Überlegungen zum Reichtum der BRD [
1]
Johannes M. Becker www.steinbergrecherche.com
16. Mai 2004
Widersprüchliche Nachrichten erreichen uns um die Jahreswende 2003/2004:
Auf der einen Seite sind da die Appelle der Politiker, das deutsche Volk müsse
Maß halten. Man habe zu lange auf der faulen Haut gelegen, habe zu lange
aus dem Vollen geschöpft: Alle müssten sparen!
In diesen Duktus passt das systematische Hervorrufen von Sozialneid: So der denunziatorische
Umgang mit dem Sozialhilfeempfänger N.N., der – von den bundesdeutschen
Medien binnen weniger Tage wie eine Sensation aufgebauscht – auf Mallorca
lebt. Oder – ein weiteres derzeit populäres Beispiel des moralischen
Zeigefingers auf vermeintliche „Oblomovs“, auf rücksichtslose
Nutznießer, des Sozialstaates – die rhetorische Frage der offensivsten
Sozialabbauer der christlichen Parteien, wie sich denn die 80 Prozent der Studierenden
fühlen müssten, die ihr Studium innerhalb der vorgesehenen Fristen absolvierten,
gegenüber den 20 Prozent „Langzeitstudierenden“ ...
Sogar der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof (Prof.
Dr.) Wolfgang Huber blies (FAZ vom 2. Januar 2004) in dasselbe Horn, als er sagte:
„Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen, wir sollten
zugunsten späterer Generationen kürzer treten, wir haben soziale Errungenschaften
einzuschränken, wenn wir sie erhalten sollen.“
Infolgedessen sind die Sparprogramme des Jahres 2003 auf Bundes- wie Landesebene
einschneidend: Ob es sich um das Rentensparpaket (sieh „Das Parlament“
vom 27. Oktober 2003) handelt [
2], ob um die enormen Verschlechterungen für
Arbeitslose und Langzeitarbeitslose (siehe die Presseschau Mitte Dezember, exemplarisch:
„junge Welt“ vom 17. Dezember 2003) oder auch um das „Milliarden-Sparprogramm“
der hessischen Landesregierung vom Jahresende 2003, das allein 15 500 Menschen
arbeitslos macht.
Auf der anderen Seite erreichen uns da Nachrichten (FAZ vom 12. Februar 2004),
dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2003 wieder einmal „Weltmeister“
der Exportländer sei, mit einer Differenz von unvorstellbaren 130 Milliarden
Euro zwischen Importen und Exporten und mit einer für 2004 vorausgesagten
erneuten RekorMarkarke. Dieses Handelsbilanzsaldo betrug in den Jahren 1997 bis
2000 jeweils 60 Milliarden Euro, es stieg ab 2001 sprunghaft über 95,5 Milliarden
Euro (2001) auf 133 (2002) und betrug 2003 besagte 130 Milliarden Euro. Daher
stieg es in den Zeiten der eingangs beschworenen Krise am stärksten. Es geht
hier, wohl bemerkt, nicht um einen Exportüberschuss pro Kopf, sondern die
BRD der 82 Millionen erzielte einen um sieben Prozent höheren Überschuss
als der 290 Millionen-Staat USA. Und all dies bei den permanent beschworenen hohen
Lohnkosten für unsere Produkte und bei einem historischen Höchststand
unserer Währung (gegenüber dem US-Dollar), d.h. unter eigentlich den
Export erschwerenden Bedingungen. [
3]
Die, ein zweiter Hinweis, größte konservative Wirtschaftzeitung unseres
Landes (FAZ am 20. Januar 2004) bescheinigt der deutschen Wirtschaft in den zentralen
Branchen Biotechnologie, Automobilindustrie, Chemie und Werkzeugmaschinenbau eine
herausragende Wettbewerbsfähigkeit. Es erreichen uns schließlich Nachrichten,
dass große Firmen Milliarden-Gewinne machten (bspw. Daimler-Benz) und ihre
Aktionäre mit großzügigen Dividenden ausstatteten, wenngleich
sie keine Steuern zahlten. Die „Welt am Sonntag“ meldet (am 8. Februar
2004: „Deutsche Firmen vor Gewinnexplosion“), dass die Gewinne der
30 im Deutschen Aktienindex (DAX) registrierten Unternehmen nach einer Steigerung
um knapp 30 Prozent in 2003 im Jahr 2004 vermutlich um 47 Prozent (in Worten:
siebenundvierzig) steigen werden. Die 50 größten europäischen
Unternehmen (im EuroStoxx zusammengefasst) steigerten ihren Gewinn nach einem
Einbruch von 32,6 Prozent in 2002 im Jahr 2003 und 80 Prozent; für 2004 wird
ein erneuter Anstieg um 20 Prozent erwartet.
Aus einem anderen Blickwinkel: Das private Geldvermögen in Deutschland hat
sich (jW vom 14. Dezember 2003) zwischen 1990 und 2000 fast verdoppelt, die öffentlichen
Haushalte verarmen jedoch immer mehr.
Im folgenden werden einige Beobachtungen zusammengestellt, die die These von der
bankrotten Bundesrepublik Deutschland, vom „kleiner werdenden Kuchen“,
in Frage stellen werden.
Eine derartige Zusammenstellung scheint nicht zuletzt nötig, da sich in der
politischen Öffentlichkeit, vor allem in den am stärksten von der Krise
betroffenen Schichten, ein weitgehender Stigmatisierungsprozess breit gemacht
hat. Dieser führt dazu, dass der Widerstand gegen die soziale Umverteilung,
gegen den umfassenden Sozialabbau, sei er von konservativen, sei er von sozialdemokratisch
dominierten Bundes- wie Landes-Regierungen vollzogen, nahezu paralysiert ist.
Grundthese meiner Ausführungen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht
bankrott ist, sondern dass der erwirtschaftete Reichtum nur äußerst
ungleich verteilt ist, dass der Reichtum unseres Landes nicht gemäß
dem geltenden Grundgesetz eingesetzt wird. Zugleich ist, wie gezeigt werden wird,
der von der Masse der Arbeitenden erwirtschaftete Reichtum betrügerischen
Machenschaften in größerem Ausmaße ausgesetzt.
