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Überlegungen zum Reichtum der BRD [1]
Johannes M. Becker www.steinbergrecherche.com 16. Mai 2004


Widersprüchliche Nachrichten erreichen uns um die Jahreswende 2003/2004: Auf der einen Seite sind da die Appelle der Politiker, das deutsche Volk müsse Maß halten. Man habe zu lange auf der faulen Haut gelegen, habe zu lange aus dem Vollen geschöpft: Alle müssten sparen!

In diesen Duktus passt das systematische Hervorrufen von Sozialneid: So der denunziatorische Umgang mit dem Sozialhilfeempfänger N.N., der – von den bundesdeutschen Medien binnen weniger Tage wie eine Sensation aufgebauscht – auf Mallorca lebt. Oder – ein weiteres derzeit populäres Beispiel des moralischen Zeigefingers auf vermeintliche „Oblomovs“, auf rücksichtslose Nutznießer, des Sozialstaates – die rhetorische Frage der offensivsten Sozialabbauer der christlichen Parteien, wie sich denn die 80 Prozent der Studierenden fühlen müssten, die ihr Studium innerhalb der vorgesehenen Fristen absolvierten, gegenüber den 20 Prozent „Langzeitstudierenden“ ...

Sogar der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof (Prof. Dr.) Wolfgang Huber blies (FAZ vom 2. Januar 2004) in dasselbe Horn, als er sagte: „Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen, wir sollten zugunsten späterer Generationen kürzer treten, wir haben soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten sollen.“

Infolgedessen sind die Sparprogramme des Jahres 2003 auf Bundes- wie Landesebene einschneidend: Ob es sich um das Rentensparpaket (sieh „Das Parlament“ vom 27. Oktober 2003) handelt [2], ob um die enormen Verschlechterungen für Arbeitslose und Langzeitarbeitslose (siehe die Presseschau Mitte Dezember, exemplarisch: „junge Welt“ vom 17. Dezember 2003) oder auch um das „Milliarden-Sparprogramm“ der hessischen Landesregierung vom Jahresende 2003, das allein 15 500 Menschen arbeitslos macht.

Auf der anderen Seite erreichen uns da Nachrichten (FAZ vom 12. Februar 2004), dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2003 wieder einmal „Weltmeister“ der Exportländer sei, mit einer Differenz von unvorstellbaren 130 Milliarden Euro zwischen Importen und Exporten und mit einer für 2004 vorausgesagten erneuten RekorMarkarke. Dieses Handelsbilanzsaldo betrug in den Jahren 1997 bis 2000 jeweils 60 Milliarden Euro, es stieg ab 2001 sprunghaft über 95,5 Milliarden Euro (2001) auf 133 (2002) und betrug 2003 besagte 130 Milliarden Euro. Daher stieg es in den Zeiten der eingangs beschworenen Krise am stärksten. Es geht hier, wohl bemerkt, nicht um einen Exportüberschuss pro Kopf, sondern die BRD der 82 Millionen erzielte einen um sieben Prozent höheren Überschuss als der 290 Millionen-Staat USA. Und all dies bei den permanent beschworenen hohen Lohnkosten für unsere Produkte und bei einem historischen Höchststand unserer Währung (gegenüber dem US-Dollar), d.h. unter eigentlich den Export erschwerenden Bedingungen. [3]

Die, ein zweiter Hinweis, größte konservative Wirtschaftzeitung unseres Landes (FAZ am 20. Januar 2004) bescheinigt der deutschen Wirtschaft in den zentralen Branchen Biotechnologie, Automobilindustrie, Chemie und Werkzeugmaschinenbau eine herausragende Wettbewerbsfähigkeit. Es erreichen uns schließlich Nachrichten, dass große Firmen Milliarden-Gewinne machten (bspw. Daimler-Benz) und ihre Aktionäre mit großzügigen Dividenden ausstatteten, wenngleich sie keine Steuern zahlten. Die „Welt am Sonntag“ meldet (am 8. Februar 2004: „Deutsche Firmen vor Gewinnexplosion“), dass die Gewinne der 30 im Deutschen Aktienindex (DAX) registrierten Unternehmen nach einer Steigerung um knapp 30 Prozent in 2003 im Jahr 2004 vermutlich um 47 Prozent (in Worten: siebenundvierzig) steigen werden. Die 50 größten europäischen Unternehmen (im EuroStoxx zusammengefasst) steigerten ihren Gewinn nach einem Einbruch von 32,6 Prozent in 2002 im Jahr 2003 und 80 Prozent; für 2004 wird ein erneuter Anstieg um 20 Prozent erwartet.

Aus einem anderen Blickwinkel: Das private Geldvermögen in Deutschland hat sich (jW vom 14. Dezember 2003) zwischen 1990 und 2000 fast verdoppelt, die öffentlichen Haushalte verarmen jedoch immer mehr.

Im folgenden werden einige Beobachtungen zusammengestellt, die die These von der bankrotten Bundesrepublik Deutschland, vom „kleiner werdenden Kuchen“, in Frage stellen werden.

Eine derartige Zusammenstellung scheint nicht zuletzt nötig, da sich in der politischen Öffentlichkeit, vor allem in den am stärksten von der Krise betroffenen Schichten, ein weitgehender Stigmatisierungsprozess breit gemacht hat. Dieser führt dazu, dass der Widerstand gegen die soziale Umverteilung, gegen den umfassenden Sozialabbau, sei er von konservativen, sei er von sozialdemokratisch dominierten Bundes- wie Landes-Regierungen vollzogen, nahezu paralysiert ist.

Grundthese meiner Ausführungen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht bankrott ist, sondern dass der erwirtschaftete Reichtum nur äußerst ungleich verteilt ist, dass der Reichtum unseres Landes nicht gemäß dem geltenden Grundgesetz eingesetzt wird. Zugleich ist, wie gezeigt werden wird, der von der Masse der Arbeitenden erwirtschaftete Reichtum betrügerischen Machenschaften in größerem Ausmaße ausgesetzt.

