Der Sozialkahlschlag: Perspektiven von oben – Gegenperspektiven von unten
Karl Heinz Roth analyse und kritik
16. Mai 2004
Der aktuelle Umbruch in Deutschland
Seit der berüchtigten „Agenda 2010“ der SPD-grünen-Regierung
wird auch in Deutschland der Sozialstaat unwiderruflich geschleift. In allen seinen
Funktionsbereichen findet eine pausenlos zugreifende und arbeitsteilig abgestimmte
Demontage statt. Der Sozialkahlschlag konzentriert sich auf die Arbeitsmärkte,
das Gesundheitswesen, den Bildungssektor, die Altersrenten und die Migrationspolitik.
Durch die so genannten Hartz-Reformen (Deregulierungspaket I bis IV der Hartz-Kommission
der Bundesregierung) ist auf den Arbeitsmärkten ein qualitativer Sprung eingeleitet
worden, der weit reichende Folgen haben wird. Die auf abhängige Erwerbsarbeit
Angewiesenen werden weitgehend entrechtet. Die Sozialfonds für Erwerblose
werden auf ein Minimum zusammengestrichen. Der Bezug der bisherigen Arbeitslosenhilfe
wird auf das Niveau der Sozialhilfe zurückgeführt und mit dieser gleichgesetzt,
und auf diese Weise nimmt das seit längerem verfolgte Projekt der Arbeitserzwingung
konkrete Gestalt an. Das Ergebnis ist die massive Ausweitung des Sektors ungeschützter
Arbeitsverhältnisse, die schon jetzt mehr als die Hälfte des gesamten
Arbeitsvolumens ausmachen, und die endgültige Abkehr vom Modell der „Kernbelegschaften“.
Auch in Deutschland hält die Arbeitsarmut Einzug. Auf die weitgehende Auflösung
der Sozialfonds für Erwerbslose folgt die breite Einführung eines Niedriglohnsektors.
Das Gesundheitswesen wird auf allen Strukturebenen um ein Drittel demontiert und
zugleich verteuert. Die Kranken sind seit Jahresbeginn mit weiterem Gebührensteigerungen
konfrontiert, die auf mehreren Ebenen greifen. Auf diese Weise wird in allen Strukturbereichen
die Privatisierung vorangetrieben. Die Versicherungs- und Pharmakonzerne übernehmen
die Regie und unterwerfen das Gut Gesundheit einer an der Rendite orientierten
Rationierung.
Auch im Bildungssektor werden drastische Abbaumaßnahmen vorangetrieben.
Parallel dazu werden vor allem finanziell greifende Zugangshürden errichtet.
Die pluralistisch-demokratischen Strukturreste in Ausbildung und Forschung sind
Makulatur geworden und werden auch hier von den Berufsschulen bis zu den Universitäten
einer rasch um sich greifenden Privatisierungsoffensive geopfert. Unter dem zunehmenden
Anpassungs- und Selektionsdruck wächst die Bereitschaft vieler Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler, ihre Denk- und Forschungsstrukturen der Scheinlogik der Märkte
zu unterwerfen. Die Gefahr wächst, dass die in Jahrhunderten gewachsenen
Fähigkeiten zur kritischen Systemreflexion über die Geschichte und Perspektiven
der Gesellschaft beseitigt werden.
Inzwischen werden auch die Bezieher von Altersrenten in den Strudel der Sozialdemontage
hineingezogen. Durch hinterhältige Eingriffe in die Leistungskataloge werden
die Anwartschaftszeiten fortschreitend verlängert, die Anrechnungszeiten
für die Berufsausbildung vollends gestrichen und die Zahlungen schrittweise
auf unter 50 Prozent des vorher erzielten Arbeitseinkommens gedrückt. Auch
aus diesem besonders sensiblen Kernbereich verabschiedet sich der Sozialstaat
und öffnet dem Versicherungskapital durch die Liquidierung des Generationenvertrags
und des Umlageverfahrens das Tor für den Zugriff auf die Ersparnisse der
kleinen Leute.
Im Gegensatz zu diesen dramatischen Angriffen auf die soziale Sicherheit der Masse
der Durchschnittsbevölkerung war die Marginalisierung der Migrantinnen und
Migranten schon im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre vorangetrieben worden.
Die Gesellschaft hat sich an den Skandal der Heimunterbringung, der Aufenthaltsbeschränkungen
und der Abschiebeknäste für Flüchtlinge gewöhnt. Bekanntlich
wird aber an den Minderheiten nur durchexerziert, was letztlich allen bevorsteht,
und deshalb wird sich die Hinnahme dieser brutalen Ausgrenzungsmaßnahmen
noch bitter rächen. Es ist jedenfalls ein bedrohliches Zeichen, dass selbst
die Einführung beschränkter Immigrationsregulierungen unterbleibt.
Wenn wir diese Veränderungen in ihrem Zusammenwirken reflektieren, dann fällt
die Zwischenbilanz bitter aus. Der Bruch mit dem sozialen Sicherungssystem findet
jetzt auch zwischen Rhein und Oder statt, und dabei ist es kein Trost, dass der
Sozialkahlschlag trotz seiner Vorentwicklungen seit den 1980er Jahren vergleichsweise
spät zu greifen beginnt. Er hat bei der Masse der Löhne und Sozialeinkommen
beziehenden Bevölkerung genau so wie bei den durch den Umbau des Bildungswesens
betroffenen Jugendlichen eine tief greifende Desillusionierung und Verunsicherung
ausgelöst, und es ist zum erstenmal wieder zu breiteren Protestaktionen gekommen.