Zu erinnern ist, dass das Grundgesetz die Bundesrepublik in mehreren Artikeln
zur Aufrechterhaltung eines „sozialen“ Rechtsstaates (so im Artikel
20.1) verpflichtet – dies wohlweißlich unter anderem vor dem Hintergrund
der historischen Erfahrungen des deutschen Faschismus. Hinzuweisen ist noch auf
mein Bemühen, ausschließlich Ideen anzubieten, die systemimmanent sind,
d.h. die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht in Frage stellen.
Verschwendung
Der Bund der Steuerzahler mahnt in jedem Jahr in seinem „Schwarzbuch“
kontinuierlich die Verschwendung von 30 Milliarden Euro an. Ob für unsinnige
oder für unangemessen aufwendige Bauten, unnötige Politikerreisen, wertlose
Gutachten, unsinnige Subventionen, Korruption – kurz: ineffiziente oder
zweckfremde Verwendung der Steuern. [
4]
Auch der Bundesrechungshof (sieh FAZ 26. November 2003) sieht jährliche „Effizienzreserven“
in Höhe von fünf Milliarden Euro („Reserven an Einnahmen und Einsparungen“).
Beispiele aus dem Bericht von 2003 betreffen den Umbau des Schulschiffes der Bundesmarine
„Gorch Fock“, der aufgrund ungenügender Planung fast doppelt
so teuer wie geplant wurde. Die Ausstattung der Direktionsräume des Robert-Koch-Instituts
(ohne Auftrag vergeben) habe dreimal mehr als geplant gekostet.
Auch die Zahlung einer dreistelligen (!) Millionensumme für den 1,5 Kilometer
langen Berliner U-Bahn-Tunnel ins Regierungsviertel kritisierte (jW vom 15. Oktober
2003) der Bundesrechungshof.
Ein Drittes: Deutschland gibt jährlich knapp 30 Milliarden Euro für
Militär aus. Nicht erst seit Bundeskanzler Kohl die Bundesrepublik von „Freunden
umzingelt“ sah, sind diese Ausgaben umstritten. Heute hingegen sieht ein
sozialdemokratischer Minister die Interessen der BRD „am Hindukusch“
zu verteidigen. Bundeskanzler Schröder freute sich im Zusammenhang mit der
Teilnahme der BRD am Afghanistan-Krieg („gegen den Terrorismus“) über
die „Enttabuisierung des Militärischen“. Militärische Aufgaben
jedoch sind, wenn überhaupt sinnvoll, in die Hände supranationaler Organisationen
wie der (zu reformierenden) UNO zu legen.
An die Adresse der Gewerkschaften, die – im Falle einer umfassenden Konversionspolitik
- den Verlust von Arbeitsplätzen befürchten: Zum ersten ist Rüstungsproduktion
außerordentlich technologisiert, d.h. nicht arbeitskräfteintensiv.
Zum zweiten sind die Produkte der Rüstungsindustrie - schlicht - unproduktiv.
Ein Panzer, ein „Eurofighter“, eine Fregatte produzieren nichts!
Betrug
An Schwarzarbeit wird in Deutschland (sieh FAZ vom 30. Januar 2003) vermutlich
eine Summe erwirtschaftet, die mehr als ein Sechstel (17,1 Prozent) des BIP umfasst.
Hierfür werden weder Steuern, noch Sozialabgaben abgeführt. Wenn also
der Staat dafür sorgen würde, dass für 370 Milliarden Euro Steuern
und Sozialabgaben (der GdP-Vorsitzende Freiberg sprach, OP vom 21. Januar 2004,
von „jährlich 64 Milliarden Euro Steuereinnahmen und 56 Milliarden
Euro Sozialversicherungsbeiträge(n)“) gezahlt würden, dürfte
das Gros der Neuverschuldung wie auch die „Bedienung“ der Altschulden
leicht finanzieren lassen. Überdies steigt, so das Institut für Angewandte
Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen, die Schwarzarbeit etwa
doppelt so schnell wie das BIP.
Es stellt sich die Frage, warum der Staat (zumindest die organisierte) Schwarzarbeit,
trotz seiner regelmäßigen medial groß angelegten Kampagnen (siehe
ddp und AP am 2. Januar 2004) nicht wirksam bekämpft. [
5] Dass die Massen-
und Langzeitarbeitslosigkeit viele Menschen in die individuelle Schwarzarbeit
drängt, wird weiter unten behandelt.
Die Steuerehrlichkeit der Besitzenden in unserem Lande ist ein weiteres potentiell
ertragreiches Kapitel: Bspw. überprüften die Finanzämter des Landes
Nordrhein-Westfahlen (Westfälische Nachrichten vom 12. August 2003) im ersten
Halbjahr 2003 267 der rund 1700 Einkommensmillionäre des Landes nach deren
Steuererklärung durch eine Sonderprüfung. Nur 21 Fälle blieben
unbeanstandet. In 246 Fällen ergab die Sonderprüfung eine Nachzahlung
von insgesamt 23 Millionen Euro – ca. 120 000 Euro pro Fall. (Zwei Jahre
zuvor betrug der Steuerbetrug pro Fall noch 47 000 Euro) Hochgerechnet auf die
ca. 20 000 Einkommensmillionäre im gesamten Bundesgebiet ergäbe dies
vermutlich die gesamte Defizitsumme der Pflegeversicherung für das Jahr 2003.
Außerdem könnte die Arbeitslosigkeit um einige Tausend neu ausgebildete
Steuerbeamtinnen und Steuerbeamte vermindert werden. Und die Kultur der Steuergerechtigkeit,
die derzeit die Debatten so strapaziert, hätte ein gutes Argument an ihrer
Seite.
Die Frage ist, warum derartige Überprüfungen nicht ablaufen.
À propos Steuergerechtigkeit: Die um die Jahreswende 2003/2004 diskutierte
Steueramnestie der SPD/Grünen-Regierung ist ein weiteres Beispiel für
die extreme Begünstigung großer Einkünfte und der Nicht-Verfolgung
von Steuerhinterzug. So schrieb die FAZ (19. Dezember 2003) ein Fallbeispiel folgendermaßen:
„Wer also in dem Zeitraum 1993 bis 2002 beispielsweise 100 000 Euro nicht
erklärter (d.h. hinterzogener, JMB) Kapitaleinkünfte erhielt hat, zahlt
daraufhin alles in allem 15 000 Euro. Eine Selbstanzeige, die natürlich möglich
wäre, würde hingegen etwa das Drei- bis Vierfache kosten.“ [
6]
Der Steuersatz für Kapitalerträge liegt bei 25 Prozent.
