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„Wir gehen an eurer Demokratie zugrunde“
junge Welt Wilhelm Langthaler 7.
Juni 2008
Gespräch mit Hanifullah Hanif. Über die Nato-Präsenz und den
wachsenden Widerstand in Afghanistan, den boomenden Drogenhandel und die korrupte
Karsai-Regierung sowie die Gewalt gegen Frauen und die Schwierigkeiten linker
Oppositionsarbeit
Hanifullah Hanif lebt in Kabul und ist aktiv in der antiimperialistischen
Gruppe „Radikale Linke Afghanistans“
Die Nato gibt mit ihrer Forderung nach Truppenaufstockung zu, dass
sie Probleme in Afghanistan hat. Wächst der Widerstand weiter an?
Der Widerstand – nicht nur der militärische – zieht immer
weitere Kreise. Von seinen Hochburgen im Südosten verbreitet er sich über
das ganze Land. Er ist nicht mehr nur von Paschtunen getragen, sondern wird von
den meisten Nationalitäten wie Tadschiken, Balutschen, Nuristanis usw. unterstützt.
Anfangs waren die USA und ihre Nato-Verbündeten optimistisch. Sie versprachen,
den Widerstand militärisch auszulöschen und hofften, damit auch die
politische Opposition mundtot machen zu können. Unter dem Vorwand, Demokratie
zu bringen, wurde in Kabul ein theokratisches und korruptes Marionettenregime
installiert, das kaum die Kraft zu eigenständigen Entscheidungen hat.
Armut, Preissteigerungen, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Instabilität
haben ein bisher unbekanntes Ausmaß erreicht. Selbst in der afghanischen
Hauptstadt und dem etwas besser gestellten Norden gibt es Familien, die sich
nicht mehr ernähren können und sich gezwungen sehen, sogar ihre Kinder
zu verkaufen. Im vergangenen Monat band eine junge Mutter in Kabul ihre zwei
Kinder an ihren Körper und ertränkte sich mit ihnen. Nach Auskunft
ihrer Nachbarn litten sie seit Wochen unter Hunger. Aber solche Berichte finden
keinen Platz in den westlichen Medien. Torab, ein afghanischer Gegenwartsdichter,
kommentiert das so: „Wir sterben hungers in eurer reichen Demokratie.“ Man
braucht sich nur die langen Schlangen vor der iranischen und pakistanischen Botschaft
zu vergegenwärtigen. Das sind alles Menschen, die hier keinen Lebensunterhalt
finden, und Arbeit im Ausland suchen.
Die sozialen Proteste will keiner hören. Wer es wagt, auf die Straße
zu gehen, wird als Al-Qaida-Terrorist abgestempelt und im besten Fall niedergeknüppelt.
Und die Karsai-Polizei zögert nicht, auch auf Unbewaffnete zu schießen
oder sie in den Gefängnissen verschwinden zu lassen. Für ganz gefährlich
befundene Oppositionelle werden schon mal in die US-Gefangenenlager Bagram oder
Kandahar überstellt. Erst Anfang Mai wurde im Zuge von Protesten der Schüler,
Studenten und Professoren in Kabul und vielen anderen Provinzen scharf geschossen.
Am Habibia-Gymnasium forderte das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte
sogar Todesopfer.
Vergangenes Jahr wurden 17 Häftlinge des Policharkhi-Gefängnisses,
die meisten von ihnen politische Gefangene, zum Tode verurteilt und auf persönlichen
Befehl Hamid Karsais hin im Oktober 2007 exekutiert. Etwa hundert weitere warten
auf ihre Hinrichtung. Laut einer Erklärung der Gefangenen der Policharkhi-Haftanstalt
verschwinden Insassen immer wieder über Nacht und kehren nicht mehr zurück.
Es wird der Verdacht ausgesprochen, dass sie ohne jedes Gerichtsverfahren im
Geheimen getötet werden.