Zu erinnern ist, dass das Grundgesetz die Bundesrepublik in mehreren Artikeln zur Aufrechterhaltung eines „sozialen“ Rechtsstaates (so im Artikel 20.1) verpflichtet – dies wohlweißlich unter anderem vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen des deutschen Faschismus. Hinzuweisen ist noch auf mein Bemühen, ausschließlich Ideen anzubieten, die systemimmanent sind, d.h. die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht in Frage stellen.


Verschwendung

Der Bund der Steuerzahler mahnt in jedem Jahr in seinem „Schwarzbuch“ kontinuierlich die Verschwendung von 30 Milliarden Euro an. Ob für unsinnige oder für unangemessen aufwendige Bauten, unnötige Politikerreisen, wertlose Gutachten, unsinnige Subventionen, Korruption – kurz: ineffiziente oder zweckfremde Verwendung der Steuern. [4]

Auch der Bundesrechungshof (sieh FAZ 26. November 2003) sieht jährliche „Effizienzreserven“ in Höhe von fünf Milliarden Euro („Reserven an Einnahmen und Einsparungen“). Beispiele aus dem Bericht von 2003 betreffen den Umbau des Schulschiffes der Bundesmarine „Gorch Fock“, der aufgrund ungenügender Planung fast doppelt so teuer wie geplant wurde. Die Ausstattung der Direktionsräume des Robert-Koch-Instituts (ohne Auftrag vergeben) habe dreimal mehr als geplant gekostet.

Auch die Zahlung einer dreistelligen (!) Millionensumme für den 1,5 Kilometer langen Berliner U-Bahn-Tunnel ins Regierungsviertel kritisierte (jW vom 15. Oktober 2003) der Bundesrechungshof.

Ein Drittes: Deutschland gibt jährlich knapp 30 Milliarden Euro für Militär aus. Nicht erst seit Bundeskanzler Kohl die Bundesrepublik von „Freunden umzingelt“ sah, sind diese Ausgaben umstritten. Heute hingegen sieht ein sozialdemokratischer Minister die Interessen der BRD „am Hindukusch“ zu verteidigen. Bundeskanzler Schröder freute sich im Zusammenhang mit der Teilnahme der BRD am Afghanistan-Krieg („gegen den Terrorismus“) über die „Enttabuisierung des Militärischen“. Militärische Aufgaben jedoch sind, wenn überhaupt sinnvoll, in die Hände supranationaler Organisationen wie der (zu reformierenden) UNO zu legen.

An die Adresse der Gewerkschaften, die – im Falle einer umfassenden Konversionspolitik - den Verlust von Arbeitsplätzen befürchten: Zum ersten ist Rüstungsproduktion außerordentlich technologisiert, d.h. nicht arbeitskräfteintensiv. Zum zweiten sind die Produkte der Rüstungsindustrie - schlicht - unproduktiv. Ein Panzer, ein „Eurofighter“, eine Fregatte produzieren nichts!

Betrug

An Schwarzarbeit wird in Deutschland (sieh FAZ vom 30. Januar 2003) vermutlich eine Summe erwirtschaftet, die mehr als ein Sechstel (17,1 Prozent) des BIP umfasst. Hierfür werden weder Steuern, noch Sozialabgaben abgeführt. Wenn also der Staat dafür sorgen würde, dass für 370 Milliarden Euro Steuern und Sozialabgaben (der GdP-Vorsitzende Freiberg sprach, OP vom 21. Januar 2004, von „jährlich 64 Milliarden Euro Steuereinnahmen und 56 Milliarden Euro Sozialversicherungsbeiträge(n)“) gezahlt würden, dürfte das Gros der Neuverschuldung wie auch die „Bedienung“ der Altschulden leicht finanzieren lassen. Überdies steigt, so das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung der Universität Tübingen, die Schwarzarbeit etwa doppelt so schnell wie das BIP.

Es stellt sich die Frage, warum der Staat (zumindest die organisierte) Schwarzarbeit, trotz seiner regelmäßigen medial groß angelegten Kampagnen (siehe ddp und AP am 2. Januar 2004) nicht wirksam bekämpft. [5] Dass die Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit viele Menschen in die individuelle Schwarzarbeit drängt, wird weiter unten behandelt.

Die Steuerehrlichkeit der Besitzenden in unserem Lande ist ein weiteres potentiell ertragreiches Kapitel: Bspw. überprüften die Finanzämter des Landes Nordrhein-Westfahlen (Westfälische Nachrichten vom 12. August 2003) im ersten Halbjahr 2003 267 der rund 1700 Einkommensmillionäre des Landes nach deren Steuererklärung durch eine Sonderprüfung. Nur 21 Fälle blieben unbeanstandet. In 246 Fällen ergab die Sonderprüfung eine Nachzahlung von insgesamt 23 Millionen Euro – ca. 120 000 Euro pro Fall. (Zwei Jahre zuvor betrug der Steuerbetrug pro Fall noch 47 000 Euro) Hochgerechnet auf die ca. 20 000 Einkommensmillionäre im gesamten Bundesgebiet ergäbe dies vermutlich die gesamte Defizitsumme der Pflegeversicherung für das Jahr 2003. Außerdem könnte die Arbeitslosigkeit um einige Tausend neu ausgebildete Steuerbeamtinnen und Steuerbeamte vermindert werden. Und die Kultur der Steuergerechtigkeit, die derzeit die Debatten so strapaziert, hätte ein gutes Argument an ihrer Seite.

Die Frage ist, warum derartige Überprüfungen nicht ablaufen.

À propos Steuergerechtigkeit: Die um die Jahreswende 2003/2004 diskutierte Steueramnestie der SPD/Grünen-Regierung ist ein weiteres Beispiel für die extreme Begünstigung großer Einkünfte und der Nicht-Verfolgung von Steuerhinterzug. So schrieb die FAZ (19. Dezember 2003) ein Fallbeispiel folgendermaßen: „Wer also in dem Zeitraum 1993 bis 2002 beispielsweise 100 000 Euro nicht erklärter (d.h. hinterzogener, JMB) Kapitaleinkünfte erhielt hat, zahlt daraufhin alles in allem 15 000 Euro. Eine Selbstanzeige, die natürlich möglich wäre, würde hingegen etwa das Drei- bis Vierfache kosten.“ [6] Der Steuersatz für Kapitalerträge liegt bei 25 Prozent.