Der Präsident des Bundeskriminalamtes Kersten bezifferte (FAZ vom 21. November
2002) die Schäden durch Wirtschaftskriminalität im Bundesgebiet für
die öffentlichen Kassen auf im Jahr 2001 6,8 Milliarden Euro. Tendenz: steigend.
(1994 wurden 58 Fälle strafrechtlich verfolgt, 2000 bereits 1243 Fälle)
Die Delikte sind: Rauschgifthandel, illegal erworbene Vermögen, Marken- und
Produktpiraterie, Bestechung, Betrug, Untreue. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt
Schaupensteiner bezifferte (AP vom 20. November 2002) allein die Schäden
bei öffentlichen Bauvorhaben auf fünf Milliarden Euro. Nur fünf
von 100 Korruptionsfällen werden bekannt. Schaupensteiner gab folgendes Rezept
zur Bekämpfung der zuletzt genannten Delikte, betreffend ehemalige Staatsdiener:
Wer in einer Behörde mit einem Unternehmen befasst gewesen sei, müsse
bei einem Ausscheiden aus dem Staatsdienst fünf Jahre lang von entsprechenden
Geschäftsbeziehungen ausgesperrt bleiben. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter
BDK beziffert die jährlichen Schäden durch Wirtschaftskriminalität
in der gesamten deutschen Ökonomie auf 36 Milliarden Euro. (ddp vom 19. November
2002)
Betr. Steuerflucht summierte bereits Ex-Finanzminister Waigel die jährlichen
Steuerausfälle für die BRD auf eine Summe zwischen 35 und 70 Milliarden
Euro. Die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (AAW) summiert
sie für 2003 auf etwa 50 Milliarden Euro. (Zu erinnern in diesem Zusammenhang:
Die Kapitalertragssteuer beträgt in Deutschland derzeit 25 Prozent, in Luxemburg
neben einer zu vernachlässigenden Bearbeitungsgebühr der Banken 0 Prozent
... [
7])
Rätselhaft erscheint in diesem Zusammenhang auch der öffentliche Umgang
mit exorbitanten Spitzenverdienern wie dem Ex-Tennisspieler Becker, dem Rennfahrer
Schumacher oder dem Ex-Fußballer Netzer: Diese (es handelt ich nur um die
Spitze des Eisbergs) haben ihre Wohnsitze in die Schweiz verlegt, um dort weniger
Steuern zu zahlen (siehe FAZ vom 25. September 2003), sie werden von den Medien
weiterhin als Orientierungsfiguren der Jugend behandelt, so wenn der Kanzler bspw.
Herrn Schumacher euphorisch zu seiner sechsten Weltmeisterschaft gratuliert. Dutzende
von Fußballprofis wohnen offiziell in den Niederlanden ...
Wachsende soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit
Nur zwei Daten [
8] mögen die Lage verdeutlichen:
a) Allein in den letzten 25 Jahren haben sich die Anteile am Steueraufkommen des
Staates völlig verändert: Trugen noch 1977 Lohnsteuer wie Unternehmens-
und Gewinnsteuer je ca. 30 Prozent zu den Steuereinnahmen bei, so betrugen die
Werte 2001 für die Lohnsteuer 35 Prozent, für die Unternehmens- und
Gewinnsteuern nur noch 15 Prozent. Ist die durchschnittliche Steuerlast auf Löhne
zwischen 1980 und 2001 von 15,7 auf 18,6 Prozent gestiegen, so hat die für
Gewinne von 1980 24 Prozent auf 2001 12,1 Prozent abgenommen.
Auch hier wieder zwei Beispiele aus der bundesdeutschen Realität: In der
Bilanz des 10 000-Beschäftigten-Konzerens Buderus für 2002/2003
stieg der Überschuss des Unternehmens um 104 Prozent, seine Ertragssteuern
hingegen sanken um 36 Prozent. Der Baukonzern Bilfinger erwirtschaftete mit seinen
50 000 Beschäftigten 2002/2003 einen um 15 Prozent gestiegenen Überschuss,
konnte aber seine Ertragssteuerzahlungen um 75 Prozent senken. (jW vom 8. Mai
2003)
b) Die Verteilung des Geldvermögens stellt sich folgendermaßen dar:
Die zehn Prozent der Vermögendsten der Republik besaßen 1998 50,4 Prozent
des Geldvermögens (1993: 46,4 Prozent), die 50 Prozent am unteren Ende der
Vermögensskala besaßen 4,7 Prozent (1993: 7,7 Prozent). Was heißt:
Umverteilung auch hier, und dies in rasantem Tempo (vom Immobilienbesitz ganz
zu schweigen).
Ende 2002 verfügten in Deutschland nach einer Studie der US-Bank Merrill
Lynch (jW vom 15. Oktober 2003) 755 000 Privatpersonen über ein Finanzvermögen
(Immobilien nicht gerechnet) von mehr als einer Million US-Dollar, Ende 2001 hatte
diese Zahl noch bei 730 000 gelegen. Auf der anderen Seite sind, so Claudia Kurzbuch,
Chefin der Bundes-AG Schuldnerberatung (in der Neuen Osnabrücker Zeitung
vom 2. Februar 2004), etwa drei Millionen deutscher Haushalte, überschuldet,
in 2003 sei die Zahl der Ratsuchenden um ein Drittel (!) gegenüber 2002 gestiegen.
Die Zahl der persönlichen Insolvenzen werde in 2004 auf weit über 40 000
steigen. Was inzwischen allgemein bekannt ist: Etwa zehn Prozent der Bundesbevölkerung
lebt unter der Armutsgrenze (mit weniger al 50 Prozent des durchschnittlichen
Haushaltseinkommens). Armut, dies ist am besten in den Sozialhilfestatistiken
der Kommunen abzulesen, ist jung und weiblich, in erster Linie allein erziehend.
Tendenz bei allen genannten Gruppen: Steigend.
Ungeheuerlichkeiten/Geschmacklosigkeiten
Da wurden beim FRAPORT-Skandal Hunderttausende Euro an Bestechungsgeldern gezahlt.
