antisemiten eine Demarkationslinie
ziehen. Dabei sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dies allein reiche
aus zu verhindern, dass man von manchen Kreisen (gewissen linken Antizionisten)
in interessierter Weise mit eben diesem verqueren Anti-Antisemitismus in einen
Topf geworfen wird. Fortan das Thema zu vernachlässigen oder genervt abzuwinken,
weil der Antisemitismus-Vorwurf in etlichen Fällen auch interessiert instrumentalisiert
wird, scheint mir jedenfalls die falsche Reaktion.
Alfred Schobert
Fußnoten
- Zudem gehört eine heikle Probelmatik
in diesen Zusammenhang: Es ist noch zu früh zu beurteilen, ob mit dieser
Phrase und der zugehörigen Rede von der „historischen Zäsur“
(und zwar, worin die Crux liegt, ungeachtet der Frage, inwiefern der Angriff auf
das WTC auch antisemitisch motiviert war) aus dem singulären Ereignis extermistischen
Terrors ein historischer Einschnitt von der Qualität des singulären
Zivilisationsbruchs, den wir mit dem Ortsnamen Auschwitz bezeichnen, ins historische
Bewusstsein eingeschrieben werden soll. Gewisse Tendenzen in diese Richtung waren
spürbar, und man sollte sie als Warnung verstehen, statt sich blindlings
in dieses diskursive Muster zu verstricken. [back]
- Die wacklige Konstruktion eines
„Islamofaschismus“, über die über Nacht zu Orient- und Islamexperten
mutierte Allroundteoretiker in vorschnellen Analogiebildungen eifrig schwadronieren,
ohne darüber nachzudenken, dass sie damit in den Fußstapfen Enzensbergers
erneut den Faschismus in den Orient expedierten, kann hier nicht berücksichtigt
werden. [back]
- Jungle World 43/01, 21 [back]
- Zum synchronen System der Kollektivsymbolik
vgl. die Arbeiten der Forschergruppe um Jürgen Link, bspw. fortlaufend in
der Zeitschrift kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie.
[back]
- Zu zwei der überaus seltenen
Fällen, in denen das Kollektivsymbol („Wanderheuschrecken“) im
Kontext neorassistischer Politik gegen Einwanderung ver-wandt wird (was nicht
das Gleiche ist wie antisemitische Agitation gegen „jüdisches Finanzkapital“)
vgl. Alfred Schobert: Mitte und Normalität. Zur Gleichzeitigkeit von moderner
Kollektivsymbolik und traditioneller institutionalistischer Symbolik. In: Ernst
Schulte-Holtey: Grenzmarkierungen. Normalisierung und diskursive Ausgrenzung.
Duisburg: DISS 1995, 53-73, hier 65. [back]
- Vgl. Osten-Sacken, gemeinsam mit
Thomas Uwer in Jungle World 49/01, 21 und auch, Konkret 1/02, 26-28. [back]
- Vgl. Jungle World 50/01, 2. Auch
seine Entlarvung Hans Christian Ströbeles als üblen Antisemiten, der
während des zweiten Golfkrieges in Kauf genommen hätte, gleich eine
Million Israelis über die Klinge springen zu lassen, war journalistisch ein
Flop (vgl. die Gegendarstellung in Jungle World 25/01, 2). Solche Leistungen qualifizieren
Osten-Sacken in der Jungle World als Spezialisten für den Nahen und Mittleren
Osten. [back]
- Jungle World 49/01, 24-25. [back]
- Jungle World 42/01, VIII. [back]
- Zu deutsch: Da stieß der
Hintern ein schreckliches Lied hervor. [back]
- Und dass er sie meint, wird im
Kontext eindeutig klar gemacht; im folgenden Satz zitiert er einen DFG-Sprecher.
[back]
- Auch für die Jungle World
ist diese Position etwas prekär: Nähme man die absurden Behauptungen
des Delirs für voll, so müsste man eingestehen, dass die Jungle World
ihre Spalten auch für Antisemiten, nämlich die einzelnen kriegskritischen
Stimmen, die sich dort vernehmen lassen, öffnet. So bleibt abzuwarten, wann
irgendein Depp die Zeitung als (eingestandenermaßen) antisemitisch entlarvt.
[back]