Auf dem Weg zur Weltmacht
Hermann Werle telegraph
16. Mai 2004
Bis 2010 soll Europa Weltwirtschaftsmacht Nummer eins werden
Ein Großteil der sozial- und wirtschaftspolitisch relevanten Gesetze findet
ihren Ursprung auf Ebene der EU. Brüssel ist fern – die Institutionen
und politischen Verfahrensweisen sind wenig bekannt und schwer zu durchschauen,
so dass sich die Tragweite vieler Entscheidungen aus Brüssel hinter einer
Nebelwand der Nicht- oder Desinformation verbirgt. Nicht nur in Deutschland, sondern
europaweit sollen die bestehenden sozialen Sicherungssysteme zerschlagen werden,
während die militärische Aufrüstung in der geplanten EU-Verfassung
verankert werden soll. Hinter den Bestrebungen, aus der Regionalmacht Europa eine
Weltmacht zu schmieden, stehen neben den führenden Verbänden der deutschen
Industrie und Arbeitgeber (BDI und BDA), europäische Lobbyorganisationen
und Denkfabriken.
Ob Standortdebatte oder Green Card, ob Ökosteuer, EU-Erweiterung oder Privatisierung,
keines der Themen und keine der richtungweisenden politischen Entscheidungen der
letzten Jahre ist ohne maßgebliche Einflussnahme der Spitzenverbände
debattiert und schließlich im Sinne der Unternehmen entschieden worden.
Als Ausgangspunkt der aktuellen innerdeutschen Debatten um Wirtschafts-, Sozial-
und Arbeitsmarktpolitik ist die maßgeblich vom BDI und seinem ‚Think
Tank‘, dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), initiierte Diskussion
um den „Standort Bundesrepublik“ anzusehen. Seit 1986 wird jeder Eingriff
in das soziale Sicherungssystem, jeder Angriff auf die Löhne und jede Steuererleichterung
für Unternehmen mit der angeblichen Standortschwäche der Bundesrepublik
legitimiert. Nicht die Bedürfnisse der lohnabhängigen Bevölkerung
sollen Maßstab sozialer Sicherung sein, sondern allein das, was die Wirtschaft
bereit ist zu zahlen. Man könnte einwenden: So ist das doch schon immer gewesen!
Die anstehenden ‚Reformen‘ der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zeigen
allerdings, dass sich ein durch die Arbeitgeber- und Unternehmensverbände
angetriebener Strukturwandel vollzieht, der viele soziale – bisher als selbstverständlich
geltende – Standards für die Bundesrepublik grundsätzlich in Frage
stellt. Ein Zwang zur Arbeit unter schlechtesten Bedingungen bei gleichzeitig
wachsender Armut breiter Bevölkerungsschichten wird sich mit der Umsetzung
der geplanten Entwürfe manifestieren, wie die massiv eingeschränkte
Funktion der Gewerkschaften. Der im letzten Jahr gescheiterte Streik der IG Metall
wurde von BDA-Präsident Dieter Hundt umgehend medienwirksam genutzt, um das
Recht auf Streik grundsätzlich in Frage zu stellen. Damit sollen die Gewerkschaften,
ihres wirkungsvollsten Kampfmittels beraubt, dauerhaft an die kurze Leine genommen
werden und zu Bettelvereinen verkommen.
Sozialdarwinistische Reformbewegung
Der aktuelle Angriff auf die Gewerkschaften und Lohnabhängigen fügt
sich in einen massiven Propagandafeldzug der Industrielobby ein. Dafür wurde
vor knapp vier Jahren eigens die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“
(INSM) ins Leben gerufen. Finanziert wird die Initiative von den Arbeitgeberverbänden
der Metall- und Elektroindustrie, die bis Ende 2004 rund 50 Millionen Euro in
das Projekt investieren wollen. Die Koordination liegt bei der Berolino PR-Gesellschaft,
die dem Institut der Deutschen Wirtschaft angegliedert ist und vom früheren
BDI-Pressesprecher Dieter Rath geleitet wird. Berolino und diverse PR-Agenturen
verbreiten ihre Botschaften auf Plakatwänden und ganzseitigen Anzeigen: „So
viel Sozialstaat ist unsozial“, meint Altbundespräsident Roman Herzog;
Lothar Späth legt noch einen drauf und fordert in einer weiteren Anzeige:
„Mehr Mut zur Ungleichheit!“. Wo immer es geht, werden von Wissenschaftlern,
Politikern und Managern mit Hilfe zahlreicher Medien derlei Statements in die
Öffentlichkeit kolportiert. Für n-tv, N24, aber auch den Hessischen
Rundfunk und die ARD scheint es eine Selbstverständlichkeit zu sein, den
von den Verbänden propagierten Sozialdarwinismus bundesweit auszustrahlen.
Angesichts der ökonomischen und sozialen Missstände, die diese Reformbewegung
mitverursacht und gleichzeitig vertuschen will, biegen sich in vielerlei Hinsicht
die Balken. Der Sozialabbau schreitet voran, während von neuen Arbeitsplätzen
weit und breit keine Spur in Sicht ist. Die desaströse Pleite der größten
Personal Service Agentur, Maatwerk, ist ein Beleg, dass trotz hoher staatlicher
Subventionierung und dadurch ermöglichten Niedrigstlöhnen, keine neuen
Jobs vom Himmel fallen. Folgen wir Dagmar Schipanski, Bildungsministerin in Thüringen
und engagierte Botschafterin der INSM, für die sozial ist, „was Arbeitsplätze
schafft“, so ist wohl der Umkehrschluss gestattet, dass besonders asozial
die Konzerne sind, die in dieser schwierigen Situation trotz Niedriglohn und flexibler
Arbeitszeiten nur an Profite und Aktienindex denken und weiterhin in großem
Umfang Stellenabbau betreiben.
Einsichten dieser Art sind nicht sonderlich verbreitet – schon gar nicht
mehr bei den Sozialdemokraten. Neben BDI, BDA, Leuten aus CDU/CSU/FDP/Grüne
und dem Rechtsaußen Arnulf Baring, betätigen sich auch Sozialdemokraten
in der INSM. ‚Superminister‘ Clement war ebenso für die Initiative
aktiv wie der geschasste frühere Chef der Bundesanstalt für Arbeit Florian
Gerster. Dieser brachte die Substanz der propagierten „Neuen Sozialen Marktwirtschaft“
im Gespräch mit der Berliner Zeitung vom 8. März letzten Jahres auf
den Punkt: „Der Sozialpolitiker fragt, was braucht der in Not geratene Mensch?