Da wurde den (gescheiterten!) Managern Sommer (Telecom) oder auch Esser (Mannesmann)
[
9] Abfindungen in zweistelligen Millionenhöhen
gezahlt. Bei Mannesmann betrug der Gesamtschaden durch die Selbstbedienung der
Unternehmensleitung 112 Millionen Mark (FAZ vom 22. Januar 2004).
Da stattete die hessische Landesregierung (unter dem sich so gerne als rigorosen
Sparer profilierenden Ministerpräsidenten Koch) ihren neuen gerade für
zig Millionen angekauften Amtssitz in Wiesbaden mit Luxus-Mobilar für Mehrkosten
in Höhe von einigen Millionen Euro aus. Gleichzeitig wurde der Weinkeller
des hessischen Staatsweingutes für sieben Millionen Euro restauriert. Unter
Ministerpräsident Koch wurde der Stellenpool der Staatskanzlei seit seiner
Amtsübernahme 1999 um 90 – zumeist hochdotierte – Stellen aufgebläht.
Die gewaltigen Ausgaben für Beratungsunternehmen (bspw. SAP) kommen hinzu.
Da wurde bekannt, dass der Medien-Mogul Kirch zahlreiche konservative Politiker
für „Beraterdienste“ auf seiner Gehaltsliste führte („Focus“
1/2004): So erhielt Ex-Kanzler Helmut Kohl „Jahresbeträge“, so
der Focus, in Höhe von 300 000 Euro, die Ex-Minister Jürgen Möllemann
in Höhe von 400 000 Euro, Theo Waigel von 300 000 Euro, die Ex-Minister Christian
Schwarz-Schilling, Wolfgang Bötsch und Rupert Scholz daneben geradezu bescheidene
150 000 Euro.
Es stellt sich die Frage, für welcherlei Dienste die weiterhin einflussreichen
Politiker diese enormen Summen erhielten. (In diesem Zusammenhang sei an die o.a.
Aussage des Frankfurter Juristen Schaupensteiner erinnert.)
Auch die Einkünfte deutscher Wirtschaftsmanager (teilweise in Millionen-Euro-Höhe)
scheinen unverständlich, nicht nur, wenn ihre Unternehmen keine Steuern zahlen.
Warum müssen bestimmte Menschen in einem Jahr einnehmen, wofür andere
ein ganzes Leben arbeiten müssen?
Da erhöhten sich die Funktionäre der gerade zur größten Gewerkschaft
der BRD fusionierten VerDi ihre Gehälter um – skandalöse und an
der Gewerkschaftsbasis nur schwer zu vermittelnde – 50 Prozent. Und der
damalige IG-Metall-Chef Zwickel widersetzte sich den skandalösen Zahlungen
an Esser (Mannesmann) im Aufsichtsrat nicht (FAZ vom 17. Januar 2004).
Einnahmeverzichte des Staates
Die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (AAW) beziffert
die Einnahmeverzichte, sprich: verluste in folgenden Bereichen mit folgenden Werten:
- 14 Milliarden Euro würden den öffentlichen Haushalten wieder zufließen
bei der Wiedereinführung der Vermögenssteuer (diese wurde unter Kanzler
Kohl abgeschafft, von der Regierung Schröder trotz der beklagten Haushaltsprobleme
nicht wieder eingeführt)
- Vier Milliarden Euro würden durch eine gerechtere Erbschaftssteuererhebung
fließen [10]
- 22 Milliarden Euro durch die Abschaffung des Ehegattensplittings
- Neun Milliarden Euro durch die Einführung einer Börsenumsatzsteuer;
- 17 Milliarden Euro durch die Etablierung einer Spekulationssteuer (Tobin-Steuer)
[11]
- 13 Milliarden Euro durch eine kommunale Wertschöpfungssteuer. [12]
Ein Beispiel aus dem europäischen Umfeld zur Verbesserung der staatlichen
Einnahmesituation: Die französische Linksregierung unter Lionel Jospin verordnete
nach ihrer Wahl 1997 zur Finanzierung eines gewaltigen Beschäftigungsprogramms
für arbeitslose Jugendliche eine Vermögenssteuererhöhung. Es ist
nichts bekannt geworden von größeren Steuerflucht-Bewegungen.
Neben der illegalen Steuerflucht existiert die legale Steuerhinterziehung, besser:
Steuervermeidung.
- Bspw. durch die Tatsache, dass Daimler-Benz zwar Dividenden für seine Aktienbesitzer
ausschüttet, jedoch über Jahre keine Ertrags-Steuern zahlte, weil die
Verluste für den Kauf des US-Unternehmens Chrysler auch in Deutschland zu
Buche schlugen.
- Bspw. durch die Sonderabschreibungen im Zusammenhang mit der deutschen Einigung.
Hier verzichtete der Staat auf Abgaben für Hunderte von Milliarden Mark für
Investitionen in den Fünf Neuen Bundesländern; heute stehen viele dieser
Bauten als Investitions-Ruinen.
Die Kette der Abschreibungsverluste für den Fiskus ist beliebig verlängerbar.
Die Rede von der Überschuldung unseres Landes
Unter Hinweis auf die hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte verweigern
sich Bundes- und Landesregierungen groß angelegten Investitions- und Beschäftigungsprogrammen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Siegfried Wetzel (jW vom 13./14. Dezember 2003)
hält folgendes dagegen:
a) In der Tat hat die Verschuldung (Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom
Mai 2003) der öffentlichen Haushalte 2002 eine Höhe von 1300 Milliarden
Euro erreicht. In der Tat ist die Zinslast mit ca. 65 Milliarden Euro/Jahr enorm.
b) Allerdings: „Das reine, registrierte Geldvermögender privaten Haushalte
in der BRD (also ohne das im Ausland illegal geparkte Geld) (wurde) für das
Jahr 2001 mit 3,9 Billionen Euro angegeben.“ [
13] Das gesamte Geld- und
Sachvermögen in Deutschland beläuft sich gar auf 8,1 Billionen Euro.