Der Präsident des Bundeskriminalamtes Kersten bezifferte (FAZ vom 21. November 2002) die Schäden durch Wirtschaftskriminalität im Bundesgebiet für die öffentlichen Kassen auf im Jahr 2001 6,8 Milliarden Euro. Tendenz: steigend. (1994 wurden 58 Fälle strafrechtlich verfolgt, 2000 bereits 1243 Fälle) Die Delikte sind: Rauschgifthandel, illegal erworbene Vermögen, Marken- und Produktpiraterie, Bestechung, Betrug, Untreue. Der Frankfurter Oberstaatsanwalt Schaupensteiner bezifferte (AP vom 20. November 2002) allein die Schäden bei öffentlichen Bauvorhaben auf fünf Milliarden Euro. Nur fünf von 100 Korruptionsfällen werden bekannt. Schaupensteiner gab folgendes Rezept zur Bekämpfung der zuletzt genannten Delikte, betreffend ehemalige Staatsdiener: Wer in einer Behörde mit einem Unternehmen befasst gewesen sei, müsse bei einem Ausscheiden aus dem Staatsdienst fünf Jahre lang von entsprechenden Geschäftsbeziehungen ausgesperrt bleiben. Der Bund Deutscher Kriminalbeamter BDK beziffert die jährlichen Schäden durch Wirtschaftskriminalität in der gesamten deutschen Ökonomie auf 36 Milliarden Euro. (ddp vom 19. November 2002)

Betr. Steuerflucht summierte bereits Ex-Finanzminister Waigel die jährlichen Steuerausfälle für die BRD auf eine Summe zwischen 35 und 70 Milliarden Euro. Die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (AAW) summiert sie für 2003 auf etwa 50 Milliarden Euro. (Zu erinnern in diesem Zusammenhang: Die Kapitalertragssteuer beträgt in Deutschland derzeit 25 Prozent, in Luxemburg neben einer zu vernachlässigenden Bearbeitungsgebühr der Banken 0 Prozent ... [7])

Rätselhaft erscheint in diesem Zusammenhang auch der öffentliche Umgang mit exorbitanten Spitzenverdienern wie dem Ex-Tennisspieler Becker, dem Rennfahrer Schumacher oder dem Ex-Fußballer Netzer: Diese (es handelt ich nur um die Spitze des Eisbergs) haben ihre Wohnsitze in die Schweiz verlegt, um dort weniger Steuern zu zahlen (siehe FAZ vom 25. September 2003), sie werden von den Medien weiterhin als Orientierungsfiguren der Jugend behandelt, so wenn der Kanzler bspw. Herrn Schumacher euphorisch zu seiner sechsten Weltmeisterschaft gratuliert. Dutzende von Fußballprofis wohnen offiziell in den Niederlanden ...


Wachsende soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit

Nur zwei Daten [8] mögen die Lage verdeutlichen:

a) Allein in den letzten 25 Jahren haben sich die Anteile am Steueraufkommen des Staates völlig verändert: Trugen noch 1977 Lohnsteuer wie Unternehmens- und Gewinnsteuer je ca. 30 Prozent zu den Steuereinnahmen bei, so betrugen die Werte 2001 für die Lohnsteuer 35 Prozent, für die Unternehmens- und Gewinnsteuern nur noch 15 Prozent. Ist die durchschnittliche Steuerlast auf Löhne zwischen 1980 und 2001 von 15,7 auf 18,6 Prozent gestiegen, so hat die für Gewinne von 1980 24 Prozent auf 2001 12,1 Prozent abgenommen.

Auch hier wieder zwei Beispiele aus der bundesdeutschen Realität: In der Bilanz des 10 000-Beschäftigten-Konzerens Buderus für 2002/2003 stieg der Überschuss des Unternehmens um 104 Prozent, seine Ertragssteuern hingegen sanken um 36 Prozent. Der Baukonzern Bilfinger erwirtschaftete mit seinen 50 000 Beschäftigten 2002/2003 einen um 15 Prozent gestiegenen Überschuss, konnte aber seine Ertragssteuerzahlungen um 75 Prozent senken. (jW vom 8. Mai 2003)

b) Die Verteilung des Geldvermögens stellt sich folgendermaßen dar: Die zehn Prozent der Vermögendsten der Republik besaßen 1998 50,4 Prozent des Geldvermögens (1993: 46,4 Prozent), die 50 Prozent am unteren Ende der Vermögensskala besaßen 4,7 Prozent (1993: 7,7 Prozent). Was heißt: Umverteilung auch hier, und dies in rasantem Tempo (vom Immobilienbesitz ganz zu schweigen).

Ende 2002 verfügten in Deutschland nach einer Studie der US-Bank Merrill Lynch (jW vom 15. Oktober 2003) 755 000 Privatpersonen über ein Finanzvermögen (Immobilien nicht gerechnet) von mehr als einer Million US-Dollar, Ende 2001 hatte diese Zahl noch bei 730 000 gelegen. Auf der anderen Seite sind, so Claudia Kurzbuch, Chefin der Bundes-AG Schuldnerberatung (in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 2. Februar 2004), etwa drei Millionen deutscher Haushalte, überschuldet, in 2003 sei die Zahl der Ratsuchenden um ein Drittel (!) gegenüber 2002 gestiegen. Die Zahl der persönlichen Insolvenzen werde in 2004 auf weit über 40 000 steigen. Was inzwischen allgemein bekannt ist: Etwa zehn Prozent der Bundesbevölkerung lebt unter der Armutsgrenze (mit weniger al 50 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens). Armut, dies ist am besten in den Sozialhilfestatistiken der Kommunen abzulesen, ist jung und weiblich, in erster Linie allein erziehend. Tendenz bei allen genannten Gruppen: Steigend.


Ungeheuerlichkeiten/Geschmacklosigkeiten

Da wurden beim FRAPORT-Skandal Hunderttausende Euro an Bestechungsgeldern gezahlt. Da wurde den (gescheiterten!) Managern Sommer (Telecom) oder auch Esser (Mannesmann) [9] Abfindungen in zweistelligen Millionenhöhen gezahlt. Bei Mannesmann betrug der Gesamtschaden durch die Selbstbedienung der Unternehmensleitung 112 Millionen Mark (FAZ vom 22. Januar 2004).

