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Die Welt als Schachbrett
Hauke Ritz junge Welt
28. und 30. Juni
2008
Der neue Kalte Krieg des
Obama-Beraters Zbigniew Brzezinski
Der 1928 in Warschau geborene Zbigniew Brzezinski gilt neben Henry M. Kissinger
und Samuel P. Huntington als graue Eminenz unter den US-Geostrategen. Er
trägt durch seine Beratertätigkeit für US-Präsident James
Carter von 1977 bis 1981 unter anderem eine Mitverantwortung an der Talibanisierung
Afghanistans, unterstützten die Vereinigten Staaten doch die Mudschaheddin
massiv im Kampf gegen die UdSSR. Nach Brzezinskis Bekunden wollten die USA die
Sowjetunion in die „afghanische Falle“ locken und ihnen so „ihr
Vietnam“ bereiten.
Heute ist er Professor für Amerikanische Außenpolitik an der Johns-Hopkins-Universität
in Baltimore, Berater am Zentrum für Strategische und Internationale Studien
(CSIS) in Washington D.C. und Verfasser von politischen Sachbüchern. Daneben
betätigt sich Brzezinski als Berater für mehrere große US-amerikanische
und internationale Unternehmen. Unlängst geriet er wieder in die Schlagzeilen,
als über die Medien verbreitet wurde, dass er in das außenpolitische
Team des US-Präsidentschaftskandidaten Barack Obama eingetreten ist.
In dem folgenden Artikel untersucht Hauke Ritz die geopolitischen Konzepte Brzezinskis.
Der jW-Beitrag ist die stark gekürzte Fassung eines Textes aus „Quo
vadis, Amerika? Die Welt nach Bush“. Das 288 Seiten umfassende Buch
mit 24 Beiträgen von unter anderem Norman Birnbaum, Saskia Sassen und
Immanuel Wallerstein ist soeben im Verlag der Blätter für deutsche
und internationale Politik erschienen und kostet zwölf Euro (blaetter.de).
(jW)
Die politischen Zyklen der westlichen Welt sind eng verknüpft mit den
Amtszeiten amerikanischer Präsidenten. Mit jedem neuen US-Präsidenten
verändert die Welt ein wenig ihren Charakter. So war die Präsidentschaft
William Clintons mit einer optimistisch nach außen vertretenen Globalisierung
verbunden. Was im Heimatland des Imperiums eine riesige Finanzblase erzeugte,
führte allerdings von Südostasien über Russland bis Argentinien
zu einer ganzen Reihe von tragischen Wirtschaftskrisen. Die Amtszeit George W.
Bushs war eng verknüpft mit dem „Krieg gegen den Terror“. Der
selbsternannte Kriegspräsident gewöhnte die Welt an die Wiedereinführung
von Folter und geheimen Gefängnissen. Nach acht Jahren Amtszeit ist das
internationale Ansehen der Vereinigten Staaten stark beschädigt und beschränkt
zunehmend auch den Bewegungsspielraum US-amerikanischer Außenpolitik.
Nun bereiten sich die Vereinigten Staaten erneut auf einen Regierungswechsel
vor. Man fragt sich, welcher Flügel der Elite nun an die Macht kommen wird
und womit die Welt als nächstes zu rechnen hat. Vieles deutet darauf hin,
dass Barack Obama die besten Aussichten hat. Umso mehr stellt sich die Frage,
wie der von ihm propagierte „Wandel“ aussehen wird.
Obama wird von dem Multimilliardär Georg Soros und dem ehemaligen Sicherheitsberater
unter Präsident James Carter, Zbigniew Brzezinski, unterstützt. Brzezinski
ist zugleich als außenpolitischer Berater Obamas tätig. Als graue
Eminenz unter den US-Geostrategen verkörpert er die Sichtweisen und Interessen
eines ganzen Flügels der amerikanischen Elite. Aufgrund seines intellektuellen
Ranges muss sein Einfluss sehr hoch veranschlagt werden.