c) „Die Staatsverschuldung der Bundesrepublik beläuft sich also auf
weniger als 30 Prozent des vorhandenen Geldvermögens. Bezieht man das vorhandene,
hauptsächlich aus Immobilien bestehende Vermögen in die Betrachtung
ein, sind das weniger als 16 Prozent.“ [
14]
Wetzel resümiert: „Es ist offensichtlich, dass mit dem ständigen
Geschrei über die hohe Staatsverschuldung und den damit verbundenen Horrorszenarien
die mit der ‚Agenda 2010‘ geplanten Maßnahmen zur Beschneidung
der Renten, zur Verlagerung von Gesundheits- und Pflegekosten auf die Arbeit‚nehmer‘
und damit die Verstärkung der sozialen Schieflage gegenüber den Bürgern
‚begründet‘ werden soll. Die verwirrende Diskussion über
eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Nebelwand, hinter der das Konzept einer
neoliberalen Wirtschaftspolitik nach und nach verwirklicht und die Umverteilung
von unten nach oben in Richtung des amerikanischen Weges nicht nur fortgesetzt,
sondern verstärkt werden soll.“
Wetzel plädiert für eine deutliche Steuerentlastung der Masseneinkünfte,
d.h. für eine Erhöhung der Massenkaufkraft, und für eine „zeitweilige
und kontrollierte Abweichung“ von der Maastrichter Haushaltssparpolitik,
d.h. für ein staatliches Investitionsprogramm.
Unterstützt wird diese Position von der jüngsten Bewertung der Ratingagentur
Standard & Poor’s (FAZ vom 21. Januar 2004), in der Deutschland als
erstklassiger Schuldner („Note ‚AAA‘“) gewertet wird.
„Anders als von manchen Politikern an die Wand gemalt, hat die mehrfache
Verletzung der Schuldenobergrenze im Stabilitäts- und Wachstumspakt durch
Deutschland damit keinen Einfluss auf das Rating gehabt. Auch Moody’s, die
zweite große Ratingagentur, bewertet die kurz und langfristigen Verbindlichkeiten
weiterhin mit Bestnoten, ebenfalls mit stabilem Ausblick.“
Beim Thema Verschuldung muss im übrigen auch gefragt werden, wer von den
hohen Zinszahlungen der öffentlichen Hand profitiert.
Das Grundübel Arbeitslosigkeit
Die FAZ scheint nahezu die einzige an der ökonomischen Realität unseres
Landes interessierte Institution zu sein. In regelmäßigem Abständen
beziffert sie die Arbeitslosigkeit auf knapp acht Millionen, was sich deutlich
von den 4,3 Millionen der Bundesregierung bzw. der BfA, abhebt. Ein Beispiel (FAZ
vom 4. Dezember 2003) aus der täglichen Konzernrealität: Die Porsche
AG steigerte ihren Konzernumsatz im Geschäftsjahr 2002/03 gegenüber
dem vorherigen um 14,9 Prozent, die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
wuchs indes lediglich um 5,5 Prozent. In der deutschen Möbelindustrie produzierten
1996 (FAZ vom 19. Januar 2004) 177 000 Menschen in 1610 Betrieben Möbel für
21,7 Milliarden Euro – 2003 produzierten gerade einmal 137 000 Menschen
in 1300 Betrieben Möbel für immerhin 20 Milliarden Euro. Immer weniger
Menschen produzieren immer effektiver. Ein Blick auf die fatalen Konsequenzen
von Massenarbeitslosigkeit in unserem Wirtschaftssystem:
- Arbeitslose zahlen nichts in die Sozialkassen.
- Arbeitslose werden aus den Sozialkassen alimentiert.
- Arbeitslose zahlen keine Lohn- und Einkommenssteuern.
- Arbeitslose haben eine enorm verminderte Kaufkraft.
- Arbeitslose werden häufiger krank, physisch wie psychisch.
- Arbeitslose produzieren nichts (wenn doch, liegt Schwarzarbeit nahe).
Seit langem ist bekannt, dass die Finanzierung der Arbeitslosigkeit volkswirtschaftlich
kostspieliger ist als die Finanzierung der Arbeit, bspw. durch Fortbildung, ABM,
den „zweiten“ Arbeitsmarkt etc.
Die Frage ist, warum eine sozialdemokratisch-grüne Bundesregierung arbeitsmarktpolitisch
inaktiver ist als die vorangegangene konservative Regierung Kohl/Blüm.
Auch die Frage sei gestellt, warum sich die Berliner Regierung, wie auch der DGB
in seinen meisten Veröffentlichungen, an der Schönfärberei der
Statistiken (4,3 Millionen versus acht Millionen in der Realität) beteiligt.
Die Forderung nach wirkungsvoller Arbeitszeitverkürzung als einem zentralen
Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist gewichen den Abwehrkämpfen
gegen die Forderung nach Wochen- und Lebensarbeitszeitverlängerung von Seiten
der Unternehmer und der SPD-Grünen-Regierung; d.h. die Gewerkschaftsbewegung
geht in die Defensive.
A propos Wochen- und Lebensarbeitszeitverlängerung: Nur selten wird offen
diskutiert, worum es den Herrschenden hinter der Mär von der Schaffung von
Arbeitsplätzen wirklich geht: Um Lohn- und Einkommenssenkung sowie um Rentenkürzung.
Arbeitsmarktpolitisch sind natürlich beide Maßnahmen kontraproduktiv.
Ein letztes Wort zur Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg: Die
Kritik an der BA mag in marginalen Punkten berechtigt sein, bspw. betreffend die
Selbstherrlichkeit ihres entlassenen Präsidenten Gerster. Durch die „Reform“
der BA, durch die Privatisierungstendenzen der vergangenen Jahre und durch die
verschärfte Verfolgung des angeblich massenhaften Missbrauchs von Leistungen
der BA ist nicht ein Arbeitsplatz geschaffen worden. Freilich wurde die Diskussion
geschickt fehlgeleitet: Im Massenbewusstsein scheinen die Arbeitsämter ein
Gutteil schuld an der Massenarbeitslosigkeit zu sein. In Wirklichkeit werden ihnen
jedoch fortwährend die Mittel für eine wirkungsvolle Arbeitsmarkpolitik
zusammengestrichen.
Demagogie mit der Demographie
Auch die Rede von der Überalterung unserer Gesellschaft und der daraus folgenden
Konsequenz der Einschränkung sozialer Ansprüche muss kritisch hinterfragt
werde. Johann Halden, Präsident des Statistischen Bundesamtes, erklärte
am 6. Juni 2003, dass das Überalterungsproblem der Bundesrepublik schneller
virulent werde als angenommen. Bereits 2050 müssten 100 Menschen im Alter
zwischen 20 und 60 Jahren 78 Renterinnen und Rentner „durchfüttern“
– fast doppelt so viele wie heute. Dies sei schlicht nicht möglich.