Es ist dringlich geworden, sich über die wahrscheinlichen Folgen dieses sozialen
Umbruchs Klarheit zu verschaffen.
Die aktuelle arbeits- und sozialpolitische Entwicklung kann indessen erst in ihren
internationalen Zusammenhängen richtig verstanden werden, und deshalb beginne
ich mit einigen Überlegungen und Hypothesen über ihren globalen Kontext.
Der globale Kontext
In Deutschland wird gegenwärtig im Eiltempo nachgeholt, was in den 1980er
Jahren in den USA und Großbritannien unter Reagan und Thatcher begonnen
hatte und in den 1990er Jahren in Italien, Spanien, Frankreich und der Schweiz
sowie in den meisten Schwellen- und Transformationsländern des kapitalistischen
Weltsystems ausdifferenziert worden war. Dabei sind in der Taktik des Vorgehens
zwar gewisse nationale Differenzierungen zu erkennen, die vor allem durch das
unterschiedliche Ausmaß des Widerstands gegen den Sozialabbau bedingt sind.
Durch sie werden jedoch die identischen Grundlinien nicht in Frage gestellt. Weltweit
ist eine Spirale der sozialpolitischen Demontage in Gang gekommen, die die bisherigen
strukturellen Unterschiede zwischen Metropolen, Semiperipherie und Peripherie
aus der Perspektive der arbeitenden Armen zunehmend verwischt. Zwar bestehen aufgrund
der unterschiedlichen Lebensstandards zu Beginn des sozialen Angriffs auch heute
noch erhebliche Unterschiede. Aber für die Obdachlosen und Flüchtlinge
ist es nicht mehr so entscheidend, unter welchen Brückenpfeilern und in welchen
Asylen sie dahinvegetieren.
Auch die deutsche Entwicklung ist Teil eines weltweiten Deregulierungskonzepts
des Kapitals und seiner internationalen Institutionen, das nicht neoliberal, sondern
neokonservativ und zutiefst reaktionär ist. Seit den 1980er Jahren erobern
die Kapital- und Finanzgruppen die sozialstaatlichen Schalthebel. Sie verkehren
die bisherige Richtung der Umverteilungsmechanismen zur Existenzsicherung der
Schwachen in ihr Gegenteil. Gleichzeitig erzwingen sie in einem alle Nationalstaaten
erfassenden Domino-Effekt eine massive Senkung der Steuereinnahmen. Während
die Budgets für die Sozialeinkommen der Armen gedrosselt werden, erfahren
die Etatposten für den Ausbau des Repressionsapparats – Polizei-, Gefängniswesen
und Psychiatrie – einen rasanten Aufschwung. Die sozial ausgleichende „linke
Hand“ der Staaten verkümmert zunehmend, und die Vordenker und Akteure
des neokonservativen Umbaus betonen die Notwendigkeit einer „starken Rechten“,
um die sozialen Desintegrationsfolgen ihres Vorgehens vorbeugend unter Kontrolle
zu bringen. Wer sich mit dem Elendsdasein eines arbeitenden Armen nicht abfinden
will und in die kriminalisierten Sektoren der Schattenwirtschaft ausweicht, soll
die Schlagkraft des abstrafenden Repressionsstaats zu spüren bekommen.
Dieser Umbau war und ist nur möglich, weil sich die in den parlamentarischen
Repräsentationssystemen verankerten politischen Klassen aller Lager den Strategien
und Verheißungen des neokonservativen Zugriffs unterworfen haben. Da sie
sich selbst jedoch bei der Verabschiedung ihrer sozialpolitischen Gesetzes- und
Verordnungspakete von den nachteiligen und existenziell verunsichernden Folgen
ausnehmen, ist ihr Kotau mit folgenreichen kollektiven Korruptionserscheinungen
verbunden. Die kollektive Selbstbevorteilung macht die politischen Klassen weithin
sichtbar und löst bei denjenigen, die unter der von ihnen dekretierten sozialen
Ungerechtigkeit zu leiden haben, Ressentiments und Hassgefühle aus. Dies
führt mittelfristig zu einer Demontage der repräsentativ-demokratischen
Systeme von innen heraus und kann gefährliche Folgen haben. Unter diesen
Vorzeichen erleben wir nun auch in Deutschland – fünfzehn Jahre nach
Frankreich und zehn Jahre nach Italien – die Selbstzerstörung der Sozialdemokratie
aller Varianten, wobei sich auch die PDS durch ihre Beteiligung an der Berliner
Stadtregierung und deren Kapitulation vor den aus dem Kalten Krieg überkommenen
Finanzspekulanten selbst das Grab geschaufelt hat. Aber auch in solchen Ländern,
in denen wir es mit unbezweifelbar integren politischen Führungen zu tun
haben wie beispielsweise in Brasilien, scheint es keine Handlungsräume für
wirksame Gegeninitiativen mehr zu geben.
Die inneren Umwälzungen finden unter nicht weniger dramatischen äußeren
Rahmenbedingungen statt. Sie sind in die Formierung eines neuen kollektiven Imperialismus
eingebettet, der die Weltinstitutionen an die militärische Weltherrschaft
der USA anpasst und sich in den strategischen Krisenzonen des Weltsystems mit
Methoden festsetzt, die an den klassischen Kolonialismus erinnern. Trotz aller
Rivalitäten unter den Großmächten scheint ein neues Netzwerk imperialistischer
Herrschaft zu entstehen, das innere Gegensätze ständig ausgleicht und
die gemeinsame Kontrolle über die strategischen Ressourcen sowie die Stagnations-
und Depressionsgebiete des Weltsystems durchsetzt. Auch die Frage, in welchen
Regionen als bedrohlich geltende Blockaden gegen die Ausweitung der Wertschöpfung
gewaltsam beseitigt werden sollen, scheint trotz des jüngsten Alleingangs
der angelsächsischen Kriegskoalition gegen den Irak letztlich kollektiv entschieden
zu werden – im Rahmen „ultra-imperialistischer“ Abstimmungsverfahren,
wie sie Karl Kautsky ausgerechnet 1915/16, auf dem Höhepunkt eines zerstörerischen
Hegemonialkampfs der Großmächte, vorausgesehen hatte.