Dann definiert er Standards, die finanziert werden müssen. In einem hoch
entwickelten Sozialstaat mit gravierenden Strukturproblemen wie dem unsrigen muss
die Frage umgedreht werden: Wie viel Sozialstaat kann sich die Gesellschaft leisten?“
Alles schon gehabt
Mit ihrer Propagandaoffensive sind Gerster sowie seine neoliberalen Gesinnungskameraden
und Kameradinnen der INSM nicht sonderlich originell, übernehmen sie doch
im Kern die gleichen Positionen, die die Industrieverbände schon vor 80 Jahren
formulierten: „Wie jede Politik ist auch die Sozialpolitik nur eine Politik
des Möglichen, des Durchführbaren, des Tragbaren. Nicht allein der Gedanke,
dass etwas ‚gut‘ oder ‚wünschenswert‘ ist, kann die
Sozialpolitik bestimmen, sondern dazu muss die Gewissheit kommen, dass die zu
treffende Maßnahme mit den vorhandenen Mitteln durchführbar ist und
dass sie nicht andere, ebenso wichtige Volksglieder zum Schaden des Ganzen ungebührlich
benachteiligt.“ Diese Worte des Konzernbarons Borsig, der seinerzeit Vorsitzender
der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände war, wurden 1924 in der
Schriftenreihe des Reichsverband der Deutschen Industrie publiziert. Aus dem gleichen
Haus, im Dezember 1929 vor dem Hintergrund der Krisenerscheinungen der kapitalistischen
Welt, wurden die Forderungen der Industrie schon wesentlich forscher formuliert:
„Die Sozialversicherung soll die wirklich Schutzbedürftigen und Notleidenden
betreuen, eine unberechtigte, die Volksmoral schädigende Ausnutzung ihrer
Einrichtungen aber verhindern.“ Zur Steuerpolitik heißt es: „Der
Umbau der Finanzwirtschaft hat nach zwei Gesichtspunkten zu erfolgen: a) wesentliche
Senkung der öffentlichen Ausgaben und Steuern, b) Beschaffung der Mittel,
stärker als bisher, durch indirekte Besteuerung.“ Wer dächte da
nicht an die rot-grüne Steuerpolitik oder die von Kanzler Schröder platzierte
Faulenzerdebatte und den Worten seiner Agenda 2010-Rede vom 14. März 2003:
„Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft
zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien
verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“
Ein historischer Vergleich hinkt zweifelsohne an vielen Stellen, deutlich ist
jedoch, dass sich an den grundsätzlichen Tendenzen der Auseinandersetzung
nicht viel ändert. Ähnlich wie heute konnten die Verbände als stärkste
Interessenvertretungen der großen Konzerne Mitte der 1920er Jahre angesichts
kapitalistischer Krisenerscheinungen und steigender Arbeitslosenzahlen eine scharfe
Offensive gegen die Interessen der Lohnabhängigen entfachen. Damals vor dem
Hintergrund einer Phase, in der die Arbeiterklasse durch harte Kämpfe und
hohen Blutzoll bedeutende Fortschritte erzielt hatte. Fortschritte, die ihre Wirkung
bis in den derzeit zum Abschuss freigegebenen Sozialstaat entfalten konnten. Ein
weiterer Unterschied ist freilich, dass die Sozialdemokratie nicht schon immer
die Argumente der Unternehmerverbände übernommen hat. Schließlich
dienten sowohl das Bismarcksche Sozialistengesetz von 1878 wie auch die wenige
Jahre später erlassenen Gesetze zu den Sozialversicherungen nach dem Prinzip
von Zuckerbrot und Peitsche einst der Bekämpfung der Sozialdemokratie. Lang,
lang ist‘s her – für die Sozialversicherungen lohnt es sich aber
auch heute noch zu kämpfen, und ein Gesetz, welches „gegen die gemeingefährlichen
Bestrebungen der Sozialdemokratie“ vorgeht, wünscht man sich wohl bald
wieder.
Arbeitsteilung
Um die engen Bande zwischen wirtschaftlichen und politischen Lenkern der Bundesrepublik
besser zu verstehen, lohnt es, die Arbeitsteilung der Verbände und die personellen
Verbindungen zu untersuchen. Die Verbandspolitik der Unternehmen entwickelte sich
historisch an spezifischen Interessen. Eine größere Anzahl von Unternehmensverbänden
entstand seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts. Sie waren überwiegend
lokale Zusammenschlüsse, die sich mit Fragen des Verkehrs und der Tarife
für Eisenbahnen und Schiffe beschäftigten. Mit der Gründung des
deutschen Reichs vervielfachte sich die Anzahl der Verbände – Hauptgründungszweck
war in dieser Zeit die Forderung nach Schutzzöllen, die anstelle von Freihandel
Importzölle zum Schutz der einheimischen Wirtschaft erheben. Neben Vereinen
wie dem der Süddeutschen Baumwollindustriellen oder der Deutschen Eisen-
und Stahlindustriellen entstand mit dem Centralverband Deutscher Industrieller
1876 die einflussreichste Interessenvertretung der Industrie. Der Ruf nach wirksamer
staatlicher Schutzzollpolitik wurde sowohl vom Centralverband als auch der Landwirtschaft
gefordert und führte zur wirtschaftspolitischen Wende, der Bismarckschen
Schutzzollpolitik. Mit Zuspitzung der sozialen Kämpfe und dem zeitgleichen
„Sozialistengesetz“ entstanden zwischen 1880 und 1889 25 Arbeitgeberverbände
als Kampforganisationen der Unternehmer gegen die Gewerkschaften. 1913 fusionierten
diese Verbände zur Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (VDA),
der Vorläuferorganisation der heutigen BDA. An der Aufgabenteilung hat sich
bis heute nicht viel geändert. Während der BDI als Wirtschaftsverband
in erster Linie als Lobby der Industrie auf die Politik und Öffentlichkeit
einwirkt, sind die Tarifverhandlungen mit den Gewerkschaften und die gegenseitige
finanzielle Unterstützung bei Streiks sowie Koordinierung von Aussperrungen
die Haupttätigkeiten der BDA.
Diese grundsätzliche Aufgabenverteilung der Spitzenverbände darf indes
nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Grundsatzfragen eine enge Abstimmung
und Zusammenarbeit gibt, die sich nicht zuletzt in dem gemeinsam bezogenen „Haus
der Wirtschaft“ widerspiegelt. In der Breiten Straße 21-29 in Berlin-Mitte
haben BDI, BDA und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag eine gemeinsame
Adresse, von der aus „ein neues Kapitel der Interessenvertretung für
die deutsche Wirtschaft“ geschrieben werden soll, „deren Gemeinschaft
nun auch unter einem gemeinsamen Dach seinen Ausdruck findet“, wie BDA-Chef
Dieter Hundt zur Einweihung des Gebäudes am 12. November 1999 vermerkte.