Die ProtagonistInnen der „Agenda 2010“ sprechen die gleiche Sprache.
Gerd Bosbach, Statistikprofessor der FH Koblenz und selbst jahrelang am Statistischen
BA tätig gewesen, hat (siehe jW vom 9. Februar 2004) zwei stichhaltige Gegenargumente
zu dieser Art Panikmache:
Bevölkerungsprognosen bis zum Jahre 2050 zu machen, sei unmöglich; man
schaue sich Prognosen aus dem Jahr 1953 an ...
In der Hahlenschen Rechnung erscheinen nicht die „unproduktiven“ Kinder
und Jugendlichen, die ja bereits heute miternährt werden müssten; rechne
man diese mit, so müssten heute 100 Menschen 82 Junge und Alte ernähren
– in 2050 würden 100 beruflich Aktive 112 Junge und Alte „durchziehen“
müssen. Es handele sich also um eine Steigerung um nur 40 Prozent und nicht
wie in der Hahlenschen Rechnung um 80 Prozent.
Ein drittes Argument muss hinzugenommen werden: Sowohl die Rürup-, als auch
die Herzog-Kommission gehen von einer Arbeitsproduktivitätssteigerung zwischen
84 und 140 Prozent bis zum Jahre 2050 aus. Was heißt, dass von dieser Produktivitätssteigerung
nicht nur die Jungen und Alten versorgt werden könnten, dass sogar für
die in der Produktion Stehenden noch etwas übrig bliebe. Voraussetzung: Die
Produktivitätssteigerung wird an die Gesellschaft weitergegeben und nicht
als abgeschöpfter Profit bspw. an den internationalen Kapitalmärkten
spekulativ angelegt ...
Zusammenfassung
Drei Fragen scheinen im Zusammenhang mit dem Geschilderten zentral:
a) Warum verfolgt der Staat die Vergehen nicht deutlicher, warum schließt
er Gesetzeslücken nicht rascher und effektiver? Immerhin resümiert der
Berliner Politikwissenschaftler Fritz Vilmar (im ND vom 13./14. Dezember 2003)
„dass der Staat (jährlich, JMB) ohne große Eingriffe 129 Milliarden
Euro durch steuerliche Mehreinnahmen erzielen kann.“
Hier in der gebotenen Kürze eine befriedigende Antwort zu geben, ist schwer.
Der Einfluss des Lobbyismus, der starke Interessenverbände, auf die Politik
unserer Gesetzgeber, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hier wird
mit viel Geld gearbeitet, bspw. für Wahlkampfunterstützung, hier wird
auch Druck ausgeübt durch Androhungen, Produktionsstätten aus bestimmten
Standorten abzuziehen u.v.m.
Es müssen zum zweiten bedacht werden vielfältige personelle Verquickungen
der Abgeordneten (und ihrer Mitarbeiter) mit den Profiteuren der aufgezeigten
Missstände.
Zu bedenken ist, inwieweit sich aus der Zeit der Systemkonkurrenz das gewollte
Image der „Freiheit“ („anything goes“) im Einflussbereich
der Marktwirtschaft gehalten hat – im Gegensatz zur „totalen Überwachung“
und „Entindividualisierung“ in den Staaten der Planwirtschaft. „Steuerhinterziehung
als Sport“ mag den Sachverhalt auch treffen.
Die FAZ (vom 17. Januar 2000) schließlich benannte das Reproduktionsinteresse
der Abgeordneten aus einem zusätzlichen Blickwinkel, wo sie im Zusammenhang
mit Schwarzarbeit die Analyse des Tübinger Instituts für Angewandte
Wirtschaftsforschung aufgriff: „Für Politiker, die daran interessiert
seien, ihre Wählerstimmen zu maximieren, sei es sinnvoll, möglichst
glaubwürdig zu suggerieren, dass sie die Schwarzarbeit bekämpfen. Gleichzeitig
dürften sie jedoch nicht die Chancen ihrer potenziellen Wähler tatsächlich
mindern, nebenbei Geld ohne Abzüge zu verdienen.“
b) Warum machen Grüne und Sozialdemokratie die aufgezeigte Politik mit? Auch
hier nur einige Ansätze:
Die so oft beschworene Macht der faits accompli, die Macht der vollendeten Tatsachen,
des Faktischen, darf nicht unterschätzt werden. Hierbei gegen festgefahrene
Meinungen der bürgerlichen Parteien anzugehen, ist schwer. Nicht zuletzt
der Umgang der SPD-Spitze, und namentlich ihres Generalsekretärs Müntefering,
mit den „Abweichlern“ in den Fragen Kriegsbeteiligung oder Sozialabbau:
Die Drohung mit dem Verlust eines sicheren Listenplatzes bei kommenden Wahlen,
macht die Kalamität der Situation einzelner Volksvertreter deutlich.
Dann ist darüber zu räsonieren, inwieweit diese beiden ehemals Linksparteien
durch die schlichte Teilhabe an der Macht selbst sukzessive zu staatstragenden
Elementen mutiert sind, korrumpiert sind also. Max Webers Analyse der Sozialdemokratie
der Weimarer Republik ist nach wie vor gültig, wenn er sagt, so krieche nicht
nur die Sozialdemokratie (durch ihre Regierungsbeteiligungen) in den Staat, sondern
auch der Staat in die Sozialdemokratie. (Ein Bild, das neuerlich übrigens
auch auf die PDS zu übertragen möglich scheint.)
c) Warum verschärft die hellrot-grüne Regierung in Berlin gar das soziale
Klima in unserem Lande?
Rainer Roth, Sozialwissenschaftler und Autor des Buches „Nebensache Mensch.