Die Ziele des neokonservativen Projekts und die Folgen der Zerstörung des
bisherigen sozialstaatlichen Klassenkompromisses
Der innere Sozialkahlschlag und die veränderten äußeren Weichenstellungen
zur Regulierung des kapitalistischen Weltsystems sind zweifellos zwei Seiten einer
Medaille. Auf der Grundlage weltweit verschärfter und zugleich kollektiv-gewalttätig
abgesicherter Ausbeutungsverhältnisse soll ein neues Akkumulationsregime
durchgesetzt werden. Es unterscheidet sich vom voraufgegangenen Zyklus vor allem
dadurch, dass es die Vollbeschäftigungsmaxime und das Massenkonsumversprechen
des keynesianisch-fordistischen Zeitalters durch ein System der strategischen
Unterbeschäftigung ersetzt. Weltweit soll zu Spottpreisen eine wirtschaftliche
Reservearmee verfügbar gemacht werden, und weltweit werden die sich vergrößernden
unverwertbaren Segmente der Massenarmut auf neue Weise ausgegrenzt und eingefriedet.
Die postkoloniale Bewegungsfreiheit der transkontinentalen Massenmigrationen wird
wieder aufgehoben. Die von den Migrantinnen und Migranten erkämpfte Freizügigkeit
stößt inzwischen überall auf der Welt auf elektronische Grenzzäune
und auf weithin sichtbare Mauern. Diese Monumente einer neuen Ausschließungskultur
demonstrieren auf drastische Weise, dass die Annahme, die ungezügelte Mobilität
des Kapitalverkehrs würde auch eine „neo-liberale“ Freizügigkeit
der Menschen hervorbringen, eine Illusion war. Nicht nur in dieser Hinsicht hat
sich der so genannte Neo-Liberalismus als kompromisslos menschenfeindlicher Neo-Konservatismus
entlarvt, der immer unverhüllter auf autoritäre Herrschaftsmechanismen
zurückgreift.
Zusätzlich soll dieses neu dimensionierte äußere Wachstumsmodell
langfristig durch eine innere Expansionsdynamik gesichert werden. Durch diesen
Weg in das Innere der Gesellschaften unterscheidet sich das gegenwärtige
Akkumulationsregime am weitesten von seinen Vorläufern. Denn seine Planer
und Vordenker sind sich der Tatsache bewusst, dass die letzten noch verbliebenen
äußeren Wachstumsquellen – vor allem die Rekonstruktionszone
in Ostmitteleuropa und der gigantische late comer China – in zehn bis fünfzehn
Jahren erschöpft sein werden. Dann hat das kapitalistische Weltsystem endgültig
einen Zustand erreicht, in dem es sich die lebenden und toten Schätze dieser
Erde restlos einverleibt hat. Es ist an seine äußeren Grenzen gestoßen,
und damit entfällt eine der entscheidenden Voraussetzungen seiner geschichtlichen
Dynamik. Da aber der Expansionsdruck einer „endlosen Kapitalakkumulation“
(Immanuel Wallerstein) das Wesen des Weltsystems ausmacht, wäre es zum Untergang
verurteilt, wenn ihm der Umschlag zu einer nach innen zurückschlagenden Dynamik
nicht gelingen sollte. Hier sehe ich die entscheidende Ursache für die gnadenlose
Härte, mit der die Planungs- und Aktionszentren des Kapitalismus sich gegenwärtig
die bisherigen „allgemeinen Produktionsbedingungen“ des Wachstums
– gesellschaftliche Reproduktionssphären, soziale Sicherungssysteme,
Infrastrukturen und Bildungswesen – aneignen.
Nun hat der Kapitalismus auch bei der Strukturierung der nationalstaatlichen „Volkswirtschaften“
schon immer eine entscheidende Rolle gespielt. Aber der jetzige Umbruch signalisiert
eine neue Qualität des Zugriffs. Im Dienst der inneren Expansion wird die
„Agenda 2010“ die „Kommodifizierung“ der Gesellschaft
auf eine qualitativ neue Stufe heben, indem im Dienst der nach innen umschlagenden
Kapitalexpansion jetzt allgemeine Alltagsbedürfnisse – Bildung, Gesundheit,
Alterssicherung usw. – hemmungslos privatisiert und unter das Diktat der
Rendite gestellt werden. Der Kapitalismus weitet seine Kontrolle über den
Produktions- und Verteilungssektor auf die Gesellschaft aus und macht sie sich
tributpflichtig. Er wandelt sich zu einem Kapitalismus der Gebühren und Dienstleistungsrenditen,
die er von Millionen kleiner Einkommensbezieher eintreibt. Ein solches Akkumulationsmodell
wäre den Heroen des industriellen Kapitalismus selbst in ihren wildesten
Träumen nicht eingefallen.
Für die Mehrheit der Gesellschaft ist dieser Aufbruch des Kapitals „nach
innen“ außerordentlich folgenreich. Alle, die ihre Arbeitskraft vermieten
müssen, um leben zu können, geraten in allgemein ungesicherte Arbeitsverhältnisse.
