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- weil er sie gar nicht will
- weil er auf großen Widerstand der miteinander politisch und ökonomisch
verstrickten bolivianischen Herrschaftsklasse stößt
- weil internationale Konzerne und vor allem die US-Regierung keinesfalls ein
neues Kuba zulassen wollen.
Der Fernsehjournalist Mesa hat bei seiner Antrittsrede zugesagt, auf die vielzähligen
Forderungen der Aufständischen einzugehen (Themen: Gasexport, Privatisierungen,
Freihandelszone ALCA, Kokaanbau, Landverteilungsgesetz INRA etc.), allerdings
ohne die Zusicherung, die entsprechenden Dekrete rückgängig zu machen.
Bei der Regierungsneubildung hat er auf Fachleute, die größten Teils
unabhängig von den Regierungsparteien sind, gesetzt und ein neues Ministerium
für Indigene Angelegenheiten geschaffen. Mesa und seine Unterstützer
sind jedoch überwiegend q’ara, d.h. nicht indigen und somit für
die rebellische, überwiegend indigene, Bevölkerung nicht sehr Vertrauens
erweckend, da die Ausbeutung und Unterdrückung der Einen durch die Anderen
Jahrhunderte lange Tradition hat. Trotzdem haben ihm die Oppositionsparteien MAS
[1] und MIP [2], sowie der
Gewerkschaftsdachverband COB, die Bauerndachgewerkschaft CSUTCB und die Kokabauern
zunächst ihre Unterstützung zugesagt, solange er und seine Regierung
den Forderungen nachgehen. Gewarnt wurde er bereits von Evo Morales (MAS), dem
Druck der US-Regierung nachzugeben. Die Abgeordneten der Regierungsparteien unterstrichen
ihre Kollaboration.
Noch bevor Mesa seine Antrittsrede hielt, bekam er Besuch von der nordamerikanischen
Botschaft. Die Herrschaften wollten wohl gleich klarstellen, wer das Sagen in
diesem Land hat. Eindeutiges Signal wird gewesen sein, dass Zugeständnisse
im Kokaanbau, Aufgabe der von den USA geschaffenen Freihandelszone ALCA mit all
den phantastischen ökonomischen Möglichkeiten [3]
oder gar Zulassen eines Dominoeffekts (siehe Venezuela, Ecuador, Brasilien ...)
keinesfalls geduldet, bzw. spürbare Konsequenzen nach sich ziehen werden.
Vor diesem Hintergrund war es nur klug, auf die von der Konstitution vorgesehenen
Amtszeit bis 2007 zu verzichten und gleich Neuwahlen – zu einem gegebenen
Zeitpunkt – anzukündigen.
In diesem Zeitraum liegt die Chance der aufständischen Bewegung:
Die im Parlament bereits vertretenen Oppositionsparteien MAS und MIP, die beide
keinesfalls unserem herkömmlichen Parteienbild entsprechen, sondern jeweils
eher ein Konglomerat verschiedener Basisorganisationen repräsentieren, müssen
mit ihren UnterstützerInnen konkrete Antworten erarbeiten.
Dabei ist eine wesentliche Voraussetzung die aktive Teilhabe der über 2/3
indigenen Bevölkerung an politischen Prozessen zu erreichen. Dies wird den
Bruch mit herkömmlichen „Regelungsinstitutionen“ (Bsp. Bürgerforen,
etc.) zur Folge haben, die eher die Funktion der Befragung oder Beeinflussung,
nicht aber Entscheidungscharakter besitzen.
Dies kostet jedoch alles viel Zeit und Geduld. Ob die Menschen, die unter Einsatz
ihres Lebens um ihre Rechte gekämpft haben, diese Periode des Erarbeitens,
die mit vielen Rückschlägen und vorübergehenden Kompromissen verbunden
sein wird, ohne Spaltung innerhalb der in den letzten Wochen erreichten Gemeinsamkeit
überstehen werden, ist eine offene Frage. Eine weitere ist, ob sich die US-Regierung
mit einem weiteren Kuba oder Venezuela abfindet oder auf ein neues Vietnam setzt.