Arbeitslosigkeit in Deutschland“, sieht (jW vom 18. Dezember 2003) in den
Beschlüssen der Agenda 2010 neben einem generellen Angriff auf soziale Leistungen
für bspw. Arbeitslose in der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
(„eine Art Mindestlohn im Tarifsystem“) zum einen eine umfassende
Lohnsenkung, er analysiert auf der anderen Seite die Versuche, „die Lohnfestsetzung
auf die betriebliche Ebene zu verlagern“ und damit einen Angriff auf die
Tarifautonomie. Zusammenfassend: „Das Ziel der ‚Agenda 2010‘
ist in erster Linie die Anhebung der Profite auf Kosten der Löhne, vermittelt
über Sozialabbau.“
Auswege aus der Lage
Die Frage ist, ob es innerhalb der Marktwirtschaft, des Kapitalismus, wie man
sei einigen Jahren wieder sagen darf, überhaupt „Auswege“ aus
allen aufgezeigten Problemlagen gibt. Wenn bspw. die Angeklagten im Mannesmann-Prozess
Ackermann, Esser etc. jegliches Unrechtsbewusstsein vermissen lassen und wenn
sie dabei auch noch von der CDU-Vorsitzenden Merkel unterstützt werden, die
in der Anklageerhebung „einen Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutschland“
(FAZ vom 23. Januar 2004) sieht, dann muss hieran gezweifelt werden. Dennoch gibt
es einige Punkte, die bspw. von einer Opposition (!) aus Grüne und SPD unter
Umständen verfolgt werden könnten. Es folgen Ideen, die das herrschende
System nicht in Frage stellen.
1. Nachfragestimulation durch den Staat
Beginnen wir beim letztgenannten Punkt – der Bekämpfung der Massen-
und Langzeitarbeitslosigkeit. In einem Interview mit der Tageszeitung „junge
Welt“ äußerte sich (am 31. Mai/1. Juni 2003) der ehemalige Staatssekretär
im Bundesfinanzministerium (unter Minister Lafontaine) Heiner Flassbeck unter
dem Titel „Mehr ausgeben!“ zur Sparpolitik der Bundesregierung Schröder/Eichel.
Auf die Frage, ob die Wirtschaft „kaputtgespart“ werde, Flassbeck:
„Es gibt nur einen Ausweg aus der Krise: Nicht mehr sparen, sondern mehr
ausgeben.“ Und weiter, nachdem er auf die derzeit schwache Nachfrage der
privaten Haushalte, der Unternehmen und die ausgereizte Nachfrage des Auslandes
(u.a. unter Berücksichtigung des starken Euros) hingewiesen hatte: „Es
gibt logischer weise nur eine einzige Möglichkeit: Nur der Staat kann in
dieser Situation mehr ausgeben. Der Staat muss die Nachfrage stimulieren.“
Und an anderer Stelle (Konkret 1/2004, Seite 22) sagt Flassbeck: „Arbeitsplätze
entstehen nur, wenn mehr Geld ausgegeben wird, nicht wenn keiner mehr Geld zum
ausgeben hat.“ Flassbeck wird von der Realität bestätigt: Am 31.
Januar 2004 meldete die FAZ für das vierte Quartal des Jahres 2003 einen
dramatischen Einbruch im deutschen Einzelhandelsumsatz um ca. sechs Prozent.
2. Verbesserung der Gesetzeslage
Betreffend die „legale Steuerflucht“, sprich: das Abschreibungssystem
und gesetzliche Lücken im Steuersystem muss der Staat mit seinen eigenen
Mitteln tätig werden. Gesetzeslücken müssen geschlossen werden,
unsinnige Abschreibungsmöglichkeiten gestoppt werden, die Frage des gesamtgesellschaftlichen
Nutzens muss in der Steuer(sic!)politik dominieren.
3. Harmonisierung der Kapitalertragssteuern innerhalb der Europäischen
Union (EU)
Schwer vermittelbar ist, dass in der EU die Hebesätze für Kapitalertragssteuern
derart unterschiedlich sind. So zahlt man in Deutschland (ab einem geringen Freibetrag)
30 Prozent Steuern, in Luxemburg jedoch nur ca. 0,5 Prozent, ähnlich ist
die Lage auf den britischen Kanalinseln oder in Liechtenstein. Dringlich wäre
zur Sanierung der staatlichen Finanzen neben einer Erhöhung der Freibeträge
für die Besitzer kleinerer Vermögen die wirksame Harmonisierung der
Steuersätze innerhalb der EU sowie die wirksame und koordinierte Verfolgung
der Steuerflucht. Nahezu alle EU-Staaten haben ein objektives Interesse hieran!
4. Stärkere Besteuerung von Besitz und Gewinnen
Innerhalb der Bundesrepublik und der EU sind anzustreben die Wiedereinführung
bzw. Erhöhung der Steuern auf großen Besitz und hohe Gewinne. Dies
betrifft die Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer, eine Börsenumsatzsteuer,
eine Spekulationssteuer. Die kommunalen Finanzen wären zu sanieren durch
eine Erhöhung der Hebesätze für Unternehmens-Gewinne. Insgesamt
ist das Steuersystem zu verbessern, indem nicht die Beschäftigung vieler
Arbeitskräfte (durch die Vielzahl an Abgaben hierauf) „bestraft“
wird, sondern verstärkt Gewinne abgeschöpft werden.
5. Selbstbetrug beenden
Gewerkschaften und Linksparteien müssen mit unserem Wirtschaftssystem realistisch
umgehen: Nicht 4,4 Millionen Menschen sind in unserem Land ohne Arbeit, sondern
acht Millionen. Insbesondere das Problem Jugendarbeitslosigkeit ist vorrangig
zu behandeln. Auch die Rede von der erreichbaren Vollbeschäftigung ist zu
beenden: Qualitatives versus quantitatives Wachstum kann eine Lösung aus
der Kalamität sein, mit lebenslangem Lernen und Fortbilden, mit mehr und
besserer Bildung und Sorgen um gesellschaftliche Randgruppen u.v.m. Die Stigmatisierung
der Erwerbslosen muss bekämpft werden, der „zweite“ Arbeitsmarkt
erheblich ausgeweitet werden.
6. „Selbstbedienungs“-Mentalität bekämpfen
Veruntreuungsskandale wie die bei der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone
sind innerhalb des Kapitalismus nicht wirkungsvoll zu bekämpfen, insbesondere
nicht, wenn sich sogar die Vertreter der Arbeiterschaft involvieren lassen. Hier
ist ebenso wie bei der Bekämpfung der wachsenden sozialen Ungleichheit in
unserem Lande ein Rückgriff auf die Vergesellschaftungsbestimmungen diverser
Verfassungen (so der Artikel 47 der Hessischen Landesverfassung) vonnöten.