Hinzu kommt noch, dass Zbigniew Brzezinskis Tochter, die Fernsehmoderatorin Mika
Brzezinski, Obama unterstützt, während ihr Bruder Mark Brzezinski zu
den Beratern Obamas gehört. Vieles spricht deshalb dafür, dass in einer
Präsidentschaft Obamas die geopolitischen Vorstellungen der „Brzezinski-Fraktion“ zum
Tragen kommen.
Zbigniew Brzezinski gilt neben Henry Kissinger als der führende Stratege
US-amerikanischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert. In seinem jüngsten
Buch „Second Chance“ aus dem Sommer 2007 unterzieht er die Regierungen
Bush I, Clinton und Bush II einer fundamentalen Kritik. Nach seiner Ansicht haben
sie die Chance unzureichend genutzt, nach dem Zusammenbruch der UdSSR ein System
dauerhafter amerikanischer Vorherrschaft zu errichten. Er schlägt deshalb
vor, die unilaterale Politik einzuschränken und verstärkt auf Kooperationen
und Absprachen mit Europa und China zu setzen. Auch mit Syrien, Iran und Venezuela
sollen Verhandlungen aufgenommen werden – ganz wie Barack Obama dies
bereits angekündigt hat. Zugleich soll jedoch Russland isoliert und möglicherweise
auch destabilisiert werden.
Die wesentliche Differenz zwischen Brzezinski und den Neokonservativen besteht
im Verhältnis zum Islam und zu Israel. Brzezinski setzt sich für eine
konstruktive Lösung des Israel-Palästina-Konfliktes ein. Als klassischem
Geopolitiker sind ihm, anders als Bush junior, religiöse Motive fremd. In
jüngster Zeit trat er zudem als Kritiker einer Politik auf, die sich auf
einem Kampf der Kulturen begründet. Doch diese Differenzen dürfen nicht
darüber hinwegtäuschen, dass sich Brzezinski hinsichtlich des Ziels
amerikanischer Vorherrschaft mit den Neokonservativen einig ist.
Glaubten die Neocons, das Ziel der US-amerikanischen Hegemonie durch die direkte
militärische Kontrolle der Ölvorräte des Nahen Ostens zu erreichen,
so könnte sich unter einer von Brzezinski beeinflussten Präsidentschaft
Obamas der Schwerpunkt amerikanischer Außenpolitik auf die aufsteigenden
Rivalen Russland und China verlagern. Eine von Brzezinski beeinflusste Politik
Obamas hätte zum vorrangigen Ziel, eine weitere Vertiefung der Bündnisbeziehungen
zwischen beiden Staaten, wie sie sich in der Shanghai Cooperation Organisation
(SCO) vorbereiten, zu verhindern. Ziel wäre es, China durch spezielle Angebote
aus dem Bündnis zu lösen – und Russland zu isolieren. [...]
Die „Zweite Chance“
Das 1997 veröffentlichte Buch „The Grand Chessboard“ (Das
große Schachbrett), Brzezinskis Hauptwerk, gewährt einen tiefen Einblick
in die langfristigen Interessen US-amerikanischer Machtpolitik. Es enthält
einen analytischen Abriß der geopolitischen Zielsetzungen der Vereinigten
Staaten für einen Zeitraum von 30 Jahren.
In der deutschen Übersetzung heißt das Buch „Die einzige Weltmacht“. [1]
Dieser Titel bezeichnet den ersten Grundsatz, nämlich den erklärten
Willen, die „einzige“ und – wie Brzezinski es nennt – sogar „letzte“ Weltmacht
zu sein. Noch entscheidender ist jedoch die zweite Prämisse. Derzufolge
ist Eurasien „das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft
auch in Zukunft ausgetragen wird“. (S. 57)
Diesem zweiten Grundsatz liegt die Einschätzung zugrunde, dass eine Macht,
die in Eurasien die Vorherrschaft gewinnt, damit auch die Vorherrschaft über
die gesamte übrige Welt gewonnen hätte. „Dieses riesige, merkwürdig
geformte eurasische Schachbrett – das sich von Lissabon bis Wladiwostok
erstreckt – ist der Schauplatz des global play“ (S. 54), wobei „eine
Dominanz auf dem gesamten eurasischen Kontinent noch heute die Voraussetzung
für globale Vormachtstellung ist“. (S. 64) Und zwar einfach deshalb,
weil Eurasien der mit Abstand größte Kontinent ist, auf dem 75 Prozent
der Weltbevölkerung leben und der drei Viertel der weltweit bekannten Energievorkommen
beherbergt. [...]