Lobby der Großkonzerne
Rund 75 Prozent der deutschen Unternehmen sind über ihre jeweiligen Branchen-
oder Fachverbände im BDI und BDA organisiert. Beide Spitzenverbände
verfügen des Weiteren über Vertretungen in 15 Bundesländern sowie
diverse Fachbereiche und Ausschüsse. Dadurch entsteht ein enges Geflecht
von Einflusssphären auf der Ebene der Kommunen und Länder aber auch
der Außenpolitik. Wenngleich die Mehrzahl der organisierten Unternehmen
kleine und mittelständische Betriebe sind, dominieren die transnationalen
Konzerne die Verbändepolitik. Präsidium und Vorstand des BDI gleichen
einem who is who der deutschen Konzernfürsten: Neben dem Präsidenten
Michael Rogowski finden sich dort unter anderem Ekkehard Schulz (Thyssen Krupp
AG), Burckhard Bergmann (E.on/Ruhrgas), Ulrich Hartmann (E.on AG), Harry Roels
(RWE AG), Jürgen Schrempp (Daimler Chrysler), Heinrich v. Pierer (Siemens
AG), Ludolf v. Wartenberg (Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie
und ehemaliger Staatssekretär) sowie der frühere Wirtschaftsminister
Werner Müller (RAG Aktiengesellschaft). Auffallend ist neben der Konzerndominanz
die personelle Verflechtung in die politische Sphäre, die mit dem Begriff
der Deutschland AG umschrieben wird und als deren „Vorstandsvorsitzender“
sich Gerhard Schröder titulierte. Gemeinsam mit Minister Clement berief er
im Juli drei Wirtschaftsführer der Deutschland AG in seinen engen Beraterstab:
Klaus Mangold (Daimler Chrysler und Chef des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft
im BDI), Heinrich v. Pierer und Jürgen Weber (Lufthansa AG) bekleiden seither
das Amt des Beauftragten für Auslandsinvestitionen in Deutschland.
„Globalisierung hin, Entflechtung her – die Deutschland AG lebt“,
schrieb das Manager-Magazin im Oktober 2002 und stellte fest: „Das Old Boys‘
Network funktioniert wie eh und je. Ein Kreis einflussreicher Männer –
sorry, no ladies – dominiert die deutsche Wirtschaft.“ Nicht ganz
falsch, möchte man dem Magazin beipflichten, welches über diverse offizielle
und private Treffen zu berichten weiß. Zum Beispiel wenn Kanzler Schröder
mit eben jenen einflussreichen Männern Geburtstage feiert oder im Luftwaffen-Airbus
mit Siemens Chef von Pierer & Co. Karten drischt – „Rotwein und
Cohibas stets in Reichweite“. Was allein fehlt an dieser Darstellung, ist
die politische Tragweite dieser Männerkumpanei.
Vom gesellschaftlichen zum nationalen Interesse
Die so genannte „Deutschland AG“ bezeichnet die deutsche Version des
Kapitalismus nach 1945. Um den inneren Frieden Nachkriegs-Westdeutschlands zu
gewährleisten, wurde unter Einbeziehung gewerkschaftlicher Mitbestimmungsmöglichkeiten
ein System geschaffen, welches wirtschaftliche Machtkonzentration einschränken
sollte. Durch Aktienbesitz oder Eigentum konnten Staat, Länder und Kommunen
direkten Einfluss auf den Beschäftigungsstand nehmen und die Grundversorgung
in verschiedenen Bereichen wie Energie, Transport und Telekommunikation für
weite Teile der Bevölkerung sicherstellen. Die enge Verflechtung zwischen
Politik, Banken und Unternehmen bildete das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft,
deren sozialstaatliches Sicherungssystem der Sphäre der kapitalistischen
Verwertung bislang weitgehend entzogen war. In diesem Sinne war das Wirtschaftssystem
gesellschaftlichen Interessen verpflichtet. Den Unternehmen ging es dabei nicht
schlecht, staatliche Subventionen, geringe Konkurrenz und die relative Abschottung
des nationalen Wirtschaftsraums garantierten über lange Zeit satte Gewinne.
Zudem waren ‚feindliche‘ Übernahmen auf Grund des geringen Streubesitzes,
der politischen Kontrolle und des großen Einflusses der Finanzinstitute
(insbesondere Deutsche Bank und Allianz) ausgeschlossen. In einigen strategischen
Bereichen wie der Energie wird sich das auch nicht ändern. Gerne würden
ausländische Konzerne im Prozess der wirtschaftlichen Konzentration größere
Häppchen der deutschen Unternehmenslandschaft übernehmen. Konzerne wie
RWE, E.ON/Ruhrgas oder ThyssenKrupp wurden aber mit politischer Unterstützung
wie der Ministerentscheidung zur E.ON-Ruhrgas-Fusion aus strategischem Interesse
zu Megakonzernen aufgebaut, um Deutschlands Rolle als politisch- ökonomische
Großmacht zu stärken. Die von den Industrieverbänden beklagte
angeblich zu schwache Investitionstätigkeit ausländischen Kapitals ist
im Wesentlichen auf diese Abschirmung nach außen zurückzuführen
und nicht auf zu hohe Steuer- oder Lohnkosten, wie der Bundesverband der Deutschen
Industrie (BDI) und so genannte Wirtschaftsexperten immer wieder Glauben machen
wollen.
Die Aufweichung des Systems der Deutschland AG ist trotz dieser Beschränkung
unübersehbar. Mit der Orientierung auf den Shareholdervalue und der Expansion
in den neuen Wirtschaftsräumen Osteuropas, Russlands und Asiens sind die
transnational agierenden Unternehmen verstärkt bestrebt, sich jeglicher Fesseln
staatlicher Regulation und gesellschaftlicher Verantwortung zu entledigen. Konzerne,
die auf dem Weltmarkt bestehen wollen, und das können in den Schlüsselbereichen
nur eine Hand voll, verfolgen aufmerksam den Aktienindex, scheren sich aber einen
Dreck darum, wer links und rechts am Wegesrand liegen bleibt. Der Sozialstaat
hat in dieser Logik seine Schuldigkeit getan, keineswegs aber der Nationalstaat
und auch nicht das Netzwerk der Eliten aus Politik und Wirtschaft. Gesellschaftliche
und soziale Interessen werden den Interessen der Wirtschaft geopfert und zu „nationalen
Interessen“ deklariert. Frei nach dem Motto: ‚Es gibt keine Klassengegensätze
mehr, es gibt nur noch Deutsche‘, lässt Kanzler Schröder kaum
eine Gelegenheit aus – zum Beispiel bezüglich der deutschen Irak-Politik
– diese Interessenslage in die Welt zu posaunen.