Da stattete die hessische Landesregierung (unter dem sich so gerne als rigorosen Sparer profilierenden Ministerpräsidenten Koch) ihren neuen gerade für zig Millionen angekauften Amtssitz in Wiesbaden mit Luxus-Mobilar für Mehrkosten in Höhe von einigen Millionen Euro aus. Gleichzeitig wurde der Weinkeller des hessischen Staatsweingutes für sieben Millionen Euro restauriert. Unter Ministerpräsident Koch wurde der Stellenpool der Staatskanzlei seit seiner Amtsübernahme 1999 um 90 – zumeist hochdotierte – Stellen aufgebläht. Die gewaltigen Ausgaben für Beratungsunternehmen (bspw. SAP) kommen hinzu.

Da wurde bekannt, dass der Medien-Mogul Kirch zahlreiche konservative Politiker für „Beraterdienste“ auf seiner Gehaltsliste führte („Focus“ 1/2004): So erhielt Ex-Kanzler Helmut Kohl „Jahresbeträge“, so der Focus, in Höhe von 300 000 Euro, die Ex-Minister Jürgen Möllemann in Höhe von 400 000 Euro, Theo Waigel von 300 000 Euro, die Ex-Minister Christian Schwarz-Schilling, Wolfgang Bötsch und Rupert Scholz daneben geradezu bescheidene 150 000 Euro.

Es stellt sich die Frage, für welcherlei Dienste die weiterhin einflussreichen Politiker diese enormen Summen erhielten. (In diesem Zusammenhang sei an die o.a. Aussage des Frankfurter Juristen Schaupensteiner erinnert.)

Auch die Einkünfte deutscher Wirtschaftsmanager (teilweise in Millionen-Euro-Höhe) scheinen unverständlich, nicht nur, wenn ihre Unternehmen keine Steuern zahlen. Warum müssen bestimmte Menschen in einem Jahr einnehmen, wofür andere ein ganzes Leben arbeiten müssen?

Da erhöhten sich die Funktionäre der gerade zur größten Gewerkschaft der BRD fusionierten VerDi ihre Gehälter um – skandalöse und an der Gewerkschaftsbasis nur schwer zu vermittelnde – 50 Prozent. Und der damalige IG-Metall-Chef Zwickel widersetzte sich den skandalösen Zahlungen an Esser (Mannesmann) im Aufsichtsrat nicht (FAZ vom 17. Januar 2004).


Einnahmeverzichte des Staates

Die „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (AAW) beziffert die Einnahmeverzichte, sprich: verluste in folgenden Bereichen mit folgenden Werten:
  • 14 Milliarden Euro würden den öffentlichen Haushalten wieder zufließen bei der Wiedereinführung der Vermögenssteuer (diese wurde unter Kanzler Kohl abgeschafft, von der Regierung Schröder trotz der beklagten Haushaltsprobleme nicht wieder eingeführt)

  • Vier Milliarden Euro würden durch eine gerechtere Erbschaftssteuererhebung fließen [10]

  • 22 Milliarden Euro durch die Abschaffung des Ehegattensplittings

  • Neun Milliarden Euro durch die Einführung einer Börsenumsatzsteuer;

  • 17 Milliarden Euro durch die Etablierung einer Spekulationssteuer (Tobin-Steuer) [11]

  • 13 Milliarden Euro durch eine kommunale Wertschöpfungssteuer. [12]
Ein Beispiel aus dem europäischen Umfeld zur Verbesserung der staatlichen Einnahmesituation: Die französische Linksregierung unter Lionel Jospin verordnete nach ihrer Wahl 1997 zur Finanzierung eines gewaltigen Beschäftigungsprogramms für arbeitslose Jugendliche eine Vermögenssteuererhöhung. Es ist nichts bekannt geworden von größeren Steuerflucht-Bewegungen.

Neben der illegalen Steuerflucht existiert die legale Steuerhinterziehung, besser: Steuervermeidung.

  • Bspw. durch die Tatsache, dass Daimler-Benz zwar Dividenden für seine Aktienbesitzer ausschüttet, jedoch über Jahre keine Ertrags-Steuern zahlte, weil die Verluste für den Kauf des US-Unternehmens Chrysler auch in Deutschland zu Buche schlugen.

  • Bspw. durch die Sonderabschreibungen im Zusammenhang mit der deutschen Einigung. Hier verzichtete der Staat auf Abgaben für Hunderte von Milliarden Mark für Investitionen in den Fünf Neuen Bundesländern; heute stehen viele dieser Bauten als Investitions-Ruinen.
Die Kette der Abschreibungsverluste für den Fiskus ist beliebig verlängerbar.


Die Rede von der Überschuldung unseres Landes

Unter Hinweis auf die hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte verweigern sich Bundes- und Landesregierungen groß angelegten Investitions- und Beschäftigungsprogrammen. Der Wirtschaftswissenschaftler Siegfried Wetzel (jW vom 13./14. Dezember 2003) hält folgendes dagegen:

a) In der Tat hat die Verschuldung (Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom Mai 2003) der öffentlichen Haushalte 2002 eine Höhe von 1300 Milliarden Euro erreicht. In der Tat ist die Zinslast mit ca. 65 Milliarden Euro/Jahr enorm.

b) Allerdings: „Das reine, registrierte Geldvermögender privaten Haushalte in der BRD (also ohne das im Ausland illegal geparkte Geld) (wurde) für das Jahr 2001 mit 3,9 Billionen Euro angegeben.“ [13] Das gesamte Geld- und Sachvermögen in Deutschland beläuft sich gar auf 8,1 Billionen Euro.

c) „Die Staatsverschuldung der Bundesrepublik beläuft sich also auf weniger als 30 Prozent des vorhandenen Geldvermögens. Bezieht man das vorhandene, hauptsächlich aus Immobilien bestehende Vermögen in die Betrachtung ein, sind das weniger als 16 Prozent.“ [14]