Brzezinski kommt [...] zu dem Schluss, dass das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik
darin bestehen muss, „dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die
Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder
auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen.“ (S. 283)
Es gelte, „die Gefahr eines plötzlichen Aufstiegs einer neuen Macht
erfolgreich“ hinauszuschieben. (S. 304) Die USA verfolgen das
Ziel, „die beherrschende Stellung Amerikas für noch mindestens eine
Generation und vorzugsweise länger zu bewahren“. Sie müssen „das
Emporkommen eines Rivalen um die Macht (...) vereiteln“. (S. 306)
Diese Äußerungen klingen zehn Jahre nach Erscheinen des Buches und
nach dem Scheitern der Bush-Regierung außerordentlich fragwürdig.
In seinem jüngsten Buch erkennt Brzezinski jedoch eine „zweite Chance“,
das Bemühen um eine dauerhafte amerikanische Vorherrschaft umzusetzen. Dies
wird besonders deutlich an der Rolle, die Brzezinski – ganz wie Obama – damals
wie heute Europa zuspricht. Ein transatlantisch orientiertes Europa habe für
die USA die Funktion eines Brückenkopfes auf dem eurasischen Kontinent (S. 91).
Gemäß dieser Logik würde eine EU-Erweiterung nach Osten zwangsläufig
auch eine Osterweiterung der Nato nach sich ziehen. Diese wiederum – so
die Idee – soll den amerikanischen Einfluss weit nach Zentralasien
ausdehnen und einen Machtvorsprung gegenüber Konkurrenten sichern: „Amerikas
zentrales geostrategisches Ziel in Europa lässt sich also ganz einfach zusammenfassen:
Durch eine glaubwürdigere transatlantische Partnerschaft muss der Brückenkopf
der USA auf dem eurasischen Kontinent so gefestigt werden, dass ein wachsendes
Europa ein brauchbares Sprungbrett werden kann, von dem aus sich eine internationale
Ordnung der Demokratie und Zusammenarbeit nach Eurasien hinein ausbreiten lässt“ (S. 129).
Brzezinski war sich jedoch bereits 1997 bewusst, dass auch bei erfolgreicher
Umsetzung dieses Plans die Weltmachtposition der USA nur von kurzer Dauer sein
kann. Warnend schreibt er an anderer Stelle: „Amerika als die führende
Weltmacht hat nur eine kurze historische Chance. Der relative Frieden, der derzeit
auf der Welt herrscht, könnte kurzlebig sein“ (S. 303).
Deshalb definiert er als langfristiges Ziel des Machterhalts die Fähigkeit, „ein
dauerhaftes Rahmenwerk globaler geopolitischer Zusammenarbeit zu schmieden“. (S. 305)
Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem „transeurasischen Sicherheitssystem
(TSEE)“ (S. 297), das über die Grenzen einer nach Zentralasien
erweiterten Nato hinaus Kooperationen mit Russland, China und Japan beinhalten
würde. Europa käme dabei die Rolle eines „Eckpfeilers einer unter
amerikanischer Schirmherrschaft stehenden größeren eurasischen Sicherheits-
und Kooperationsstruktur“ (S. 91) zu.