- „Wir haben ein eigenes nationales Interesse an der Erweiterung –
wirtschaftlich und politisch allemal. Europa und Deutschland – daran kann
kein Zweifel bestehen – werden durch die Osterweiterung wirtschaftlich gewinnen,
politisch wie ökonomisch.“ (Schröder, Dezember 2000)
- „Es gibt auch keinen Streit darüber, dass wir ein nationales Interesse
daran haben, dass die Türkei eine immer enger werdende Bindung an den Westen
erfährt (...)“ (Schröder, Dezember 2002)
- „Es ist mir wichtig, dass das klar wird. Die Deutschen sind auf dem Balkan,
weil sie ein eigenes nationales Interesse an der Stabilität in der Region
haben.“ (Schröder Bundestagsdebatte 29. September 2001)
Die Spur des Bodo Hombach
Für die Durchsetzung der Interessen auf dem Balkan kam der Schröder-Intimus
Bodo Hombach zum Einsatz. Dessen steile Karriere begann in den 1970er Jahren in
der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und in der SPD. Er war Wahlkampfmanager
für Ministerpräsident Rau und Landesgeschäftsführer der nordrhein-westfälischen
SPD, bevor er 1991 einen Abstecher in die Wirtschaft unter anderem bei der Salzgitter
Stahl AG unternahm. Von dort ging es wieder in die Politik, wo er unter Clement
NRW-Wirtschaftsminister wurde, dann Wahlkampfberater Schröders und schließlich
die Führung des Bundeskanzleramts übernahm. Mit seiner unternehmensfreundlichen
Politik stieß Hombach in dieser Position zwar auf Widerstand innerhalb der
SPD, es gelang ihm aber, mit Lafontaine den letzten unliebsamen ‚Reformbremser‘
aus der Regierungscrew zu entfernen.
Nachdem deutsche Truppen 1999 ein weiteres Mal in Jugoslawien einmarschiert waren,
beförderte Kanzler Schröder seinen ‚besten Mann‘ zum EU-Sonderkoordinator
für den Balkan-Stabilitätspakt. Sehr erfreut darüber zeigte sich
die deutsche Industrie, deren Sprecher, der damalige BDI-Präsident Hans Olaf
Henkel in einem Spiegel-Interview frohlockte: „Ohne Hombach hätte es
die überfällige Kurskorrektur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik
nicht gegeben. Aber nun übernimmt er eine phantastische Aufgabe, und die
deutsche Industrie wird künftig in Südosteuropa einen überaus kompetenten
Ansprechpartner haben.“ Diese Einschätzung war wohl begründet.
Osteuropa hat sich zu einem der bedeutendsten Investitionsfelder deutscher Unternehmen
entwickelt. Mit einem Anteil von rund 17 Prozent führt Deutschland die Liste
ausländischer Investoren bei Fusionen und Übernahmen in Mittel- und
Osteuropa an, gefolgt von den USA (zwölf Prozent) und Frankreich (neun Prozent).
Hombachs Engagement fand entsprechende Anerkennung. Für die Essener Westdeutsche
Allgemeine Zeitung öffnete des Kanzlers Liebling die entscheidenden Türen
des Pressemarkts, so dass die WAZ-Gruppe die führenden Zeitungen in Serbien
und Montenegro besitzt und in Kroatien mit 70 Prozent der Zeitungen nahezu ein
Monopol auf dem Pressemarkt hält. Aber auch in Ungarn, Rumänien, Bulgarien
und Griechenland beherrscht der Medienkonzern große Teile der Zeitungsmärkte.
Der Balkankoordinator wechselte Ende 2001 folgerichtig direkt in die Geschäftsführung
der WAZ-Gruppe. Nebenbei betätigt er sich als Botschafter der „Initiative
Neue Soziale Marktwirtschaft“ und der Bundesverband der Deutschen Industrie
honorierte die Arbeit mit einem Präsidiumsplatz im Ost-Ausschuss der Deutschen
Wirtschaft. Diverse Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfe aus seiner Zeit
in der NRW-SPD und bei Salzgitter tun der Musterkarriere des Bodo Hombach keinen
Abbruch.
Das zweite Außenministerium
Im Ost-Ausschuss weiß sich Hombach in bester Gesellschaft. Neben Klaus Mangold
(DaimlerChrysler), Burckhard Bergmann (E.ON/Ruhrgas) und diversen anderen Wirtschaftsgrößen
trifft der Karrierist hier auf Otto Wolff von Amerongen, dem langjährigen
Präsidenten des Ausschusses. Im August gratulierte Bundestagspräsident
Thierse im Namen des deutschen Bundestags von Amerongen zum 85. Geburtstag –
wohlweislich, dass dieser während des Nationalsozialismus mit der Ausplünderung
jüdischer Vermögen Geschäfte gemacht hatte. Der mit diversen Orden
Geehrte – unter anderem großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik –
galt über Jahrzehnte als „heimlicher Osthandelsminister“ und
„Diplomat der deutschen Wirtschaft“.
Außenpolitik, und das liegt in der Natur der Sache, ist für eine exportorientierte
Industrie ein Feld von besonderem Interesse. Dementsprechend verfügt der
BDI neben dem Ostausschuss über fünf weitere Regionalinitiativen, mit
denen die globale Interessenssphäre der deutschen Industrie abgedeckt wird.
Als der rechte kolumbianische Staatspräsident Uribe auf seiner Europareise
Mitte Februar 2004 natürlich auch in Berlin Station machte, um für seinen
Kampf gegen den Terrorismus zu werben, gehörte selbstredend auch ein Empfang
der Lateinamerika Initiative der deutschen Wirtschaft zum Programm.
Auslandsreisen des Kanzlers und Wirtschaftsministers werden nicht nur von großen
Wirtschaftsdelegationen begleitet, es hat den Anschein als würden sie auch
vom BDI angeregt und organisiert. Kurz nachdem Heinrich von Pierer, Vorsitzender
des Asien-Pazifik-Ausschusses, im Januar 2003 die Idee einer Regierungsreise nach
Südostasien aufbrachte, saßen Schröder, Clement und die Freunde
aus der Wirtschaft auch schon gemeinsam im Flieger – bei oben erwähnten
Cohibas und Rotwein. Ob nach China, Lateinamerika, Russland oder zuletzt in die
Türkei, Schröder hat seine Freunde aus der Wirtschaft immer dabei.