Als neue Form der „Vollbeschäftigung“ entsteht ein breiter Niedriglohnsektor.
Um ihr Dasein zu fristen, müssen immer mehr Menschen ihren Arbeitsalltag
nacheinander auf drei oder vier miserable Jobs verteilen. Ihre Arbeitszeiten steigen
dramatisch, während ihre Einkommen sinken. Sie sind zur Arbeitsarmut bis
ans Lebensende verurteilt Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich
gehalten, dass angesichts der rasanten Produktivkraftentwicklung der Kampf für
den Achtstundentag und ein freies Wochenende jemals wieder zu einem Hauptanliegen
der Assoziation der Ausgebeuteten werden könnte?
Als besonders folgenreich werden sich die Eingriffe in das Bildungs- und Wissenschaftssystem
erwesen. Es entstehen neue Zugangsbarrieren auf allen Ebenen. Wissenschaftliche
Qualifikationen werden sich nur noch die Kinder der einkommensstarken Gewinner
des neokoneservativen Umbruchs aneignen können. Mit dieser „elitären“
Neuorientierung wird die Marginalisierung des selbstkritischen gesellschaftlichen
Reflexionsvermögens einhergehen. Je stärker sich diese Tendenz durchsetzt,
desto höher wird der Preis sein, den die Gesellschaften für ihren Rückfall
in den Obskurantismus voraufklärerischer Marktvergötzung und analphabetisierter
Ressentiments zu zahlen haben.
Ein weiterer Schritt zu Dehumanisierung des gesellschaftlichen Lebens wird durch
die Beschränkung des Zugangs zu den Ressourcen des Gesundheitswesens eingeleitet.
Wer kein ausreichendes Einkommen hat, um den Wechselfällen einer schweren
Erkrankung zu begegnen, wird seine gesamten Ersparnisse in die Waagschale werfen
oder auf die Errungenschaften der neuen – und kostspieligen – Gesundheitstechnologie
verzichten müssen. Auf diese Weise wird eine alte und bittere Parole wieder
belebt: Weil Du arm bist, musst Du früher sterben.
So erzeugt der nach innen expandierende Kapitalismus eine neue Massenarmut. War
es ihm im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts gelungen, durch das Ingangsetzen
der Industrialisierung die „gefährlichen Klassen“ der Eigentumslosen
in Arbeiterklasse und Subproletariat aufzuspalten, so hat er heute, 200 Jahre
später, damit begonnen, den umgekehrten Weg einzuschlagen. Die Arbeitsproduktivität
seiner Produktions- und Verteilungssysteme ist heute derart angewachsen, dass
zur Erzeugung immer größerer Gütermengen immer weniger lebendige
Arbeit benötigt wird. Zugleich ist der Kapitalismus dazu übergegangen,
dort zu produzieren, wo die Arbeitskosten weltweit am geringsten sind. Deshalb
tritt seine „Globalisierung“ zunehmend im Gewand einer De-Industrialisierung
der klassischen Akkumulationszentren in Erscheinung, und die von den Propagandisten
des Kapitals verhöhnte Marxsche Verelendungstheorie realisiert sich unter
umgekehrten Vorzeichen. Die Massenarmut kehrt im Prozess der D-Industrialisierung
in die Metropolen zurück, und dabei scheint auch ihre historische Spaltung
in Arbeiterklasse und Subproletariat rückgängig gemacht zu werden. So
betreten die „classes dangereuses“ wieder die historische Bühne.
Den Denkfabriken des Kapitals ist diese Tendenz nicht verborgen geblieben. Schon
in den 1980er Jahren sind die herrschenden Klassen der USA dazu übergegangen,
die Massenarmut vorbeugend zu filtern und ihre potentiell gefährlichen Elemente
hinter immer höheren Gefängnismauern wegzuschließen. Im neuen
Gulag-System der USA sind inzwischen 2,2 Millionen Menschen interniert, und weitere
7,8 Millionen unterliegen der Justizaufsicht, das heißt sie können
bei der geringsten Unangepasstheit wieder inhaftiert werden. Diesem Trend sind
die EU-Länder bislang nur begrenzt gefolgt. In Deutschland und Italien ist
stattdessen eine weniger auffällige Technik der Ruhigstellung der Ausgegrenzten
und Gestrandeten in Gang gekommen. Sie werden entmündigt, psychiatrisiert
und anschließend von den gemeindepsychiatrischen Zentren kontrolliert und
medikamentös ruhig gestellt. Ihre Zahl hat sich in den letzten fünf
Jahren verdreifacht. Sicher hätten es sich die Väter und Mütter
der italienischen und deutschen Psychiatriereform nicht träumen lassen, dass
ihre in bester Absicht betriebenen Initiativen zur Auflösung der großen
Verwahranstalten und zur Durchsetzung einer humaneren Gemeindepsychiatrie auf
derart zynische Weise instrumentalisiert werden könnten.
Wo man derartig mit der „hausgemacht“ entstehenden Massenarmut umgeht,
haben die Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten ohnehin keine Chance.
In einem weit gesicherten europäischen beziehungsweise zentralamerikanischen
Vorfeld – der „Schengener Grenze“ und dem neuen Grenzregime
im Süden der USA– werden sie inzwischen vor dem Zutritt abgefangen.