Doch was ist mit diesem transeurasischen Sicherheitssystem konkret gemeint? Deutlicher
könnte dies in Verbindung mit den Positionen anderer Strategen und Staatsmänner
werden. Tatsächlich fällt ein interessantes Licht auf Brzezinskis Ziele,
wenn man sie mit Äußerungen des russischen Präsidenten Wladimir
Putin in seiner Rede auf der Münchner „Sicherheitskonferenz“ am
10. Februar 2007 konfrontiert. Putin wandte sich darin gegen die von den
USA nach dem Kalten Krieg favorisierte Geopolitik, die seiner Ansicht nach eine „unipolare
Welt“ anstrebe: „In wie freundlichen Farben auch immer man (eine
solche unipolare Welt – H. R.) ausmalen mag, letztlich bezieht sich
der Terminus auf eine bestimmte Situation, in der es ein Zentrum der Staatsgewalt,
ein Machtzentrum und ein Entscheidungszentrum gibt. Das ist eine Welt, in der
es einen Herrn gibt, einen Souverän.“
Und weiter heißt es: „Was gegenwärtig in der Welt geschieht,
ist eine Folge der Versuche, genau dieses Konzept, das Konzept einer unipolaren
Welt, in die internationalen Beziehungen zu tragen. (...) Gegenwärtig
erleben wir eine fast unbeschränkte, übermäßige Anwendung
von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen
Beziehungen, einer Gewalt, die die Welt in einen Abgrund permanenter Konflikte
stürzt. (...) Politische Lösungen zu finden, wird gleichfalls unmöglich. (...)
Ein Staat – und dabei spreche ich natürlich zunächst und
vor allem von den Vereinigten Staaten – hat seine nationalen Grenzen
in jeder Hinsicht überschritten.“ [2]
Aus russischer Sicht ist die langfristige Strategie amerikanischer Außenpolitik
gerade unter geopolitischen Gesichtspunkten eindeutig: Wie von Brzezinski vorgeschlagen,
streben die USA an, ihren Einfluss auf dem asiatischen Kontinent immer weiter
auszudehnen. Dabei dient ihnen Europa als Sprungbrett auf dem eurasischen Kontinent.
Da jede Osterweiterung der Europäischen Union unter den gegebenen Umständen
zugleich auch den amerikanischen Einfluss ausdehnt, sollen durch eine Kombination
aus EU-Osterweiterung und Expansion der Nato viele der ehemaligen Sowjetrepubliken – wie
zum Beispiel Georgien, Aserbaidschan, Ukraine und Usbekistan – in
die westliche Einflusszone integriert werden.
Maßgeblich für diese Integration ist, dass sich ein Land für
ausländisches Kapital öffnet und an das westliche Rechtsverständnis
anpasst. Geschieht dies, dann ist es westlichen Konzernen möglich, sich
die Rohstoffvorkommen zu sichern und über die Medien Einfluss auf die Öffentlichkeit
eines Landes zu gewinnen.
Zentrale Bedeutung kommt dabei der Region um das Kaspische Meer zu. Da diese über
die zweitgrößten Öl- und Gasreserven verfügt und zudem militärstrategisch
von besonderer Bedeutung ist, würde eine westliche Vormachtstellung in dieser
Region die Position der USA auf dem eurasischen Kontinent massiv stärken.
Zusammen mit der Kontrolle der US-verbündeten OPEC-Staaten Kuwait, Saudi-Arabien,
Vereinigte Arabische Emirate, Katar und den eroberten Staaten Irak und Afghanistan
würde sie einer Vorherrschaft der USA über Zentralasien die nötige
Autorität verleihen, um von dort schließlich ganz Eurasien, einschließlich
Chinas und Russlands, in eine von den USA entworfene überstaatliche Sicherheitsstruktur
zu integrieren.
Die von Europa ausgehende Nato-Osterweiterung und die von der Bush-Regierung
im Süden Eurasiens (Irak, Afghanistan) begonnenen militärischen Interventionen
bilden zusammen gewissermaßen einen Keil, mit dem die USA in das Herz der
eurasischen Landmasse vorstoßen. Gelingt es den USA tatsächlich, dieses
Ziel zunächst in Eurasien zu erreichen, wäre die hergestellte Ordnung
aufgrund der Größe und Bedeutung des eurasischen Kontinents paradigmatisch
für die gesamte übrige Welt. Lateinamerika, Afrika, Australien und
alle Inselstaaten wären, dem Brzezinski-Plan zufolge, gezwungen, sich einer
solchen Ordnung anzuschließen.