So in etwa dürfte sich der Staatssekretär des Auswärtigen Amts
Wolfgang Ischinger die „umfassende Zusammenarbeit“ zwischen Auswärtigem
Dienst und deutscher Wirtschaft vorgestellt haben, als er seine Rede auf einem
BDI-Symposium mit den Worten enden ließ: „Nutzen Sie die Ressource
Auswärtiger Dienst – es ist Ihr Auswärtiger Dienst!“
Als am 20. März 2003 die Bombardierungen des Irak begannen, sahen viele Menschen
in Gerhard Schröder einen Mann des Friedens. Skeptiker hielten das „Nein“
zum Krieg wenige Monate vor den Bundestagswahlen für ein taktisches Manöver,
übersahen jedoch – zum Teil ebenfalls aus wahltaktischen Gründen
– die deutliche Ablehnung der Industrie zu diesem Krieg. Die hatte sich
nämlich kurz zuvor noch äußerst glamourös auf einer Industriemesse
in Bagdad präsentiert. Deutsche Investitionen und das gute deutsch-irakische
Wirtschaftsverhältnis sollte nicht durch einen Krieg in Mitleidenschaft gezogen
werden, zumal die US-Dominanz nach dem Krieg vorprogrammiert war. Um Schadensbegrenzung
des deutsch-(US)-amerikanischen Verhältnisses zu betreiben, organisierte
der BDI sowohl vor als auch nach dem Krieg Krisentreffen in Deutschland und den
USA mit Vertretern aus Wirtschaft und Politik aus beiden Ländern. Auch wenn
es derzeit den Anschein hat, dass die Krise überwunden ist, kann das nicht
darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis zwischen EU und USA
von gegensätzlichen Interessenslagen geprägt ist.
Lobbying auf EU-Ebene
Hintergrund des schwierigen Verhältnisses ist nicht zuletzt eine Ankündigung
der EU aus dem Jahr 2000. Die europäischen Staats- und Regierungschefs verständigten
sich mit der „Lissabon-Strategie“ auf das gemeinsame Ziel, Europa
bis zum Jahr 2010 zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum
der Welt zu gestalten – eine deutliche Kampfansage an die USA, deren globale
Hegemonie in Frage gestellt werden soll.
Es ist somit auch keineswegs ein Zufall, dass Schröders Agenda – recht
willkürlich wie es zunächst scheint – den Zusatz „2010“
erhielt. Die Agenda 2010 ist ein EU-Programm der Harmonisierung des europäischen
Wirtschaftsraums unter der Kontrolle der Konzerne. Mit den gleichen Forderungen,
mit denen BDI und BDA die deutsche Gesellschaft auf ihren neoliberalen Kurs eintrimmen,
beherrscht die EU-Industrie-Lobby den Diskurs auf Ebene der EU: Lebenslanges Lernen,
Investitionen in die Forschung, Privatisierung, Deregulierung, ‚Reform‘
der Steuer- und Sozialleistungssysteme sowie der Arbeitsmärkte etc.
Folgen wir den Ausführungen der Bundeszentrale für politische Bildung,
so tummeln sich „mehr als 1000 Verbände, europäische Unternehmensvertretungen
und Lobbyagenturen in Brüssel“. Im Heft 279 der Reihe „Informationen
zur politischen Bildung“ (Auflage 920 000) werden auf 66 Seiten die
Geschichte, Verträge und Institutionen der EU dargestellt. Auch dem EU-Lobbyismus
sind einige Zeilen gewidmet. Einzig der Europäische Gewerkschaftsbund findet
namentliche Erwähnung. Er ist einer der europäischen Sozialpartner,
die „durch ihr Recht, Gesetzgebungsvorhaben der Kommission an sich zu ziehen
und auf dem Verhandlungswege eine Entscheidung herbei zu führen, von ‚Einfluss-‘
zu ‚Entscheidungsträgern‘ aufgewertet wurden“. Das klingt
recht demokratisch, verschleiert jedoch die realen Machtverhältnisse. Dem
zahnlosen Gewerkschaftsbund stehen mit UNICE (Union of Industrial and Employers
Confederations of Europe), ERT (European Round Table of Industrialists) und ESF
(Europea Services Forum) drei höchst potente Unternehmensvertretungen gegenüber.
Während die 1958 gegründete UNICE den Dachverband der Industrie- und
Arbeitgeberverbände darstellt, ist der ERT ein elitärer Männerclub,
dem 46 Vorstandsvorsitzende der größten europäischen Konzerne
angehören. Mit acht Vertretern ist die deutsche Industrie am stärksten
vertreten. Mit dem erst 1999 auf Initiative des damaligen EU-Handelskommissars
gegründeten ESF ist eine Lobbygruppe entstanden, die im Rahmen der Welthandelsorganisation
europäische Interessen in den Liberalisierungsverhandlungen im Dienstleistungsbereich
(Finanzen, Versicherungen, Telekommunikation, Transport etc.) formulieren soll.
Hauptadressat der Lobbygruppen ist die Europäische Kommission, in deren Generaldirektionen
und angegliederten Diensten rund 20 000 Beschäftigte arbeiten. Hier
werden die Richtlinien und Verordnungen konzipiert, die für die Mitgliedsstaaten
bindenden Charakter erhalten. Wie auf bundesdeutscher Ebene sind die Netzwerke
zwischen Politik und Wirtschaft eng gestrickt und basieren häufig auf freundschaftlichen
Beziehungen.
Die Rhein-Ruhr-Mafia
Deutsche Konzerne sind bestens auf dem europäischen Parkett platziert. An
der Spitze von UNICE und ERT stehen mit dem BASF-Vorstandsvorsitzenden Jürgen
Strube und dem Aufsichtsratsvorsitzenden und früheren Vorstandsvorsitzenden
der ThyssenKrupp AG Gerhard Cromme derzeit zwei deutsche Konzernherren, die ihr
Handwerk gründlich gelernt haben. Beide besetzen Aufsichtsratsposten in diversen
deutschen Konzernen (Strube unter anderen bei Commerzbank und BMW; Cromme unter
anderen bei Allianz, Springer, E.ON und Volkswagen) und sie verfügen über
beste Kontakte zur Politik.
