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Rohstoffimperialismus
junge Welt Conrad Schuhler 7. Juni 2008


Das Great Game um Afghanistan

Conrad Schuhler ist Publizist in München

Erstens. Grundlagen: Schlagworte wie „Wissens“- oder „postindustrielle Gesellschaft“ verdunkeln bisweilen die Tatsache, dass die Marxsche Erkenntnis, wonach der stoffliche Reichtum einer Gesellschaft stets auf der Verbindung von zwei Elementen beruht, nämlich der Arbeit und den Stoffen der Natur, nach wie vor ihre Gültigkeit hat.

Kein Auto ohne einen ganzen Katalog von Metallen; kein Computerchip ohne Silizium oder Kupfer; kein Flugzeug oder Kraftwerk ohne Nickel. Die meisten Kunststoffe brauchen Rohöl. Chemie und Elektrotechnik verwenden Silber. Massenkommunikations- und Transportmittel beruhen wie die Mehrzahl der Maschinen in Produktion und Haushalt auf Energie. Die Energieträger bilden die grundlegende Basis der modernen Wirtschaftsweise.

Rechnet man die Verbrauchszahlen auf den durchschnittlichen Deutschen um, dann verbraucht dieser im Laufe seines Lebens: 225 Tonnen Braun- und Steinkohle, 116 Tonnen Mineralöl, 40 Tonnen Stahl, 1,1 Tonnen Kupfer und 200 Kilogramm Schwefel.

Zweitens. Rohstoffe werden knapper und teurer. Der moderne Wachstumskapitalismus hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr Rohstoffe verbraucht als die Menschheit in ihrer gesamten Geschichte zuvor. Die moderne kapitalistische Lebensweise mit ihrem ungebremsten Rohstoffverbrauch trifft auf die Tatsache der Endlichkeit, der Erschöpfbarkeit der meisten Rohstoffe. Dies gilt vor allem für den wichtigsten Rohstoff, die Energieträger. Im nächsten Jahrzehnt soll nach den Berechnungen der meisten Experten der Peak, der Gipfel der Erdölproduktion, erreicht sein. Ab dann werden die Quellen knapper und die Förderung teurer.

Die wachsende Nachfrage und Strategien der „künstlichen“ Verknappung und der Naturzerstörung haben schon in den letzten Jahren zu gewaltigen Preissprüngen geführt. Nimmt man alle Rohstoffe zusammen – Energie, Edelmetalle, Industriemetalle, soft commodities (Nahrungsmittel) – dann haben sich die Preise von 2001 auf 2008 um fast das Dreifache erhöht. Die Preise für Getreide haben sich 2007 verdoppelt. Rohöl ist von Anfang 2008 bis Mai 2008 um 30 Prozent teurer geworden.

Drittens. Die Industrieländer, die am meisten verbrauchen, haben nur geringe eigene Vorkommen. Eine Übersicht über die Vorkommen erweist, dass der Großteil der Rohstoffe sich in den Ländern der armen Welt bzw. in den Schwellenländern befindet. Von den Industriestaaten verfügen nur die USA über größere Ressourcen, die jedoch in der Regel weit unter dem Niveau des Eigenverbrauchs der USA liegen. Der größte Goldförderer zum Beispiel ist Südafrika. Beim Eisenerz führen China und Brasilien, beim Kupfer liegt Chile vorn. Vor allem auch bei der strategischen Ressource Erdöl sind die USA (Anteil Eigenförderung: 33 Prozent) und EU-Europa (Anteil Eigenförderung 37 Prozent) auf den Zugriff auf die globalen Reserven „angewiesen“.

Viertens. Was die Konkurrenz um die knapper werden Ressourcen verschärft: Das schnelle Wachstum der Schwellenländer. Nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds wird sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Chinas bis 2050 fast um das Fünffache vergrößern. Die gesicherten Erdölreserven Chinas würden aber nicht einmal für zehn Jahre des jetzigen Verbrauchs ausreichen. Ähnliches gilt für Indien, dessen BIP nach den Prognosen sogar um das Siebenfache wachsen soll, ohne dass es über nennenswerte Ölreserven verfügt.

Bedenkt man, dass das BIP der USA im genannten Zeitraum um das Dreifache, das der EU immer noch um die Hälfte steigen soll, dann müssen wir von einem sich zuspitzenden Kampf um Öl, den Rohstoff Nummer eins, ausgehen.

Noch ein verschärfender Faktor: Die Ölreserven liegen meist in Ländern, die den USA und ihren EU-Partnern politisch als „instabil“ oder sogar als „feindlich“ oder „missraten“ gelten.

Die sieben Länder bzw. Regionen mit den mit Abstand größten Ölreserven sind: Saudi-Arabien, Irak, Kuwait, Vereinigte Arabische Emirate, Iran, Venezuela, Russland und die früheren kaspischen Sowjetrepubliken. Die arabischen Feudalstaaten sind innerlich morsch, zum Teil islamistisch-fundamentalistisch, offen und aggressiv undemokratisch. Iran und Irak gehörten bzw. gehören zur „Achse des Bösen“, Venezuela bildet das Hauptgewicht gegen die USA in Lateinamerika. Russland entwickelt sich immer mehr – neben China – zum weltpolitischen Gegenspieler des „Westens“. Die kaspischen Staaten sind ohne die Hilfe von CIA und Nato nicht auf westfreundlichen Kurs zu bringen.