Die USA wären dann nicht nur die „einzige“, sondern – wie
Brzezinski es formuliert – auch die „letzte echte Supermacht“ (S. 307). [...]
Politik der Ausgrenzung
Seit Brzezinski diese Ziele formulierte, haben die USA einen starken Verlust
geopolitischer Macht erfahren. In seinem jüngsten Buch „Second Chance“ gibt
er offen zu, dass der Plan einer direkten militärischen Besetzung einiger
Länder des Nahen Ostens, wie sie den Neokonservativen vorschwebte, gescheitert
ist. [3] Doch diese Niederlage ist für Brzezinski nicht so massiv,
dass er die 1997 formulierten Pläne einer US-Vorherrschaft in Eurasien grundsätzlich
aufgeben möchte. Das Scheitern der direkten militärischen Machtausdehnung
im Süden Eurasiens bedeutet für ihn lediglich, dass nun die von Europa
ausgehende Osterweiterung der Nato an Priorität gewinnt. Dies bedeutet jedoch
einen massiven Vorstoß in die russische Einflusssphäre. Damit würde
nach dem Iran nun Russland ins Fadenkreuz der US-Geopolitik geraten.
Die unipolare Welt, vor der Putin vor einem Jahr auf der Münchner Sicherheitskonferenz
warnte, ist also keine Schimäre, sondern ein reales geopolitisches Projekt
der USA. Dies ist auch daran ersichtlich, dass die Vereinigten Staaten im Zuge
der Expansion der Nato nach Osten Tatsachen schaffen, ohne Russland und China
wirklich einzubeziehen bzw. deren Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen.
Insgesamt erleben wir in den letzten Jahren, vor allem seit dem 11. September
2001, eine starke Zunahme gewaltförmigen Handelns in den internationalen
Beziehungen. Insbesondere die USA legten wenig Wert auf internationale Absprachen
und Konsensbildung. Das Völkerrecht wurde durch das unilaterale Handeln
der USA zunehmend ausgehöhlt, während Institutionen wie die UNO geschwächt
worden sind. An ihre Stelle sind die sogenannten friedenserhaltenden Einsätze
der USA, EU oder Nato, zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien, getreten. Dabei
wird als selbstverständlich vorausgesetzt, dass das westliche Verteidigungsbündnis
oder westliche Staaten die gesamte Weltgemeinschaft vertreten können.
Mit dem unilateralen Handeln der USA geht die Zunahme gewalttätiger „Konfliktregulierung“ einher.
Man denke nur an die präventive Erstschlagdoktrin der USA und ihre Anwendung
im Irak-Krieg. Oder man führe sich den Einsatz von Uranmunition im Irak-
und Afghanistan-Krieg vor Augen, der – in der Presse weitgehend verschwiegen – in
beiden Kriegsgebieten die Missbildungsrate bei Säuglingen vervielfacht hat.
Zu nennen ist zudem die in die Wege geleitete Nato-Osterweiterung bis ans Kaspische
Meer, die Russland zwangsläufig beunruhigen muss.
Ähnlich verhält es sich mit der Stationierung eines Raketenschildes
nicht nur in Tschechien und Polen, sondern auch in weiteren an Russland angrenzenden
Regionen, und schließlich die von den USA vorangetriebene Aufrüstung
im Weltraum, von dessen strategischer Logik noch zu reden sein wird. [...]