Cromme gilt als enger Vertrauter Wolfgang Clements und neben Ulrich Hartmann (E.ON)
und Dietmar Kuhnt (RWE) als zentrale Persönlichkeit der „Rhein-Ruhr-Mafia“
(Manager Magazin). Cromme und Clement kennen sich seit vielen Jahren, saßen
sie in Düsseldorf doch quasi in Sichtweite auf ihren gut gepolsterten Chef-
Sesseln – Clement als Ministerpräsident, Cromme als ThyssenKrupp-Manager.
Der strukturelle Umbau des Stahlkonzerns zum Megaproduzenten von Stahl und Investitionsgütern
(Maschinen, Aufzüge, Schiffbau, Schienenfahrzeuge) mit weltweit über
190 000 MitarbeiterInnen geht ebenso auf das Engagement Clements zurück
wie die Fusion mit Krupp und die Exportförderung und jahrelangen Subventionen
des Bunds für den von ThyssenKrupp und Siemens entwickelten Transrapid. Clement
wird bis heute nicht müde, das Projekt, das niemand so richtig will, weiterhin
in Milliardenhöhe fördern zu wollen und anzupreisen als hinge sein Herzblut
daran. Blut wird der ‚Superminister‘ wohl keines vergossen haben.
Er macht sich lediglich die Sorgen, die sich jeder Unternehmer macht, wenn sein
Produkt nicht den Marktinteressen entspricht. Als Kuratoriumsmitglieder der Alfried
Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sitzen Clement und Cromme im gleichen Boot.
Mit 18,83 Prozent (Bilanz 2002) ist die Stiftung größter Einzelaktionär
bei ThyssenKrupp und bestimmt somit maßgeblich die Geschicke des Konzerns.
„(...) ich kann keinem Historiker oder Wirtschaftswissenschaftler wünschen,
dass er diesen ekelhaften Gegenstand noch einmal von den Quellen aus bearbeiten
muss“, schrieb der renommierte, 1997 verstorbene DDR-Wissenschaftler Jürgen
Kuczinsky, nachdem er sich Ende der 1940er Jahre eingehend den Unternehmerverbänden
gewidmet hatte. Diese Aussage trifft auch heute noch zu, nur dass sich die Struktur
des Untersuchungsgegenstandes auf europäische und globale Akteure sowie hochspezialisierte
Denkfabriken ausgeweitet hat.
Weltmachtstreben
Formulieren die Lobbyverbände vom BDI bis ERT überwiegend die Wirtschafts-,
Arbeitsmarkt-, Sozial- und Steuerpolitischen Spielregeln, so ist es die Aufgabe
von staatlich und privat finanzierten Denkfabriken, strategische und geostrategische
Planungen zu entwerfen. In der Bundesrepublik sind dies federführend die
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und das Centrum für Angewandte Politikforschung
(CAP). Das 1995 an der Universität München gegründete Centrum wird
überwiegend von der Bertelsmann Stiftung finanziert und ist insbesondere
auf das Themenfeld der Europäischen Integration spezialisiert. Wichtige Beratungsfunktion
erhält das Centrum dadurch für die deutsche Europapolitik, im Vorfeld
von EU-Regierungskonferenzen darüber hinaus aber auch für die Europäische
Kommission, wo gute Kontakte zur Generaldirektion Ia – Außenbeziehung
– bestehen. Bei weitreichenden Entscheidungen, wie sie in diesem Jahr anstehen,
kommt den Planungen des CAP somit eine Schlüsselrolle zu.
Drei bedeutsame Ereignisse stehen auf der diesjährigen Tagesordnung der Europäischen
Union: Die EU-Erweiterung um zehn Staaten am 1. Mai, die Wahlen zum Europäischen
Parlament im Juni und schließlich die gemeinsame Verfassung für den
weltweit größten geschlossenen Wirtschaftsraum. Dessen Verabschiedung
ist zunächst insbesondere an den Befürchtungen der polnischen Regierung
gescheitert, dass mit der Verfassung eine deutsche Hegemonie für Ost- und
Südosteuropa zementiert werden könnte.
Großraumplanungen aus deutschen Schubladen, unter anderem aus dem Hause
des CAP in München bestätigen diese Befürchtungen durchaus.
„Die Union hat sich heute ein neues strategisches Ziel für das kommende
Jahrzehnt gesetzt: das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten
wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen.“
Wie weit diese vom Europäischen Rat 2000 in Lissabon beschlossene strategische
Zielsetzung zu interpretieren ist, zeigen die Überlegungen des Direktors
des CAP, Professor Werner Weidenfelds. Als Lenker des CAP und führendem Mitglied
der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gilt Weidenfeld
als einer der einflussreichsten Politikberater Deutschlands.
„Die Bevölkerung der EU wird von heute 371 Millionen auf 539 Millionen
anwachsen; etwa doppelt so viel wie die der USA. Ihre Fläche beträgt
5 097 000 Quadratkilometer, etwas mehr als die Hälfte der USA.
Das Bruttosozialprodukt liegt um rund 15 Prozent höher als das der USA. Dieses
Potenzial könnte also den Status einer Weltmacht definieren“, so der
Professor. China, Russland und Indien verfügten zwar ebenfalls über
große Potenziale, wären aber mit gravierenden Schwächen konfrontiert.
„Im Vergleich zu diesen Akteuren kommt das Potenzial der Europäischen
Union dem der Weltmacht USA am nächsten – ja es ist ihm in weiten Teilen
sogar überlegen. Nicht erst seit 1989 ist das integrierte Europa eine Weltmacht
im Werden. (...) Sie ist Magnet und treibende Kraft in der weltpolitisch bedeutsamen
Neuordnung der sowjetischen Hinterlassenschaft; die Agenda der Nachbarschaftspolitik
der EU umfasst Herausforderungen und Akteure von weltpolitischer Brisanz.“
Was nach Meinung des Strategen noch fehle, sei ein „operatives Zentrum“
und „vor allem ein strategisches Denken“. „Das Defizit an strategischem
Denken erweist sich so als eigentliche Achillesferse Europas“ (alle Zitate
aus Die Welt vom 8. März 2003). Aus einem Arbeitspapier des Osteuropa-Instituts
der FU-Berlin geht hervor, dass das CAP seit Bestehen bemüht ist, den beklagten
Mangel an strategischem Denken auszugleichen. Allein im ersten Halbjahr 1999 hat
das Centrum an zwei wichtigen außenpolitischen Ereignissen maßgeblich
mitgewirkt (Außenpolitikberatung in Deutschland, Herausgegeben von Klaus
Segbers, 1999).