Zehn Tage später ...
Der blutige bolivianische Oktober geht zu Ende. Der Präsident Carlos Mesa
reist durch’s Land und versucht die unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten
durch kleinere Zusagen (z.B. Autonomie der öffentlichen Universität
in El Alto) oder unklare Versprechen (Verquickung der Volksbefragung zum Gasexport
mit Autonomiebestrebungen der „reichen“ Landesteile, etc.) für
sich zu gewinnen. Repräsentanten des IWF und der Weltbank evaluieren die
ökonomische Situation Boliviens. Die US-Botschaft kündigt finanzielle
Hilfe an, macht sie jedoch vom strikten Befolgen der bisherigen neoliberalen Politik
abhängig.
Die Bitte des neuen Außenministers Juan Ignacio Siles an die OAS, bei der
Bildung der verfassungsgebenden Versammlung mitzuwirken, wurde von allen Parteien
– außer der Partei des Expräsidenten – mit Blick auf die
einseitige Positionierung der OAS für die Politik von Sánchez de Lozada
zurückgewiesen.
Während die nordamerikanische Regierung besorgt die Bewunderung vieler lateinamerikanischer
Länder für den erfolgreichen bolivianischen Aufstand beobachtet, sprach
das europäische Parlament am 23. Oktober dem bolivianischen Volk seine Unterstützung
aus, forderte die Bestrafung der Schuldigen, verweigerte dem Flüchtling Sánchez
de Lozada im voraus Asyl und ließ sich sogar dazu hinreißen, von der
Souveränität der Völker und ihrem Recht auf ihre Bodenschätze
zu sprechen. Hinter diesem solidarischen Verhalten, lassen sich wohl eher die
eigenen ökonomischen Interessen der EU-Länder in dieser Region vermuten.
Ein deutliches Zeichen setzte Brasilien, das Bolivien 50 Millionen Dollar an bilateralen
Schulden entließ und den Gasimport intensivieren will. Die MAS sieht darin
ein Beispiel, sich von der vorgeblich einzigen Möglichkeit des Gasverkaufs
an die USA zu lösen und die im MERCOSUR organisierten Nachbarländer
verstärkt in die Nutzung des bolivianischen Rohstoffs einzubeziehen.
Die Menschenrechtskommission des Abgeordnetenhauses begann mit der Aufklärung
der blutigen Vorkommnisse im Oktober und will bis Ende des Jahres einen Bericht
fertig stellen, der die Bestrafung der Verantwortlichen von Polizei, Militär
und Politik zum Ziel hat. Die MAS schlug vor, Sánchez de Lozada und seine
mit ihm in den USA lebenden Gefolgsleute zu enteignen, um die Familien der Opfer
zu entschädigen. Jedoch wurden Landlose bei der Besetzung eines der Ländereien
des Ex-Verteidigungsministers brutal von einer militärischen Einheit angegriffen,
für deren Einsatz jetzt niemand die Verantwortung übernehmen will.
Auf große Skepsis und teilweise klare Ablehnung stießen einige der
neu ernannten Minister oder Präfekten bei den Aufständischen, da sie
Handlanger der alten Regierung und Erfüllungsgehilfen der US-Botschaft seien,
so dass Carlos Mesa sich gezwungen sieht diesbezüglich noch Veränderungen
vorzunehmen.
Die Regierung von Carlos Mesa muss sich entscheiden, ob sie die Forderungen der
Aufständischen nicht nur überdenkt, sondern umsetzt und damit den Weg
für eine verfassungsgebende Versammlung unter Einbeziehung aller indigenen
Bevölkerungsgruppen freigibt, oder die bisherige Flickschusterei fortsetzt.
Sollte diese sich dann auch noch als taktisches Manöver herausstellen, um
die Bewegung zu zermürben – was bei dem überzeugten Neoliberalisten
Mesa zu erwarten ist –, muss längerfristig mit neuen Aufständen
gerechnet werden. Fußnoten:
1. Bewegung zum Sozialismus [back]
2. Indigene Bewegung Pachakuti [back]
3. Siehe Artikel zu ALCA auf dieser Website
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