Hinzu kommt der Krieg, der von Massakern an der Zivilbevölkerung begleitet
ist. Es bietet sich immer ein ähnliches Bild. Ein Dorf wird bombardiert
und dann mit Luftlandetruppen gestürmt. Danach gibt es eine Pressekonferenz,
auf der jubelnd verkündet wird, dass man Dutzende wenn nicht Hunderte Aufständische
getötet hätte. Aber letztlich stellt sich heraus, dass ein Großteil
der Opfer Frauen, Kinder und Zivilisten sind. Oder ein Fahrzeug eines ISAF-Konvois
wird angegriffen: Die Soldaten schießen wild um sich und töten zahlreiche
unbeteiligte Zivilisten.
Diese Kombination von stetiger Verschlechterung der Lebensbedingungen und Erhöhung
des militärischen Drucks auf große Teile der Bevölkerung führt
ganz natürlich dazu, dass der Widerstand anwächst.
Handelt es sich beim Widerstand vor allem um die Taliban und andere
islamistische Gruppen? Sind diese nur auf dem Land aktiv oder genießen sie auch in den
Städten Unterstützung? Bleibt der Widerstand vorwiegend paschtunisch
oder beteiligen sich nun auch die anderen Nationalitäten?
Wir wissen, dass die Schlagzeilen im Westen immer von den Taliban dominiert
werden. Doch das zeichnet ein falsches Bild. Erstens gibt es viele unterschiedliche
islamistische Gruppen. Zweitens beteiligen sich am Widerstand auch nationalistische,
patriotische, tribale, demokratische und auch linke Kräfte. Der Widerstand
ist heute sehr breit geworden. Er umfasst Land wie Stadt, Paschtunen und andere
Nationalitäten.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass die Taliban militärisch die
führende Kraft des Widerstands sind und es alle anderen Gruppen sehr schwer
haben.
In Deutschland versucht man, die Bevölkerung mit der Behauptung zu beruhigen,
dass die Situation im Norden, im Einsatzbereich der Bundeswehr, ruhig sei. Es
hat einige Anschläge gegeben, aber tatsächlich scheint der Widerstand
viel schwächer. Wird sich das auf absehbare Zeit ändern?
Wenn alles so ruhig ist, warum entsendet die deutsche Regierung neue Truppen
und die Tornados? Die Situation ist keineswegs so wie vor fünf Jahren. Es
gibt mittlerweile auch im Norden offene Opposition, Straßendemonstrationen
und militärische Angriffe sowohl gegen Nato-Ziele wie gegen Regierungskräfte.
Gerade in Kundus und Badakhshan, wo deutsche Truppen an Massakern beteiligt waren,
manifestiert sich der Hass der Zivilbevölkerung. Es kommt auch regelmäßig
zu Angriffen auf die deutschen Truppen. Diese können sich nicht mehr frei
bewegen und bedürfen spezieller Konvois mit Hubschrauberunterstützung.
Das gleiche gilt für die sogenannten Nichtregierungsorganisationen, die
sich nur mehr per Luft bewegen können. Die Karsai-Regierung hat die Kontrolle über
die Straßen verloren.
Die Provinzen Badakhshan und Takhar mit einer Mehrheit von Tadschiken und Usbeken
sind seit der Taliban-Herrschaft als deren Hochburgen bekannt. Kundus gilt als
Einflußbereich der Partei Hekmatyars. Alle sind der Nato gegenüber
sehr feindlich eingestellt.
Die Paschtunen stellen im Norden nur eine Minderheit, konzentriert auf einige
Landstriche. Hat das Einfluss auf die Situation?
Weder beschränkt sich der Widerstand auf die Paschtunen noch auf die
Taliban. Auf der anderen Seite verfügen die Taliban auch im Norden über
eine sehr starke Verankerung. In gewissen Situationen unserer Geschichte führte
die nationale Diversität zu Konflikten, die sich die Besatzer wie Briten
oder Sowjets zunutze machten. Aber die fremde Militärpräsenz und deren
Grausamkeit drängen auf der anderen Seite alle zum Widerstand und zum Zusammenschluss.
Unterscheiden Afghanen zwischen Amerikanern und Deutschen?
Vor 2002 hatte Deutschland einen guten Ruf dank der humanitären Projekte
in Afghanistan. Außerdem war Deutschland im Gegensatz zu den USA, England
oder Russland nie an Kriegen gegen unser Land beteiligt. Aber mit Unterstützung
des amerikanischen Überfalls und der Beteiligung an der Besatzung hat sich
das sehr schnell geändert. Heute werden Nato-Soldaten, egal woher sie stammen,
allgemein als „Angrizan“, als Engländer, und „Kaferan“,
als Ungläubige, bezeichnet.