Wetzel resümiert: „Es ist offensichtlich, dass mit dem ständigen Geschrei über die hohe Staatsverschuldung und den damit verbundenen Horrorszenarien die mit der ‚Agenda 2010‘ geplanten Maßnahmen zur Beschneidung der Renten, zur Verlagerung von Gesundheits- und Pflegekosten auf die Arbeit‚nehmer‘ und damit die Verstärkung der sozialen Schieflage gegenüber den Bürgern ‚begründet‘ werden soll. Die verwirrende Diskussion über eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Nebelwand, hinter der das Konzept einer neoliberalen Wirtschaftspolitik nach und nach verwirklicht und die Umverteilung von unten nach oben in Richtung des amerikanischen Weges nicht nur fortgesetzt, sondern verstärkt werden soll.“

Wetzel plädiert für eine deutliche Steuerentlastung der Masseneinkünfte, d.h. für eine Erhöhung der Massenkaufkraft, und für eine „zeitweilige und kontrollierte Abweichung“ von der Maastrichter Haushaltssparpolitik, d.h. für ein staatliches Investitionsprogramm.

Unterstützt wird diese Position von der jüngsten Bewertung der Ratingagentur Standard & Poor’s (FAZ vom 21. Januar 2004), in der Deutschland als erstklassiger Schuldner („Note ‚AAA‘“) gewertet wird. „Anders als von manchen Politikern an die Wand gemalt, hat die mehrfache Verletzung der Schuldenobergrenze im Stabilitäts- und Wachstumspakt durch Deutschland damit keinen Einfluss auf das Rating gehabt. Auch Moody’s, die zweite große Ratingagentur, bewertet die kurz und langfristigen Verbindlichkeiten weiterhin mit Bestnoten, ebenfalls mit stabilem Ausblick.“

Beim Thema Verschuldung muss im übrigen auch gefragt werden, wer von den hohen Zinszahlungen der öffentlichen Hand profitiert.


Das Grundübel Arbeitslosigkeit

Die FAZ scheint nahezu die einzige an der ökonomischen Realität unseres Landes interessierte Institution zu sein. In regelmäßigem Abständen beziffert sie die Arbeitslosigkeit auf knapp acht Millionen, was sich deutlich von den 4,3 Millionen der Bundesregierung bzw. der BfA, abhebt. Ein Beispiel (FAZ vom 4. Dezember 2003) aus der täglichen Konzernrealität: Die Porsche AG steigerte ihren Konzernumsatz im Geschäftsjahr 2002/03 gegenüber dem vorherigen um 14,9 Prozent, die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wuchs indes lediglich um 5,5 Prozent. In der deutschen Möbelindustrie produzierten 1996 (FAZ vom 19. Januar 2004) 177 000 Menschen in 1610 Betrieben Möbel für 21,7 Milliarden Euro – 2003 produzierten gerade einmal 137 000 Menschen in 1300 Betrieben Möbel für immerhin 20 Milliarden Euro. Immer weniger Menschen produzieren immer effektiver. Ein Blick auf die fatalen Konsequenzen von Massenarbeitslosigkeit in unserem Wirtschaftssystem:
  • Arbeitslose zahlen nichts in die Sozialkassen.
  • Arbeitslose werden aus den Sozialkassen alimentiert.
  • Arbeitslose zahlen keine Lohn- und Einkommenssteuern.
  • Arbeitslose haben eine enorm verminderte Kaufkraft.
  • Arbeitslose werden häufiger krank, physisch wie psychisch.
  • Arbeitslose produzieren nichts (wenn doch, liegt Schwarzarbeit nahe).
Seit langem ist bekannt, dass die Finanzierung der Arbeitslosigkeit volkswirtschaftlich kostspieliger ist als die Finanzierung der Arbeit, bspw. durch Fortbildung, ABM, den „zweiten“ Arbeitsmarkt etc.

Die Frage ist, warum eine sozialdemokratisch-grüne Bundesregierung arbeitsmarktpolitisch inaktiver ist als die vorangegangene konservative Regierung Kohl/Blüm.

Auch die Frage sei gestellt, warum sich die Berliner Regierung, wie auch der DGB in seinen meisten Veröffentlichungen, an der Schönfärberei der Statistiken (4,3 Millionen versus acht Millionen in der Realität) beteiligt.

Die Forderung nach wirkungsvoller Arbeitszeitverkürzung als einem zentralen Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist gewichen den Abwehrkämpfen gegen die Forderung nach Wochen- und Lebensarbeitszeitverlängerung von Seiten der Unternehmer und der SPD-Grünen-Regierung; d.h. die Gewerkschaftsbewegung geht in die Defensive.

A propos Wochen- und Lebensarbeitszeitverlängerung: Nur selten wird offen diskutiert, worum es den Herrschenden hinter der Mär von der Schaffung von Arbeitsplätzen wirklich geht: Um Lohn- und Einkommenssenkung sowie um Rentenkürzung. Arbeitsmarktpolitisch sind natürlich beide Maßnahmen kontraproduktiv.

Ein letztes Wort zur Bundesagentur für Arbeit (BA) in Nürnberg: Die Kritik an der BA mag in marginalen Punkten berechtigt sein, bspw. betreffend die Selbstherrlichkeit ihres entlassenen Präsidenten Gerster. Durch die „Reform“ der BA, durch die Privatisierungstendenzen der vergangenen Jahre und durch die verschärfte Verfolgung des angeblich massenhaften Missbrauchs von Leistungen der BA ist nicht ein Arbeitsplatz geschaffen worden. Freilich wurde die Diskussion geschickt fehlgeleitet: Im Massenbewusstsein scheinen die Arbeitsämter ein Gutteil schuld an der Massenarbeitslosigkeit zu sein. In Wirklichkeit werden ihnen jedoch fortwährend die Mittel für eine wirkungsvolle Arbeitsmarkpolitik zusammengestrichen.