Soweit sie nicht umgehend deportiert werden, wird die Bewegungsfreiheit der Zugewanderten
drastisch beschnitten. Gleichzeitig wird der erneuerte kollektive Kolonialismus
die Menschen der Peripherie auf ihren Subkontinenten wieder einfrieden. Wie dies
im Einzelnen geschehen soll, wurde im Irakkrieg durchexerziert. Während des
Golfkriegs von 1990/91 waren unter den unfreien Migrationsarbeitern der Golfstaaten
und den irakischen Minderheiten noch Massenfluchten ausgelöst worden. Im
vergangenen Jahr sorgten die angelsächsischen Expeditionstruppen dagegen
in einem makabren Zusammenspiel mit den irakischen Verwaltungsbürokratien
dafür, dass Massenfluchten unterblieben.
Alles in allem haben wir ein Projekt zur Polarisierung und Re-Proletarisierung
w der Weltgesellschaft vor uns, die zum Spielball einer neuen Spirale der „endlosen
Kapitalakkumulation“ geworden ist. Dieser Umbruch erfolgt nicht spontan,
sondern wird durch die Herrschaftszentren des Weltsystems vorangetrieben. Jedoch
ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie in absehbarer Zeit die Kontrolle über
ihn verlieren, und dass das Weltsystem auf eine chaotische Transformationsperspektive
zusteuert, deren Ergebnis völlig ungewiss ist.
Wie unsicher sich die Akteure selbst über den Ausgang ihrer Transformationsinitiative
sind, bezeugt der Aufwand, den sie betreiben, um ihre Vorgehensweise medial, sprachlich
und ideologisch abzusichern. Die Reaktion definiert sich als „Reform“,
aus den Entmündigungsgesetzen werden „Betreuungsgesetze“, und
in Zeiten steigender Massenerwerbslosigkeit werden die neuen Instrumente zur Arbeitserzwingung
als „aktivierende Sozialpolitik“ verharmlost. Im Dienst dieser semantischen
Umdeutungen werden die Medien zum wichtigsten Scharnier zwischen den herrschenden
Kapitalgruppen, den Entscheidungsträgern der großen Transformation,
und den politischen Klassen als ihren Erfüllungsgehilfen. Tag für Tag
produzieren und reproduzieren die Medien semantische Verdrehungen und visualisierte
Lügen, um eine zweite, rein virtuelle Realität hervorzubringen, welche
die katastrophalen Folgen des Restaurationsprozesses in Erfolgsberichte ummünzt.
Wer nur im Reich dieser virtuellen zweiten Wirklichkeit zu Hause ist, kann keine
Erfahrungen mehr sammeln und keine sozialen Lernprozesse mehr mitgestalten, weil
er von seinen Mitmenschen isoliert ist und die Wirklichkeit der harten sozioökonomischen
Tatsachen nicht mehr wahrnimmt. Diese beiden Funktionen erklären die Macht
der Medien: Sie haben die politischen Klassen einzugemeinden und bei den Objekten
der Restauration alle gesellschaftlichen Kommunikationsstrukturen, die elementaren
Voraussetzungen für soziale Lernprozesse, vorbeugend zu zerstören. Dank
der Medien ist der Kapitalismus in Dimensionen der „Gouvernementalität“
(Michel Foucault) hineingewachsen, vor denen die Herrschaftsinstrumente der voraufgegangenen
Akkumulationszyklen verblassen. Er hat begonnen, die langen Dauern des Mentalitätswandels
zu manipulieren und zu verkürzen, indem er die bislang mit ihnen verknüpft
gewesenen gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhänge beseitigt.
Gegenperspektiven
Wie könnten die Umrisse einer Gegenperspektive aussehen, die die Entschiedenheit
zum Widerstand mit Vorstellungen über eine humane und sozial gerechte Welt
verbindet? Über diese Frage ist inzwischen weltweit eine breite Diskussion
in Gang gekommen, und sie beginnt immer deutlichere Konturen anzunehmen.
Im Rahmen dieses Beitrags kann ich nur auf einige Aspekte verweisen, die mir besonders
wichtig erscheinen. Ich werde abschließend einige Hypothesen über die
elementaren Voraussetzungen eines neuen emanzipatorischen Aufbruchs, über
die Offenheit der aktuellen Situation und über erste mögliche Handlungsansätze
formulieren.
Die vier Voraussetzungen eines Gegenprogramms
Ansatzpunkte zu realistischen Gegenprogrammen und aussichtsreichen Handlungsmöglichkeiten
gibt es meines Erachtens nur noch in einer internationalen Perspektive. Die Nationalstaaten
und die aus ihnen hervorgegangenen übernationalen Blockbildungen (EU, NAFTA
usw.) sind der neokonservativen Radikalisierung des kapitalistischen Weltsystems
nicht mehr gewachsen. Die Gegenperspektive sollte sich vor allem nicht in Block-Konzepte
einbinden lassen, denn dann würde sie nur Teil eines vielleicht noch gefährlicheren
Umschlags des globalisierten Netzwerkkapitalismus in katastrophale innerimperialistische
Machtkonflikte.
Zum zweiten bin ich davon überzeugt, dass die Eroberung der politischen Macht
kein Weg mehr ist, der zum emanzipatorischen Ziel hinführt. Die „traditionellen
antiystemischen Bewegungen“ (Immanuel Wallerstein) der Arbeiterbewegung
wollten die gesellschaftliche Befreiung über den Staat in Gang bringen und
vollenden. Dieses Projekt ist gescheitert. Aus dem Untergang des so genannten
Realsozialismus können wir nur noch lernen, vor welchen strategischen Fehlentscheidungen
wir uns hüten sollten. Auch aus dieser Perspektive sind der Nationalstaat
und die durch ihn begründeten Blockbildungen für uns kein Adressat mehr.