Ein von Weidenfeld und dem Verlag der Bertelsmann Stiftung 2001 herausgegebenem
Strategiepapier „Jenseits der EU-Erweiterung“ beschäftigt sich
ausschließlich mit dem „europäischen Integrationsraum“
nach der Osterweiterung und den neuen Nachbarschaften – Russland, Ukraine,
Belarus. „Diese Nachbarschaften stellen stabilitätspolitische Herausforderungen
dar, deren Ausmaß sich bisher noch kaum jemand verdeutlicht hat“,
heißt es in der Einleitung. Als besonderes Gefahrenpotenzial wird Belarus
ausgemacht. „Noch schwieriger als die Beziehungen zur Ukraine und Moldova
gestaltet sich das Verhältnis zwischen Europa und Belarus. Die offizielle
Außenpolitik des Lukaschenko-Regimes konzentriert sich auf die Intensivierung
der Beziehungen zu Russland bis hin zu einer russisch-belarussischen Union.“
Ein Umsturz wird in dem Papier nicht direkt propagiert, beklagt wird aber das
unzureichende Interesse der EU an der belorussischen Opposition, die „durch
gezielte Unterstützung von außen auch vergrößert werden“
könnte. Beinahe bedauernd stellt das Strategiepapier fest, dass Belarus im
Gegensatz zu den Minderheitenproblemen in Südosteuropa „über kein
vergleichbares ethnisches Konfliktpotenzial“ verfügt.
Aus der geopolitischen Mottenkiste
Ein operatives Zentrum in Form eines europäischen Außenministeriums
hätte mit der europäischen Verfassung entstehen sollen – und Fischer
wäre gern der erste Unionsaußenminister geworden. Diese Pläne
sind vorerst vom Tisch, keineswegs allerdings strategische Planungen, wie sie
von Weidenfeld eingefordert werden. Längst hat die durch den Nationalsozialismus
lange Zeit diskreditierte Geopolitik wieder Einzug im Auswärtigen Amt gehalten.
Der Griff in die Mottenkiste deutscher Geostrategen scheint geradezu populär,
so ähnlich sind die heutigen Konzeptionen. Detaillierte Pläne für
einen Großraum, der frei von Zollbarrieren und mit gemeinsamer Währung
die Weltmärkte beherrschen sollte, wurden seit den 10er Jahren intensiv diskutiert.
Als einer der mächtigsten Wirtschaftsführer hielt der Aufsichtsratsvorsitzende
der IG Farbenindustrie und Vorsitzende des Reichsverbandes der Deutschen Industrie
Carl Duisberg 1931 eine Rede vor dem Bayerischen Industriellen-Verband, in der
es unter anderem hieß: „Begonnen wurde diese Tendenz (nach größeren
übernationalen Wirtschaftsräumen) äußerst zielbewusst in
den Vereinigten Staaten, die mit Dollar und Gewehr nach Norden und insbesondere
nach Mittel- und Südamerika ihre Einflusssphäre ausbreiten. (...) Erst
ein geschlossener Wirtschaftsblock von Bordeaux bis Sofia wird Europa das wirtschaftliche
Rückgrat geben, dessen es zur Behauptung seiner Bedeutung in der Welt bedarf.
Denn während überall in der Welt neue Wirtschaftsräume zur Aktivierung
schreiten, während sich ein panamerikanischer, ein indischer, ein chinesischer
Wirtschaftsraum vorbereitet, droht Europa durch seinen inneren Zwist immer mehr
an Bedeutung zu verlieren, zumal Russland als mächtiger Wirtschaftsraum aus
dem europäischen Gefüge ausgebrochen ist und England seine Interessen
in seinem überseeischen Imperium gebunden sieht.“ Nur ein geeintes
Europa sei also in der Lage, weltpolitisch Bedeutung zu erlangen. Deutschland
käme die Führungsrolle zu, die die europäischen Nachbarn zu akzeptieren
hätten. Zwar basierten diese Pläne nicht zwangsläufig auf Eroberungsfeldzügen,
sie widersprachen den militärischen Expansionsbestrebungen der Nationalsozialisten
aber auch nicht.
Fischers Avantgarde
In ihrem 1994 verfassten CDU-Strategiepapier „Überlegungen zur europäischen
Politik“ ziehen Karl Lamers und Wolfgang Schäuble ihre Lehren aus dem
verlorenen Krieg: „Die militärische, politische und moralische Katastrophe
1945 als Folge des letzten dieser Versuche (deutscher Hegemonieerrichtung) ließ
Deutschland nicht nur erkennen, dass seine Kräfte hierzu nicht ausreichen,
sie führte vor allem zu der Überzeugung, dass Sicherheit nur durch eine
grundlegende Änderung des europäischen Staatensystems gewonnen werden
kann, in dem Hegemonie weder möglich noch erstrebenswert erscheint.“
Dass Deutschland auch heute noch eine führende Rolle zu spielen habe, daran
lassen die CDU-Strategen an anderer Stelle dennoch keinen Zweifel: „Der
feste Kern hat die Aufgabe, den zentrifugalen Kräften in der immer größer
werdenden Union ein starkes Zentrum entgegenzustellen und damit die Auseinanderentwicklung
zwischen einer eher protektionismus-anfälligen Süd-West-Gruppe unter
einer gewissen Anführung durch Frankreich und einer stärker dem freien
Welthandel verpflichteten Nord-Ost-Gruppe unter einer gewissen Anführung
durch Deutschland zu verhindern.“ Die rot-grüne Regierung hat das CDU-Papier
zum europapolitischen Regierungsprogramm gemacht. Die von Schäuble und Lamers
eingeforderte Achse Paris – Berlin verfestigte sich durch die geschlossene
Position zum Irak-Krieg und auch ein Kerneuropa ist für Schröder und
Fischer eine denkbare Option. Eine Etappe auf dem Weg zur Vollendung der politischen
Union könnte nach Fischers Vorstellungen, die er im Mai 2000 der Öffentlichkeit
vorstellte, „die Bildung eines Gravitationszentrums“ sein, welches
„die Avantgarde, die Lokomotive für die Vollendung der politischen
Integration sein“ solle. In der gleichen Rede hob Fischer die überragende
Bedeutung der Osterweiterung hervor: „Gerade die deutsche Wirtschaft wird
von der Erweiterung einen hohen Gewinn für Unternehmen und Beschäftigung
davontragen. Deutschland muss daher weiter Anwalt einer zügigen Osterweiterung
bleiben.“
Osteuropa im Visier
Schäuble war voll des Lobes für diese Rede Fischers und auch in den
Vorstandsetagen deutscher Konzerne werden Fischers Worte mit Wohlwollen aufgenommen
worden sein. Der Osten sei als „Aktionsraum für die deutsche Außenpolitik
zurückgekehrt“ hatten Schäuble und Lamers in ihrem Papier geschrieben
und bereits zwei Jahre zuvor – 1992 – hatte der Siemens-Vorstand seine
strategischen Ostpläne formuliert: „Mit den Kooperationen in Osteuropa
verfolgen wir vor allem zwei strategische Ziele. Erstens sollen sie den Zugriff
auf neue Märkte, insbesondere in Osteuropa verschaffen. Zweitens brauchen
wir Niedriglohnstandorte, in denen wir so kostengünstig produzieren können,
dass sich die Produkte auf den kaufkraftschwachen Ostmärkten absetzen lassen.“
Der heute noch amtierende Siemens-Chef von Pierer wurde 1995 noch deutlicher:
„Die Personalkosten liegen in der CSFR gerade bei fünf bis zehn Prozent
von denen in Deutschland. Die Leute sind gut ausgebildet, und es gibt dort eine
gewachsene Industriekultur. Wenn wir jetzt noch die Produktivität steigern
und die Qualität auf unser Niveau erhöhen, dann haben wir dort eine
fast unangreifbare Wettbewerbsposition – und zwar für den Weltmarkt“
(zitiert nach isw report Nr. 23). Dass diese Rechnung offensichtlich aufgeht,
zeigen die Erfolgsbilanzen des Konzerns, der bereits angekündigt hat, im
Zuge der Osterweiterung weitere Teile seiner Software-Entwicklung und Fertigung
dorthin verlagern zu wollen.