Demagogie mit der Demographie

Auch die Rede von der Überalterung unserer Gesellschaft und der daraus folgenden Konsequenz der Einschränkung sozialer Ansprüche muss kritisch hinterfragt werde. Johann Halden, Präsident des Statistischen Bundesamtes, erklärte am 6. Juni 2003, dass das Überalterungsproblem der Bundesrepublik schneller virulent werde als angenommen. Bereits 2050 müssten 100 Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren 78 Renterinnen und Rentner „durchfüttern“ – fast doppelt so viele wie heute. Dies sei schlicht nicht möglich. Die ProtagonistInnen der „Agenda 2010“ sprechen die gleiche Sprache. Gerd Bosbach, Statistikprofessor der FH Koblenz und selbst jahrelang am Statistischen BA tätig gewesen, hat (siehe jW vom 9. Februar 2004) zwei stichhaltige Gegenargumente zu dieser Art Panikmache:

Bevölkerungsprognosen bis zum Jahre 2050 zu machen, sei unmöglich; man schaue sich Prognosen aus dem Jahr 1953 an ...

In der Hahlenschen Rechnung erscheinen nicht die „unproduktiven“ Kinder und Jugendlichen, die ja bereits heute miternährt werden müssten; rechne man diese mit, so müssten heute 100 Menschen 82 Junge und Alte ernähren – in 2050 würden 100 beruflich Aktive 112 Junge und Alte „durchziehen“ müssen. Es handele sich also um eine Steigerung um nur 40 Prozent und nicht wie in der Hahlenschen Rechnung um 80 Prozent.

Ein drittes Argument muss hinzugenommen werden: Sowohl die Rürup-, als auch die Herzog-Kommission gehen von einer Arbeitsproduktivitätssteigerung zwischen 84 und 140 Prozent bis zum Jahre 2050 aus. Was heißt, dass von dieser Produktivitätssteigerung nicht nur die Jungen und Alten versorgt werden könnten, dass sogar für die in der Produktion Stehenden noch etwas übrig bliebe. Voraussetzung: Die Produktivitätssteigerung wird an die Gesellschaft weitergegeben und nicht als abgeschöpfter Profit bspw. an den internationalen Kapitalmärkten spekulativ angelegt ...


Zusammenfassung

Drei Fragen scheinen im Zusammenhang mit dem Geschilderten zentral:

a) Warum verfolgt der Staat die Vergehen nicht deutlicher, warum schließt er Gesetzeslücken nicht rascher und effektiver? Immerhin resümiert der Berliner Politikwissenschaftler Fritz Vilmar (im ND vom 13./14. Dezember 2003) „dass der Staat (jährlich, JMB) ohne große Eingriffe 129 Milliarden Euro durch steuerliche Mehreinnahmen erzielen kann.“

Hier in der gebotenen Kürze eine befriedigende Antwort zu geben, ist schwer.

Der Einfluss des Lobbyismus, der starke Interessenverbände, auf die Politik unserer Gesetzgeber, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hier wird mit viel Geld gearbeitet, bspw. für Wahlkampfunterstützung, hier wird auch Druck ausgeübt durch Androhungen, Produktionsstätten aus bestimmten Standorten abzuziehen u.v.m.

Es müssen zum zweiten bedacht werden vielfältige personelle Verquickungen der Abgeordneten (und ihrer Mitarbeiter) mit den Profiteuren der aufgezeigten Missstände.

Zu bedenken ist, inwieweit sich aus der Zeit der Systemkonkurrenz das gewollte Image der „Freiheit“ („anything goes“) im Einflussbereich der Marktwirtschaft gehalten hat – im Gegensatz zur „totalen Überwachung“ und „Entindividualisierung“ in den Staaten der Planwirtschaft. „Steuerhinterziehung als Sport“ mag den Sachverhalt auch treffen.

Die FAZ (vom 17. Januar 2000) schließlich benannte das Reproduktionsinteresse der Abgeordneten aus einem zusätzlichen Blickwinkel, wo sie im Zusammenhang mit Schwarzarbeit die Analyse des Tübinger Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung aufgriff: „Für Politiker, die daran interessiert seien, ihre Wählerstimmen zu maximieren, sei es sinnvoll, möglichst glaubwürdig zu suggerieren, dass sie die Schwarzarbeit bekämpfen. Gleichzeitig dürften sie jedoch nicht die Chancen ihrer potenziellen Wähler tatsächlich mindern, nebenbei Geld ohne Abzüge zu verdienen.“

b) Warum machen Grüne und Sozialdemokratie die aufgezeigte Politik mit? Auch hier nur einige Ansätze:

Die so oft beschworene Macht der faits accompli, die Macht der vollendeten Tatsachen, des Faktischen, darf nicht unterschätzt werden. Hierbei gegen festgefahrene Meinungen der bürgerlichen Parteien anzugehen, ist schwer. Nicht zuletzt der Umgang der SPD-Spitze, und namentlich ihres Generalsekretärs Müntefering, mit den „Abweichlern“ in den Fragen Kriegsbeteiligung oder Sozialabbau: Die Drohung mit dem Verlust eines sicheren Listenplatzes bei kommenden Wahlen, macht die Kalamität der Situation einzelner Volksvertreter deutlich.

Dann ist darüber zu räsonieren, inwieweit diese beiden ehemals Linksparteien durch die schlichte Teilhabe an der Macht selbst sukzessive zu staatstragenden Elementen mutiert sind, korrumpiert sind also. Max Webers Analyse der Sozialdemokratie der Weimarer Republik ist nach wie vor gültig, wenn er sagt, so krieche nicht nur die Sozialdemokratie (durch ihre Regierungsbeteiligungen) in den Staat, sondern auch der Staat in die Sozialdemokratie. (Ein Bild, das neuerlich übrigens auch auf die PDS zu übertragen möglich scheint.)

c) Warum verschärft die hellrot-grüne Regierung in Berlin gar das soziale Klima in unserem Lande?