Aussichtsreich erscheint mir deshalb nur noch ein breites soziales Bündnis,
das von den SubproletarierInnen der neuen Massenarmut über die ungesichert
Beschäftigten und die industrielle Arbeiterklasse bis zu den selbständigen
Arbeiterinnen und Arbeitern alle Verlierer des Umbruchs einbezieht, also zwei
Drittel bis drei Viertel der Gesellschaft. Es gibt keine „zentrale Arbeiterklasse“
mehr. In jedem Standort werden andere Segmente des neuen Proletariats überwiegen,
in den Schwellenländern sicher auch einmal die Belegschaften großer
Industriebetriebe. Aber aus der Gesamtperspektive lässt sich keine Priorität
für eine spezifische Schicht – seien es Erwerbslose, Jobber, Scheinselbständige
oder Industriearbeiterinnen und –arbeiter - mehr festlegen. Vielleicht hat
die Festlegung der historischen Arbeiterbewegung auf jene Klassensegmente, die
aus zumeist männlichen freien Lohnarbeitern bestanden – beispielsweise
die Facharbeiter oder die Massenarbeiter des Fordismus –, schon immer ihre
Perspektiven und Aktionsmöglichkeiten unnötig eingeengt.
Das Klassenbündnis aller derjenigen, die ihre Arbeitskraft vermieten oder
Sozialeinkommen beziehen müssen, um leben zu können, ist viertens nur
auf der Grundlage gemeinsamer Rahmenbedingungen und Vereinbarungen möglich.
Seine entscheidende Voraussetzung aber ist und bleibt die konsequente innere Demokratie.
Ich halte diese Hypothese für besonders wichtig, und deshalb möchte
ich sie etwas näher erläutern:
a) Nur in basisdemokratischen Strukturen lässt sich die elementare Forderung
nach sozialer und politischer Gleichheit jenseits von Klasse, Geschlecht und Ethnizität
dauerhaft verwirklichen. Mit dieser Grundforderung nehmen wir zugleich die Ziele
vorweg, auf die sich eine Gegenperspektive verständigern sollte: Keine Macht
für niemand – kein Eigentum für niemand – kulturelle Gleichberechtigung
alles Heterogenen.
b) Auf allen Ebenen des sich organisierenden Gegenprojekts sollte ein konsequentes
Delegations- und Rotationsprinzip durchgesetzt werden, um die Entstehung neuer
abgehobener Funktionärsschichten von vornherein zu vermeiden. Diese Forderung
erscheint banal. Aber wer sich nicht erst seit gestern für emanzipatorische
gesellschaftliche Perspektiven engagiert, weiß, wie wichtig eine schon im
Vorfeld des Neubeginns getroffene Verabredung über diese Frage ist.
c) Das Bündnis hat nur dann eine Perspektive, wenn die inneren Strukturen
seiner Partner und Teilnehmer demokratisiert werden. Deshalb sollten auf mittlere
Sicht bei allen Bündnispartnern basisdemokratische Strukturen geschaffen
werden. Beispielsweise ist es sehr zu begrüßen, dass einzelne DGB-Gewerkschaften
inzwischen auf die Zusammenarbeit mit den sozialen Bewegungen Wert legen. Für
die Vertiefung zum Bündnis wären jedoch einige Voraussetzungen zu klären,
die keineswegs auf die lange Bank geschoben werden können. So wären
die extrem hohen Gehälter der Gewerkschaftsspitzen auf ein vertretbares Niveau
zu senken. Sicher würde die Mehrheit dieser Spitzengruppe daraufhin kündigen,
aber dies wäre nur zu begrüßen, weil sie qua Einkommen und Habitus
nicht einer Gegenperspektive zuneigen, sondern im Innersten der politischen Klasse
der Deregulierer angehören. Darüber hinaus sollten sich die Gewerkschaften
von den Knebelungen des Betriebsverfassungsgesetzes – Stichwort: Aufsichtsratsmandate
– und von der Mitbestimmung verabschieden, nachdem die Kapitalseite den
historischen Kompromiss von 1944 längst informell aufgekündigt hat.
In allen diesen Fragen sollten wir uns keinen Illusionen hingeben und nichts auf
die lange Bank schieben. Auch die linken Gewerkschaftsgruppen sollten sich einmal
darüber Rechenschaft ablegen, inwieweit sie von den Gewerkschaftszentralen
nur deshalb toleriert werden, weil sie einen für das Image unverzichtbaren
Rest von Basis-Aktivismus aufrechterhalten. Letztlich werden sie aber nur nützliche
Idioten bleiben und immer auf der Stelle treten, solange sie nicht die Frage nach
der innergewerkschaftlichen Demokratie auf die Tagesordnung setzen. Solange sind
auch sie für die Masse der Beschäftigten unglaubwürdig und werden
zwischen der skeptischen Zurückhaltung der Belegschaften und der Blockadepolitik
der Gewerkschaftsleitungen zerrieben.
Die Offenheit einer emanzipatorischen Perspektive
Wir sind Teil eines seit über 500 Jahren bestehenden Systems, das sich gegenwärtig
in einem gravierenden Umbruch befindet, ohne dass sich dabei irgendwelche historische
„Gesetzmäßigkeiten“ ausfindig machen ließen, von
denen wir ableiten könnten, wohin die Reise gehen wird. Es ist völlig
unklar, ob die als „Deregulierung“ bezeichnete Umlenkung der Kapitalakkumulation
in das Innere der gesellschaftlichen Reproduktion wirklich gelingt, denn dies
würde zur Zerstörung jeglicher Gesellschaftlichkeit führen. Genau
so unsicher sind die Chancen des Widerstands und einer darauf aufbauenden Gegenperspektive.