Bemerkenswert ist bei allem Geschilderten die anhaltende Integrationskraft des
deutschen Kapitalismus, der doch täglich aufs Neue ca. tausend Menschen in
die Marginalität schickt.
24. Februar 2004. Dr. Johannes M. Becker lehrt Politikwissenschaft an der Marburger
Philipps-Universität e-mail: jbecker(at)staff.uni-marburg.de Ergänzungen
zu diesem Papier sowie Kritik sind jederzeit willkommen!
Fußnoten:
- Wenige Kennziffern nur, um mit den Milliarden-Beträgen, die im Folgenden
genannt werden, umgehen zu können: Gemessen an ihrer Fläche 357 000
qkm) nimmt die BRD Platz 61 auf der Erde ein, gemessen an der Bevölkerung
(82 Millionen) Platz zwölf, gemessen am BIP Platz drei. Das Bruttoinlandsprodukt
(BIP) der BRD, d.h. die Summe aller erzeugten Produkte und Dienstleistungen, betrug
2003 ca. 2000 Milliarden Euro. (Daraus lassen sich leicht die durch den EU-Vertrag
von Maastricht „erlaubten“ Verschuldungshöhen errechnen: bei
drei Prozent Neuverschuldung am BIP und 60 Prozent Altschulden ...)
Der Bundeshaushalt des Jahres 2003 umfasste ca. 250 Milliarden Euro (2002 241
Milliarden Euro). Allein an Schuldendienst (Titel „Bundesschuld“)
wies der Haushalt 2003 40 Milliarden Euro auf (2002 41 Milliarden Euro) auf. Die
Bundesrepublik, und dies auf allen drei Verwaltungsebenen: Bund, Länder und
Kommunen, ist verschuldet mit 1300 Milliarden Euro. Alle drei Verwaltungsebenen
zahlen an den Zinsen für diese Verschuldung. Diese überschritt 1972
die 100 Milliarden Euro-Schwelle, sie lag 1990, bei Beginn der enormen Transferzahlungen
in Folge der deutschen Einheit, bei „nur“ 560 Milliarden Euro.“
[back]
- Um die Dimensionen aufzuzeigen: So erhält die Rentnerin in Westdeutschland
durchschnittlich 479 Euro Rente, die in Deutschlands Osten (wegen längerer
Berufstätigkeit) 655 Euro, männliche Rentner erhalten (West) 978 bzw.
(Ost) 1031 Euro. [back]
- Die Relation zwischen Mark und US-Dollar entwickelte sich in den vergangenen
Jahren wie folgt: Noch im Jahre 2000 musste für einen US-Dollar 2,30 Mark
gezahlt werden, heute läge der Preis bei stark 1,50 Mark. Im November 2003
kostete der Euro 1,14 US-Dollar, im Januar 2004 bereits 1,28 Dollar. D.h. die
Exportvoraussetzungen sind infolge des stärker, d.h. teuerer gewordenen Euro
eigentlich enorm kompliziert worden! [back]
- Siehe bspw. AFP vom 30. September 2003. Man schaue auf die Homepage des BdSt,
Wiesbaden. [back]
- Sehr wohl in Rechnung gestellt werden soll an dieser Stelle (jW vom 21. November
2002), dass ein guter Teil der genannten Summe bspw. durch den Kauf von Baumaterialien
bspw. in Baumärkten sehr wohl versteuert wird. Das Gros der Schäden
durch die organisierte Schwarzarbeit bleiben hiervor jedoch unberührt. [back]
- Siehe FAZ-Artikelserie zur Steueramnestie am 18. Dezember, 19. Dezember und
23. Dezember 2003 („Die Steueramnestie ist für Erben besonders attraktiv“).
[back]
- Großbritannien und die Niederlande halten sich Steueroasen in Übersee
(FAZ vom 11. Februar 2004).So auf den Cayman Islands, Montserrat, auf den Virgin
Islands und den Kanalinseln Guernsey und Jersey. [back]
- (Quelle: „Staatsfinanzen stärken“ Hg. VerDi, Berlin o. J.
(2003), Seite 11. [back]
- Die FAZ schrieb am 17. Januar 2004 vor Beginn des Mannesmann-Prozesses zu
Esser: „Seine Prämien von rund 31 Millionen Mark, die er aus der Unternehmenskasse
erhielt, erhitzte die Gemüter – neben einer annähernd gleich hohen
Gehaltsfortzahlung sowie Abfindung für sein lebenslange Nutzungsrecht von
Büro, Sekretärin Fahrer und Dienstwagen.“ Allerdings stand nicht
diese Zahlungen zur Debatte, sondern die Zustimmung des Aufsichtsrates hierzu
... [back]
- In Deutschland machen die Erbschaftssteuern 1999 lediglich 0,9 Prozent des
BIP aus. Zum Vergleich: USA 3,1 Prozent, Großbritannien 3,9 Prozent, Frankreich
3,2 Prozent, OECD-Länder insgesamt 1,9 Prozent. (Quelle: „Staatsfinanzen
stärken“ Hg. VerDi, Berlin o. J. (2003). [back]
- Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass täglich ca. 1200 Milliarden
US-Dollar spekulativ auf den Welt-Finanzmärkten zirkulieren. Der US-amerikanische
Volkswirtschaftler James Tobin, 1981 Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften,
schlug 1972 eine weltweit einheitliche (Lenkungs-)Abgabe auf spekulative internationale
Devisentransaktionen (Tobin-Steuer) vor. Diese Steuer, wenn sie nur ein Prozent
der Spekulationsgewinne umfasste, würde alle gravierenden sozialen Probleme
der Erde binnen kürzester Frist beseitigen und würde darüber hinaus
die Staatshaushalte sanieren. [back]
- Das Gutachten („Memorandum“) der „Arbeitsgruppe Alternative
Wirtschaftspolitik“ (AAW) wird jährlich veröffentlicht, so das
„Memo 2002“ im Kölner PapyRossa-Verlag. Eine Kurzform findet
sich in: „Blätter...“ 5/2002. [back]
- Das illegale Geld dürfte weitere eine Billion Euro umfassen. [back]
- Diese Daten finden sich auch in der hervorragenden Faktensammlung „Staatfinanzen
stärken“ der Gewerkschaft VerDi (Seite 12ff.). [back]