Deutschland führt militärische Aufklärungsflüge für
die ISAF über ganz Afghanistan durch. Damit hilft es den Amerikanern, Kanadiern
und Holländer im Süden ihre Unterdrückungspolitik fortzusetzen.
Die politisierten Menschen nehmen sehr wohl wahr, wie sehr Deutschland unter
der Fuchtel der USA steht. Einmal kommentierte ein Gymnasiast bei einer politischen
Versammlung in Masar-i Sharif das so: „Nicht nur Afghanistan wird von den
USA unterworfen, sondern auch Deutschland, Frankreich und Italien. Daran lässt
sich die wahre Macht Washingtons erkennen.“
Die Bundesregierung behauptet, sie würde die Situation der afghanischen
Zivilbevölkerung durch die Errichtung von Brunnen, Straßen und Schulen
etc. verbessern. Ist das wahr?
Das ist eine sehr alte Behauptung, die von allen Besatzungsmächten zur
Rechtfertigung benutzt wurde und wird. Fast alle Nato-Staaten haben sogenannte
Provincial Reconstruction Teams, kurz: PRTs, gebildet. Diese sind Betrug. Tatsächlich
handelt es sich um die Deckung geheimdienstlicher Aktivitäten sowie um Propaganda.
Tatsächliche Aufbauhilfe beschränkt sich auf ein symbolisches Ausmaß.
Wenn Straßen gebaut werden, sollte man sich genau anschauen, wozu sie dienen.
Oft führen sie zu ihren Militärbasen. Oder es handelt sich um ein Verwaltungsgebäude
für die Karsai-Regierung oder ähnliches. Nur zehn Prozent der Einwohner
Kabuls haben Strom, und das nur für vier Stunden pro Tag. Wenn die Nato
ein Friedensengel ist, warum verbessert sich die soziale Lage nicht?
Es wird behauptet, die Nato bekämpfe die Drogenhändler. Auf der
anderen Seite hört man immer wieder, dass der Bruder von Präsident
Hamid Karsai einer der größten Drogenbarone ist. Was ist an den Vorwürfen
dran?
Nicht nur Ahmed Wali Karsai, sondern auch andere Minister, Gouverneure und
Kommandanten sind direkt oder indirekt am Drogengeschäft beteiligt. Sie
füllen mit den Gewinnen nicht nur ihre eigenen Taschen, sondern schmieren
gemeinsam mit ihren westlichen Partnern damit auch die Kriegsmaschine. Man braucht
sich nur all die neu entstehenden Paläste in Shirpoor nahe dem Kabuler Botschaftsviertel
anzusehen. Sie gehören vorwiegend den Drogenbossen.
Aber auch die ISAF, insbesondere die USA und Großbritannien, sind an diesem
profitablen Geschäft beteiligt. Es sind ihre Hubschrauber, die die heiße
Ladung außer Landes bringen. Die Opiumbauern selbst können sich oft
nicht einmal eine einfache Busfahrt nach Kabul leisten, geschweige denn einen
Drogentransport finanzieren. Wenn die Behauptung wahr wäre, die Nato kämpfe
gegen den Drogenhandel, warum steigt der Export von Jahr zu Jahr? Unter der Herrschaft
der Taliban 2001 sprach man von 185 Tonnen, heute sollen es an die 9000 sein.
Bisweilen wird auch behauptet, der Nato-Militäreinsatz diene
der Durchsetzung von Frauenrechten.
Diese Kampagne entspricht etwa im gleichen Ausmaß der Realität
wie jene gegen den Drogenhandel. Die „Nichtregierungsorganisationen“,
die weitgehend unter westlichem Einfluss stehen, zeigen in ihren Berichten, dass
die Zahl der Misshandlungen gegen Frauen gegenüber der Taliban-Zeit nicht
gesunken ist. Frauenrechte werden noch immer mit Füßen getreten, selbst
von den Behörden, die ja von der Nato im Amt gehalten werden. Laut Fawzia
Kofi, einer weiblichen Parlamentarierin, die in diesem Jahr das Policharkhi-Gefängnis
besuchen durfte, wurden in diesem viele Frauen und Mädchen sexuell missbraucht.