Selbst eine globale soziale Konfrontation ist denkbar, bei der sich keine der
beiden zentralen Konfliktparteien durchsetzt, so dass aus der sich dann ergebenden
Patt-Situation eine völlig neue Gesellschaftsformation hervorgehen könnte,
die weder etwas mit den Restaurationsvorstellungen der kapitalistischen Denkfabriken
noch mit unseren sozialistischen Erneuerungshoffnungen zu tun hat. Die Richtung,
die der Umbruch nehmen wird, ist deshalb völlig offen. Gewiss wird der Widerstand
gegen das seit Ende der siebziger Jahre vorangetriebene neokonservative Projekt
Massencharakter annehmen, denn das ihm innewohnende Programm grundsätzlicher
sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit ist für die große Mehrheit
der Menschheit unerträglich. Der Ausgang der Konfrontation ist jedoch völlig
offen: So offen, wie er es in der Großen Depression der 1930er Jahre war.
Damals waren Faschismus und zweiter Weltkrieg das traurige Ergebnis. Heute sind
chaotische Zustände wahrscheinlicher, die sich unterhalb der Ebene weltweiter
militärischer Konfrontationen abspielen und in 20 bis 30 Jahren zu einer
wie auch immer gewandelten komplexen Gesellschaftsformation überleiten.
Auf jeden Fall bewegen wir uns auf ein Chaos zu. In dieser Phase der Instabilität
können auch kleinere Initiativen große Wirkungen erzielen, wie Immanuel
Wallerstein in seiner „Utopistik“ betont hat. Wenn wir uns klar machen,
dass ein Durchbruch zu mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit keineswegs gesetzmäßig
ist; wenn wir also die Falle der sich von selbst gesetzmäßig verwirklichenden
„Utopie“ umgehen und mit einem möglichst großen Maß
an Skepsis vorgehen, haben wir noch am ehesten die Chance, etwas zu bewirken.
Gleichzeitig bewahren wir uns vor allzu großen Desillusionierungen.
Umrisse einer neuen Vermittlung zwischen konkretem Handeln und Gegenperspektive
Bei jedem handlungsorientierten Ansatz wäre vom jeweiligen lokalen „Standort“
auszugehen, wo es handlungsbereite Menschen gibt und ihre Assoziation zu einem
Bündnis gegen den Sozialkahlschlag möglich ist. Denn das vernetzte kapitalistische
Weltsystem besteht heute aus 700 bis 800 Standorten plus jeweiligem Hinterland.
Wenn wir uns in diesen Standorten verankern, befinden wir uns innerhalb der entscheidenden
Nervenzentren des Weltsystems, von denen aus die Weltinstitutionen, supranationalen
Machtblöcke und Nationalstaaten dirigiert werden.
Je nach der sozialen Zusammensetzung der Standorte könnten im Prozess des
Aufbaus der ersten Kommunikationsnetze spezifische Aktionsformen entwickelt und
erprobt werden. Generell denkbar wären Initiativen zur Durchsetzung eines
existenzsichernden Mindestlohns, von radikaler Arbeitszeitverkürzung und
betrieblicher Demokratisierung. In unseren Breiten könnte man hier an die
Erfahrungen der Jobber- und Erwerbslosenbewegungen der 1980er Jahre anknüpfen,
aber auch an die Praxis der neuen italienischen und französischen Basisgewerkschaften;
die hiesige Gewerkschaftslinke könnte hier ihren Platz finden, falls das
Projekt der innergewerkschaftlichen Demokratisierung misslingen sollte. Dass in
vielen Schwellenländern ganz andere Voraussetzungen bestehen und beispielsweise
die in den maquiladores ausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeiter eine wesentliche
Rodle spielen werden, versteht sich von selbst.
Parallel zu diesen Aktivitäten in der Produktions- und Verteilungssphäre
könnten Stadtteilbüros gegründet werden, in denen die vom Sozialkahlschlag
Betroffenen beraten werden, zugleich aber auch selbstorganisierte Netze der sozialen
Kommunikation (lokale Radios und TV-Stationen) und der sozialen Aneignung aufbauen.
Diese soziale Aneignung könnte man konkret – Gebührenboykott –,
aber auch perspektivisch verstehen: Die Sozialfonds, Bildungseinrichtungen und
das Gesundheitswesen sollten in kommunale Selbstverwaltung zurückgeholt werden,
bevor sie vollends geplündert sind. Auch hier gibt es inzwischen erste Erfahrungen,
beispielsweise aus Berlin und Ostdeutschland.
Wie aber könnten derartige lokale Initiativen miteinander in Kontakt treten?
Als Brücke zwischen der lokalen Verortung und der weltweiten Vernetzung mit
anderen Standort-Bewegungen könnten vor allem die Flüchtlinge und Migrantinnen
und Migranten fungieren. Sie sind überall als kleinere oder größere
Sozialgruppen präsent, und es dürfte nicht schwer fallen, ihre ohnehin
schon bestehenden Kommunikationsstrukturen in das Gegenprojekt einzubeziehen,
sofern sie an den jeweiligen Standorten geschützt und als gleichwertige Partner
respektiert werden. Wenn es gelingt, beispielsweise die reichen Bremer Erfahrungen
in der antirassistischen Flüchtlingsarbeit in eine lokal oder regional vernetzte
Selbstorganisation einzubringen, dann wäre dies ein exemplarischer Schritt,
der vielleicht auch andernorts vollzogen werden könnte. Mittelfristig sollte
aber auch die Gründung global agierender Basisgewerkschaften – vor
allem im Transport- und Kommunikationssektor – hinzukommen.