Aber nicht nur für Siemens verspricht Osteuropa ein lohnendes Geschäft
zu werden. Großkonzerne wie RWE und E.ON/Ruhrgas sind seit Jahren auf Beutezug
in den geöffneten Märkten des Ostens. Von kommunalen Wasserversorgern
bis zu Staatsbetrieben wird aufgekauft, was sichere Rendite verspricht. E.ON,
welches sich nach dem Ministerentscheid vor zwei Jahren den Erdgas-Riesen Ruhrgas
einverleiben durfte, expandierte in den letzten Jahren zu Deutschlands größtem
Energieversorger und bildet mit RWE auf dem deutschen Energiemarkt ein Duopol,
welches – entgegen aller Beteuerungen der preissenkenden Wirkung durch Deregulierung
– die Preise für Strom, Gas und Wasser nach oben treiben kann. Der
Energieversorgung Europas kommt eine strategische Bedeutung zu, die im „Grünbuch
– die Sicherheit der Energieversorgung der Union“ der Europäischen
Kommission von Ende 2000 skizziert wird und eine drastisch ansteigende Importabhängigkeit
prognostiziert. Der Rolle des Erdgases wird eine wachsende Bedeutung für
die Energiesicherheit der EU beigemessen und bis zum Jahr 2020 mit einem Zuwachs
von 60 Prozent gegenüber dem heutigen Verbrauch gerechnet. Bis zum Jahr 2030
soll die Hälfte des Stroms innerhalb der EU aus Erdgas erzeugt werden und
neue Regionen an das Erdgasnetz angeschlossen werden. Vorgesehen – oder
auch schon fertig gestellt – sind Gaspipelines quer durch Europa von Norwegen
bis Portugal und darüber hinaus zu den Quellen in Algerien, Russland, Iran
und anderen Ländern am Kaspischen Meer. „Geopolitisch betrachtet stammen
45 Prozent der Erdöleinfuhren aus dem Mittleren und Nahen Osten, 40 Prozent
der Erdgaseinfuhren aus Russland, wobei die Europäische Union noch nicht
über ausreichende Möglichkeiten verfügt, auf dem Weltmarkt Einfluss
zu nehmen,“ resümiert das „Grünbuch“ und spekuliert
dabei auf eine weltpolitische Rolle, die der Vormachtstellung der USA Paroli bieten
kann. Vorgesehen sind Mindeststandards von Erdöl- und Gasvorräten, langfristige
Lieferverträge aber vor allem die engere Anbindung Russlands.
Mit der Beteiligung von E.ON/Ruhrgas am weltweit größten Gasunternehmen
Gazprom wird diese strategische Allianz mit Russland vorangetrieben, die mehr
Unabhängigkeit von den – weitgehend von den USA kontrollierten –
Ölreserven im arabischen Raum schaffen soll.
Sterben für Brüssel
Entsprechend der strategischen Bedeutung sitzt mit dem E.ON/Ruhrgas Aufsichtsratsvorsitzenden
und Ex-Vorstandsvorsitzenden des Energieriesen Ulrich Hartmann in führender
Position der Stiftung Wissenschaft und Politik. Das Institut wurde 1962 gegründet
und ist durch die Zusammenführung mit anderen Forschungseinrichtungen inzwischen
mit rund 120 Mitarbeitern zum größten außenpolitischen think
tank Europas angewachsen. Zum 40jährigen Bestehen der SWP brachte Hartmann
zum Ausdruck, wie sich SWP, Politik und Wirtschaft zu ergänzen haben: „Wenn
unser Land heute als ein handlungsfähiger Partner in der Völkergemeinschaft
agiert und als ein stabiler Faktor in einer Welt des Umbruchs anerkannt ist, so
ist dies natürlich gerade auch aus Sicht international tätiger deutscher
Unternehmen sehr zu begrüßen. (...) Wir brauchen also nicht weniger
Politik, in einigen Bereichen brauchen wir sogar mehr Politik – und damit
brauchen wir auch mehr Politikberatung.“ Etwas konkreter formuliert Friedemann
Müller die Rolle der Politik in dem SWP-Arbeitspapier: „Sicherheit
der Energieversorgung – Zu kompliziert für Europas Politiker?“
Dort heißt es: „Die Schaffung eines ausreichenden Maßes an Versorgungssicherheit
für ein Land oder eine Region ist keine genuine Aufgabe von privaten Unternehmen,
sondern Teil der Sicherheitspolitik.“ Da diese innerhalb der EU vernachlässigt
würde, entstünde ein Vakuum der Zuständigkeit und einer Nichtwahrnehmung
von deutschen bzw. europäischen Interessen, „wie sie in den USA undenkbar
wäre“. Mit der jüngst vom „Hohen Vertreter der EU“,
Javier Solana vorgelegten ersten Sicherheitsstrategie der EU, wird auch dieses
Defizit bald überwunden sein und EU-Soldaten für Brüssel und europäische
Konzerne in den Krieg ziehen und auf dem Feld der Ehre sterben.
Hermann Werle ist Politikwissenschaftler, lebt in Berlin und arbeitet als
freier Autor für das MieterEcho, der Zeitung der Berliner Mieter Gemeinschaft.