Einige von ihnen sind nun schwanger. Und das ist nur die Spitze des Eisberges.
Die Nato hat überhaupt kein Interesse, gegen die Kriegsherren und lokalen
Regierungsstellen vorzugehen, die sich Verbrechen gegenüber Frauen schuldig
machen, denn es sind ihre Verbündeten. Malai Joya, eine andere Abgeordnete,
die sich für Frauenrechte einsetzte, wurde von den Nato-Verbündeten
sogar aus dem Parlament geworfen.
Man darf nicht vergessen, dass es sich bei den heutigen Machthabern ebenfalls
um islamische Fundamentalisten handelt, die von Demokratie und Frauenrechten
nichts wissen wollen. Der Westen verschweigt deren Verbrechen schlichtweg.
Gibt es in Afghanistan noch Kommunisten oder Linke? Haben sie eine ähnliche
Position wie die Irakische KP, die, um Saddam Hussein loszuwerden, die US-Invasion
unterstützte?
Die afghanische Linke hat eine große Geschichte, und ich denke, dass es
auch heute ein Potential für sie gibt. Aber auf der anderen Seite ist die
Repression sehr hart. Die verschiedenen Gruppen der revolutionären Linken
wie die „Radikale Linke Afghanistans“, die „Kommunistische
Partei Afghanistans“, die „Sozialistische Assoziation Afghanistans“,
die verschiedenen Splittergruppen der „Afghanischen Befreiungsorganisation“ (RAHAE),
einige Komponenten der „Volksbefreiungsorganisation“ (SAMA), die „Sozialistische
Arbeiterorganisation“, die „Radikale Revolutionäre Jugend“ lehnen
die Besatzung ab und engagieren sich im Widerstand. In Kabul, Jalalabad, Takhar
und Farah gab es Straßenproteste gegen die Besatzung, an denen die Linke
aktiv teilnahm. Seit den Unruhen 2005 in Jalalabad sitzt einer unserer Genossen
in Bagram. Seine Familie befasste das Internationale Komitee vom Roten Kreuz
mit dem Fall, aber bisher konnte kein Kontakt zu ihm hergestellt werden.
Es gibt indes auch sogenannte Linke, die mit dem Karsai-Regime, der USA und der
Nato kooperieren. Das findet sich auch etwas nuanciert bei jenen, die die Marionettenregierung
zwar ablehnen, aber gleichzeitig auch den Widerstand gegen die Invasoren verdammen,
weil die reaktionären Taliban Teil desselben sind.
Wir rufen jedenfalls alle friedliebenden Menschen auf der Welt auf, eine schlagkräftige
Bewegung für den Rückzug der Besatzungstruppen aus Afghanistan aufzubauen
und unseren Widerstand zu unterstützen.
Wie ist Ihr Verhältnis zum islamischen Widerstand? Ist eine Kooperation
wie im Irak möglich? Gibt es gegenseitige Toleranz oder befinden sich die
Gruppen in einem Zweifrontenkrieg?
Eine Koordination zwischen Taliban und der antiimperialistischen Linken gibt
es nicht. Ein Blick in die Geschichte unseres Landes zeigt, dass selbst Kräfte
mit ähnlichem politischen Profil sich nicht tolerierten. Wenn einer die
Macht zu fassen bekommt, unterdrückt er den anderen auch mit physischer
Gewalt. Das war so zu Zeiten der prosowjetischen Regierung, der Mudschaheddin,
der Taliban und gilt bis heute.
Wir versuchen, mit jenen Kräften des Widerstands zusammenzuarbeiten, die
patriotisch, nationalistisch, demokratisch und links sind. Das ist auch möglich.
Die Taliban sind für uns und unser Volk aufgrund ihrer dunklen Vergangenheit
und ihres reaktionären Charakters keine Alternative. Die Unterstützung,
die sie derzeit genießen, verdanken sie ihrem entschiedenen militärischen
Widerstand gegen die Besatzer. Aber es gibt auch einen Flügel unter ihnen,
der zur Kollaboration bereit wäre und der von den westlichen Geheimdiensten
intensiv bearbeitet wird.
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