Rainer Roth, Sozialwissenschaftler und Autor des Buches „Nebensache Mensch. Arbeitslosigkeit in Deutschland“, sieht (jW vom 18. Dezember 2003) in den Beschlüssen der Agenda 2010 neben einem generellen Angriff auf soziale Leistungen für bspw. Arbeitslose in der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe („eine Art Mindestlohn im Tarifsystem“) zum einen eine umfassende Lohnsenkung, er analysiert auf der anderen Seite die Versuche, „die Lohnfestsetzung auf die betriebliche Ebene zu verlagern“ und damit einen Angriff auf die Tarifautonomie. Zusammenfassend: „Das Ziel der ‚Agenda 2010‘ ist in erster Linie die Anhebung der Profite auf Kosten der Löhne, vermittelt über Sozialabbau.“


Auswege aus der Lage

Die Frage ist, ob es innerhalb der Marktwirtschaft, des Kapitalismus, wie man sei einigen Jahren wieder sagen darf, überhaupt „Auswege“ aus allen aufgezeigten Problemlagen gibt. Wenn bspw. die Angeklagten im Mannesmann-Prozess Ackermann, Esser etc. jegliches Unrechtsbewusstsein vermissen lassen und wenn sie dabei auch noch von der CDU-Vorsitzenden Merkel unterstützt werden, die in der Anklageerhebung „einen Schlag gegen den Wirtschaftsstandort Deutschland“ (FAZ vom 23. Januar 2004) sieht, dann muss hieran gezweifelt werden. Dennoch gibt es einige Punkte, die bspw. von einer Opposition (!) aus Grüne und SPD unter Umständen verfolgt werden könnten. Es folgen Ideen, die das herrschende System nicht in Frage stellen.

1. Nachfragestimulation durch den Staat

Beginnen wir beim letztgenannten Punkt – der Bekämpfung der Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit. In einem Interview mit der Tageszeitung „junge Welt“ äußerte sich (am 31. Mai/1. Juni 2003) der ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium (unter Minister Lafontaine) Heiner Flassbeck unter dem Titel „Mehr ausgeben!“ zur Sparpolitik der Bundesregierung Schröder/Eichel. Auf die Frage, ob die Wirtschaft „kaputtgespart“ werde, Flassbeck: „Es gibt nur einen Ausweg aus der Krise: Nicht mehr sparen, sondern mehr ausgeben.“ Und weiter, nachdem er auf die derzeit schwache Nachfrage der privaten Haushalte, der Unternehmen und die ausgereizte Nachfrage des Auslandes (u.a. unter Berücksichtigung des starken Euros) hingewiesen hatte: „Es gibt logischer weise nur eine einzige Möglichkeit: Nur der Staat kann in dieser Situation mehr ausgeben. Der Staat muss die Nachfrage stimulieren.“ Und an anderer Stelle (Konkret 1/2004, Seite 22) sagt Flassbeck: „Arbeitsplätze entstehen nur, wenn mehr Geld ausgegeben wird, nicht wenn keiner mehr Geld zum ausgeben hat.“ Flassbeck wird von der Realität bestätigt: Am 31. Januar 2004 meldete die FAZ für das vierte Quartal des Jahres 2003 einen dramatischen Einbruch im deutschen Einzelhandelsumsatz um ca. sechs Prozent.

2. Verbesserung der Gesetzeslage

Betreffend die „legale Steuerflucht“, sprich: das Abschreibungssystem und gesetzliche Lücken im Steuersystem muss der Staat mit seinen eigenen Mitteln tätig werden. Gesetzeslücken müssen geschlossen werden, unsinnige Abschreibungsmöglichkeiten gestoppt werden, die Frage des gesamtgesellschaftlichen Nutzens muss in der Steuer(sic!)politik dominieren.

3. Harmonisierung der Kapitalertragssteuern innerhalb der Europäischen Union (EU)

Schwer vermittelbar ist, dass in der EU die Hebesätze für Kapitalertragssteuern derart unterschiedlich sind. So zahlt man in Deutschland (ab einem geringen Freibetrag) 30 Prozent Steuern, in Luxemburg jedoch nur ca. 0,5 Prozent, ähnlich ist die Lage auf den britischen Kanalinseln oder in Liechtenstein. Dringlich wäre zur Sanierung der staatlichen Finanzen neben einer Erhöhung der Freibeträge für die Besitzer kleinerer Vermögen die wirksame Harmonisierung der Steuersätze innerhalb der EU sowie die wirksame und koordinierte Verfolgung der Steuerflucht. Nahezu alle EU-Staaten haben ein objektives Interesse hieran!

4. Stärkere Besteuerung von Besitz und Gewinnen

Innerhalb der Bundesrepublik und der EU sind anzustreben die Wiedereinführung bzw. Erhöhung der Steuern auf großen Besitz und hohe Gewinne. Dies betrifft die Vermögenssteuer, die Erbschaftssteuer, eine Börsenumsatzsteuer, eine Spekulationssteuer. Die kommunalen Finanzen wären zu sanieren durch eine Erhöhung der Hebesätze für Unternehmens-Gewinne. Insgesamt ist das Steuersystem zu verbessern, indem nicht die Beschäftigung vieler Arbeitskräfte (durch die Vielzahl an Abgaben hierauf) „bestraft“ wird, sondern verstärkt Gewinne abgeschöpft werden.

5. Selbstbetrug beenden

Gewerkschaften und Linksparteien müssen mit unserem Wirtschaftssystem realistisch umgehen: Nicht 4,4 Millionen Menschen sind in unserem Land ohne Arbeit, sondern acht Millionen. Insbesondere das Problem Jugendarbeitslosigkeit ist vorrangig zu behandeln. Auch die Rede von der erreichbaren Vollbeschäftigung ist zu beenden: Qualitatives versus quantitatives Wachstum kann eine Lösung aus der Kalamität sein, mit lebenslangem Lernen und Fortbilden, mit mehr und besserer Bildung und Sorgen um gesellschaftliche Randgruppen u.v.m. Die Stigmatisierung der Erwerbslosen muss bekämpft werden, der „zweite“ Arbeitsmarkt erheblich ausgeweitet werden.

6. „Selbstbedienungs“-Mentalität bekämpfen

Veruntreuungsskandale wie die bei der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone sind innerhalb des Kapitalismus nicht wirkungsvoll zu bekämpfen, insbesondere nicht, wenn sich sogar die Vertreter der Arbeiterschaft involvieren lassen. Hier ist ebenso wie bei der Bekämpfung der wachsenden sozialen Ungleichheit in unserem Lande ein Rückgriff auf die Vergesellschaftungsbestimmungen diverser Verfassungen (so der Artikel 47 der Hessischen Landesverfassung) vonnöten.