Von großer Bedeutung wäre es nun, diese drei Komponenten eines social
movement unionism auf der jeweiligen Ebene einer lokalen beziehungsweise regionalen
Agglomeration miteinander zu verknüpfen und parallel dazu durch die Netzwerke
der MigrantInnen und Flüchtlinge, aber auch durch den Auf- und Ausbau internationaler
Transportarbeitergewerkschaften den globalen Kontext herzustellen.
Zu einem glaubwürdigen Gegenprojekt gehören aber auch Überlegungen
und Vereinbarungen darüber, wie eine sozial gerechte und egalitäre Welt
in ihrem globalen Kontext durchzusetzen wäre. Zweifellos kann eine ernsthafte
Alternative gegen die neokonservative Zurichtung der Welt nur aus ihren lokalen
und durch die MigrantInnen und Transport- und Kommunikationsarbeiter vernetzten
Gegenbewegungen hervorgehen. Aber diese Einsicht macht die seit einigen Jahren
forcierten Bemühungen um weltweite Gegenforen und die in diesen Kontexten
beispielsweise bei „attac“ entstandenen Modelle für globale Alternativen
nicht gegenstandslos. Sie sollten allerdings über ihre punktuellen Ansätze
(Tobin-Steuer) hinaus getrieben und systematisiert werden. Ein Schritt dazu wäre
die Auflistung der wichtigsten Probleme, die nur noch auf Weltebene gelöst
werden können, und das Nachdenken über mögliche Strukturen zur
Umsetzung. Hier muss ich mich mit ein paar schlagwortartigen Hinweisen begnügen.
Zu den wichtigsten Aufgaben gehört zweifellos eine sofortige weltweite Abrüstung
und die Auflösung aller Armeen. Parallel dazu müssten die internationalen
Finanzmärkte liquidiert und ein globales monetäres Restrukturierungsprogramm
mit transkontinental egalisierender Tendenz aufgelegt werden. Darüber sollte
jedoch nicht die Dringlichkeit der Überleitung des Know how der internationalen
Rohstoffkonzerne und Energiekartelle zur Ingangsetzung eines egalisierenden und
zugleich ökologisch orientierten Weltenregieprogramms übersehen werden.
Von großer Bedeutung wäre auch die Entmachtung des internationalen
Agro-Business und die Entwicklung eines egalisierenden globalen Agrarprogramms.
Dass auch die Oligopole und Kartelle der Informations- und Medientechnologie durch
global greifende Technologieprojekte mit egalisierender Tendenz zu ersetzen wären,
versteht sich von selbst. Innerhalb der Internet- und Linux-Kultur gibt es ja
durchaus Ansätze in diese Richtung. Das ist eine sehr unvollkommene Liste,
die lediglich die Bedeutung dieser Reflexionsebene unterstreichen soll.
Auf welcher institutionellen Ebene sollte man aber ansetzen? Ich denke, dass es
sich lohnen würde, jene Weltinstitutionen zu studieren, die in den letzten
Jahren des zweiten Weltkriegs von den Alliierten geschaffen wurden. Zweifellos
sind sie in der Folgezeit durch den Kalten Kriegs und bei der Bekämpfung
der Befreiungsbewegungen der Drei Kontinente bis zur Unkenntlichkeit deformiert
sowie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zur Initiierung der „Schocktherapien“
des globalen Sozialkahlschlags missbraucht worden. Wenn wir davon aber abstrahieren
und uns diese Modelle – vor allem IMF, Weltbank und Vereinte Nationen –
in ihrer ursprünglichen Konzeption ansehen, dann erscheinen sie als durchaus
brauchbare Ausgangspunkte: Als Ausgangspunkte wohlgemerkt, die durch eine kollektive
Repräsentation der global vernetzten Alternative demokratisiert und in Instrumente
einer weltweit greifenden sozialen und wirtschaftlichen Egalisierung umgewandelt
werden müssen. Sie könnten dann als Dachkonstruktion eines föderativ-egalitären
Projekts angesehen werden, das den Globus umspannt und das immer stärker
zur Barbarei tendierende neokonservative Projekt beendet.
Schlussbemerkung
Das alles sind nur erste Überlegungen. Jedoch sprechen gewichtige Annahmen
dafür, dass es drei wesentliche Elemente sein werden, die geeignet sein könnten,
eine realistische Gegenperspektive mit Leben zu füllen: Erstens die Maulwürfe
der sozialen Gegenbewegungen in den Agglomerationen, zweitens die Netzwerke der
MigrantInnen sowie die AktivistInnen einer weltweit agierenden gewerkschaftlichen
Basisbewegung, und drittens die „organischen Intellektuellen“, die
in diesen Netzwerken verankert sind und auf den globalen Gegen-Foren übe
r die Wege zu einer sozial gerechten und egalitären Welt nachdenken.
In diesem Sinn sollten wir gemeinsam an die Arbeit gehen – skeptisch und
vorsichtig, aber auch im Vertrauen darauf, dass eine Wende zu sozialer Gleichheit
und Gerechtigkeit grundsätzlich möglich ist.
(Aufsatzfassung der Rede, die Karl Heinz Roth auf der Aktionskonferenz des
„Bündnis gegen Sozialkahlschlag und Bildungsabbau“ am 20. Februar
2004 in Bremen gehalten hat. Die Rechte für den Druck hat die Zeitschrift
„analyse und kritik“ – ak – in Hamburg.)