Fünftens. Die Umstellung der Militärdoktrinen auf „Sicherheit des Welthandels“ und der Öl/Energieversorgung. Die sichere Rohstoffversorgung – wozu auch der weltweite Transport per Pipelines, Tanker und so weiter gehört – wurde in den letzten Jahren in den USA/Nato wie auch parallel und komplementär in EU-Europa und Deutschland in den Mittelpunkt der Militärdoktrinen und -organisationen gerückt.

1999 (noch mit US-Präsident Clinton) wurde die militärische Funktion der Nato um den „Auftrag zur Krisenbewältigung“ erweitert. Eine solche Krise ist ausdrücklich gegeben bei der „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“. Im US National Energy Report vom Juni 2001 (also noch vor dem 11. September 2001) heißt es: „Wir sehen es als unseren Auftrag an, die Schaffung von Energiesicherheit zur obersten Priorität unserer Außenhandels- und Außenpolitik zu machen“. In der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ vom September 2002 wird der Zugang zum Öl des Persischen Golfes als für die Sicherheit der USA von entscheidender Bedeutung bezeichnet: „Falls erforderlich werden wir diese Interessen auch mit militärischer Gewalt verteidigen.“

Entsprechend der neuen Doktrin wird die US-Armee zu einer globalen Interventionsarmee umgebaut. Die Nato wird im selben Stil reorganisiert, ihre Nato Response Force verfügte bis Ende 2006 über schnelle Eingreiftruppen von 25000 Männern und Frauen.

Das US-Central Command (Centcom ist die größte der fünf Kommandozonen, in die die USA die Welt aufgeteilt haben) ist verantwortlich für 26 Länder von Zentralasien bis Ostafrika (seit letztem Jahr ist Afrika, mit Ausnahme Ägyptens, in ein eigenes Africom überführt). In dem Gebiet von Centcom liegen 70 Prozent der Ölreserven der Erde.

Deutschland wie auch die EU haben in denselben Jahren dieselbe Entwicklung genommen. Im Weißbuch der Bundeswehr 1994 wird der Begriff der Verteidigung ersetzt durch „Krisenbewältigung“. Dementsprechend sollen „Krisenreaktionskräfte“ aufgebaut werden. Im Weißbuch der Bundeswehr 2006 wird eine sichere Energieversorgung in den Mittelpunkt gerückt: „Energiefragen werden künftig für die globale Sicherheit eine immer wichtigere Rolle spielen“. Für die EU gelten dieselben Prioritäten der Energiesicherheit. Im European Defence Paper – im Auftrag der EU erstellt – wird gefordert, so schnell wie möglich 150 000 bis 200 000 Soldatinnen und Soldaten permanent für Auslandseinsätze zur Verfügung zu stellen.

Die USA mit der Nato auf der einen und die EU und Deutschland auf der anderen Seite führen ihren Kampf um „Energiesicherheit“ (bisher) nicht etwa gegeneinander, sondern im engen Verbund abgestimmt. So „berichtet“ zum Beispiel die ISAF wie die Operation Enduring Freedom in Afghanistan – an beiden sind Bundeswehrtruppen beteiligt – an US Centcom. Die elf Auslandseinsätze der Bundeswehr 2007 fanden allesamt in enger Koordination, oft unter gemeinsamen Kommando, mit den US-Militärs statt.

Sechstens. Im Great Game um Afghanistan treffen die globalen Gegenspieler aufeinander. Beim Transport von Öl und Gas aus den kaspischen Staaten und Iran nach Pakistan, Indien, China und zum Arabischen Meer spielt Afghanistan als Durchgangsland ebenso eine entscheidende Rolle wie für die allgemeine Kontrolle Zentralasiens. Afghanistan grenzt an Pakistan, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und China. Der Westen unter Führung der USA hat sich militärisch in der Region umfangreich positioniert. Iran, der noch nicht unter Kontrolle gebracht worden ist, wird von den US-Militärprovinzen Irak im Westen und Afghanistan im Osten eingeklammert. Ein Rückzug aus diesen Gebieten wäre für das zentrale wirtschaftspolitische und militärische Dogma der „Energiesicherheit“ ein herber Rückschlag. Dies wird von der deutschen Politik genauso gesehen. Unsere Sicherheit wird auch am Hindukusch verteidigt, sagte der damalige Verteidigungsminister Struck. Deutschland stellt hinter den USA und Großbritannien das drittgrößte ISAF-Kontingent. Es gibt, bei allen Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen, eine globale sicherheitspolitische Allianz der westlichen Industriestaaten gerade im Hinblick auf die „Energiesicherheit“.

Ihnen gegenüber stehen im „Großen Spiel“ heute die neuen Global Player, die sich zunehmend dem Diktat von USA-EU widersetzen. In der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) haben sich China, Russland, Usbekistan, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan zusammengefunden. Staaten mit Beobachterstatus sind die Mongolei, Indien und Pakistan. Die SCO ist mit einem Viertel der Weltbevölkerung die größte Regionalorganisation der Welt. Die Organisation ist u.a. dabei, ein regionales Antiterrornetzwerk einzurichten und hat bereits zwei Antiterror-Großmanöver – sowohl in China wie in Russland – durchgeführt. Nimmt man die Zusammenarbeit im Rahmen der BRIC-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China – hinzu, die unter anderem gegen den US-Boykott regen Handel mit Iran betreiben, dann wird noch offensichtlicher, dass das „Great Game“ um Afghanistan nicht nur wegen der fehlschlagenden militärischen Besatzung durch die USA und ihre Alliierten noch offen ist.
 7. Juni 2008