Bemerkenswert ist bei allem Geschilderten die anhaltende Integrationskraft des deutschen Kapitalismus, der doch täglich aufs Neue ca. tausend Menschen in die Marginalität schickt.



24. Februar 2004. Dr. Johannes M. Becker lehrt Politikwissenschaft an der Marburger Philipps-Universität e-mail: jbecker(at)staff.uni-marburg.de Ergänzungen zu diesem Papier sowie Kritik sind jederzeit willkommen!

Fußnoten:
  1. Wenige Kennziffern nur, um mit den Milliarden-Beträgen, die im Folgenden genannt werden, umgehen zu können: Gemessen an ihrer Fläche 357 000 qkm) nimmt die BRD Platz 61 auf der Erde ein, gemessen an der Bevölkerung (82 Millionen) Platz zwölf, gemessen am BIP Platz drei. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der BRD, d.h. die Summe aller erzeugten Produkte und Dienstleistungen, betrug 2003 ca. 2000 Milliarden Euro. (Daraus lassen sich leicht die durch den EU-Vertrag von Maastricht „erlaubten“ Verschuldungshöhen errechnen: bei drei Prozent Neuverschuldung am BIP und 60 Prozent Altschulden ...)

    Der Bundeshaushalt des Jahres 2003 umfasste ca. 250 Milliarden Euro (2002 241 Milliarden Euro). Allein an Schuldendienst (Titel „Bundesschuld“) wies der Haushalt 2003 40 Milliarden Euro auf (2002 41 Milliarden Euro) auf. Die Bundesrepublik, und dies auf allen drei Verwaltungsebenen: Bund, Länder und Kommunen, ist verschuldet mit 1300 Milliarden Euro. Alle drei Verwaltungsebenen zahlen an den Zinsen für diese Verschuldung. Diese überschritt 1972 die 100 Milliarden Euro-Schwelle, sie lag 1990, bei Beginn der enormen Transferzahlungen in Folge der deutschen Einheit, bei „nur“ 560 Milliarden Euro.“ [back]

  2. Um die Dimensionen aufzuzeigen: So erhält die Rentnerin in Westdeutschland durchschnittlich 479 Euro Rente, die in Deutschlands Osten (wegen längerer Berufstätigkeit) 655 Euro, männliche Rentner erhalten (West) 978 bzw. (Ost) 1031 Euro. [back]

  3. Die Relation zwischen Mark und US-Dollar entwickelte sich in den vergangenen Jahren wie folgt: Noch im Jahre 2000 musste für einen US-Dollar 2,30 Mark gezahlt werden, heute läge der Preis bei stark 1,50 Mark. Im November 2003 kostete der Euro 1,14 US-Dollar, im Januar 2004 bereits 1,28 Dollar. D.h. die Exportvoraussetzungen sind infolge des stärker, d.h. teuerer gewordenen Euro eigentlich enorm kompliziert worden! [back]

  4. Siehe bspw. AFP vom 30. September 2003. Man schaue auf die Homepage des BdSt, Wiesbaden. [back]

  5. Sehr wohl in Rechnung gestellt werden soll an dieser Stelle (jW vom 21. November 2002), dass ein guter Teil der genannten Summe bspw. durch den Kauf von Baumaterialien bspw. in Baumärkten sehr wohl versteuert wird. Das Gros der Schäden durch die organisierte Schwarzarbeit bleiben hiervor jedoch unberührt. [back]

  6. Siehe FAZ-Artikelserie zur Steueramnestie am 18. Dezember, 19. Dezember und 23. Dezember 2003 („Die Steueramnestie ist für Erben besonders attraktiv“). [back]

  7. Großbritannien und die Niederlande halten sich Steueroasen in Übersee (FAZ vom 11. Februar 2004).So auf den Cayman Islands, Montserrat, auf den Virgin Islands und den Kanalinseln Guernsey und Jersey. [back]

  8. (Quelle: „Staatsfinanzen stärken“ Hg. VerDi, Berlin o. J. (2003), Seite 11. [back]

  9. Die FAZ schrieb am 17. Januar 2004 vor Beginn des Mannesmann-Prozesses zu Esser: „Seine Prämien von rund 31 Millionen Mark, die er aus der Unternehmenskasse erhielt, erhitzte die Gemüter – neben einer annähernd gleich hohen Gehaltsfortzahlung sowie Abfindung für sein lebenslange Nutzungsrecht von Büro, Sekretärin Fahrer und Dienstwagen.“ Allerdings stand nicht diese Zahlungen zur Debatte, sondern die Zustimmung des Aufsichtsrates hierzu ... [back]

  10. In Deutschland machen die Erbschaftssteuern 1999 lediglich 0,9 Prozent des BIP aus. Zum Vergleich: USA 3,1 Prozent, Großbritannien 3,9 Prozent, Frankreich 3,2 Prozent, OECD-Länder insgesamt 1,9 Prozent. (Quelle: „Staatsfinanzen stärken“ Hg. VerDi, Berlin o. J. (2003). [back]

  11. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang, dass täglich ca. 1200 Milliarden US-Dollar spekulativ auf den Welt-Finanzmärkten zirkulieren. Der US-amerikanische Volkswirtschaftler James Tobin, 1981 Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, schlug 1972 eine weltweit einheitliche (Lenkungs-)Abgabe auf spekulative internationale Devisentransaktionen (Tobin-Steuer) vor. Diese Steuer, wenn sie nur ein Prozent der Spekulationsgewinne umfasste, würde alle gravierenden sozialen Probleme der Erde binnen kürzester Frist beseitigen und würde darüber hinaus die Staatshaushalte sanieren. [back]

  12. Das Gutachten („Memorandum“) der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“ (AAW) wird jährlich veröffentlicht, so das „Memo 2002“ im Kölner PapyRossa-Verlag. Eine Kurzform findet sich in: „Blätter...“ 5/2002. [back]

  13. Das illegale Geld dürfte weitere eine Billion Euro umfassen. [back]

  14. Diese Daten finden sich auch in der hervorragenden Faktensammlung „Staatfinanzen stärken“ der Gewerkschaft VerDi (Seite 12ff.). [back]
 16. Mai 2004