All dies zeigt deutlich, dass die von den USA angestrebte Weltordnung nicht auf
Konsensbildung und demokratischen Absprachen beruht. Stattdessen lässt die
Politik nicht erst der Bush-Regierung die geopolitische Strategie erkennen, durch
Schaffung vollendeter Tatsachen einen Machtvorsprung vor Europa, China und Russland
zu gewinnen. Durch den drastischen Anstieg der Rüstungsausgaben seit 9/11,
die längst alle Rekorde des Kalten Krieges hinter sich gelassen haben, versuchen
die USA, einen technologisch uneinholbaren Vorsprung vor ihren Konkurrenten zu
erlangen. Diese Politik ist hochgefährlich, da sie notwendigerweise Gegenreaktionen
hervorruft und bereits jetzt ein neues Wettrüsten in Gang gesetzt hat. Und
es ist mehr als fraglich, ob dieser Politik ihre Gefährlichkeit genommen
werden kann, indem ein zukünftiger Präsident Obama mit China und Europa
Absprachen trifft, während er Russland, so er den Plänen Brzezinskis
Folge leistet, weiterhin einer verschärften militärischen Bedrohung
aussetzt.
Besonders deutlich wird diese Politik der Ausgrenzung Russlands am Beispiel der
strategischen Funktion des geplanten Raketenschildes. Dessen Stationierung in
Polen und Tschechien ist keineswegs dazu gedacht, iranische Raketen, wie vorgegeben,
abzufangen. Erstens verfügt der Iran gar nicht über Raketen mit einer
Reichweite von 5000 bis 8000 Kilometern. Zweitens ist die Entwicklung solcher
Lenkwaffen ein langwieriger Prozess, da von ersten Testflügen, die kaum
unbemerkt vonstatten gehen könnten, bis zur endgültigen Fertigstellung
Jahre vergehen. Und drittens, sollte der Raketenschild tatsächlich der Abwehr
iranischer Raketen dienen, so wäre der russische Kompromissvorschlag, ein
gemeinsames Abfangsystem in Aserbaidschan zu errichten, weit besser dafür
geeignet. Denn dort stationierte Abfangraketen könnten iranische Raketen
bereits am Beginn ihrer Flugbahn treffen und zerstören. [...]
Dass die USA diesen Kompromissvorschlag ausgeschlagen haben, lässt nur einen
Schluss zu: Der Raketenschild richtet sich in erster Linie nicht gegen den Iran,
sondern gegen Russland. Dies wird auch dadurch unterstrichen, dass die anderen
Basen des Raketenschildes ebenfalls in Grenzregionen zu Russland, wie beispielsweise
Alaska, stationiert sind. [...]
Der neue Kalte Krieg
Während des Kalten Krieges hatten sich beide Seiten stets darum bemüht,
eine nukleare Erstschlagkapazität zu erwerben. Diese bedeutet, dass eine
Seite in der Lage ist, die jeweils andere in einem Überraschungsangriff
zu enthaupten und sie somit der Fähigkeit zu berauben, einen Gegenschlag
auszuführen – etwa indem man entweder alle gegnerischen Atomwaffen
in einem Überraschungsschlag außer Gefecht setzt, die Kommandostrukturen
vollständig lahmlegt oder indem man einen Gegenschlag soweit zu begrenzen
vermag, dass es möglich ist, ihn erfolgreich abzuwehren.
An dieser Stelle kommt der Raketenschild ins Spiel. Seine strategische Bedeutung
besteht darin, jene paar Dutzend Raketen abzufangen, die Moskau nach einem amerikanischen Überraschungsangriff
noch für einen Zweitschlag zur Verfügung stünden. Der Raketenschild
ist also ein entscheidender Faktor in dem Bemühen, eine nukleare Erstschlagkapazität
gegenüber Russland aufzubauen. Zwar ist zunächst geplant, nur zehn
Abfangraketen in Polen zu stationieren. Doch sofern das System erst einmal errichtet
ist, könnte deren Zahl leicht erhöht werden.
Dass diese strategischen Überlegungen bei derzeitigen amerikanischen Rüstungsanstrengungen
tatsächlich eine Rolle spielen, zeigt ein im April/Mai 2006 in „Foreign
Affairs“, der führenden außenpolitischen Fachzeitschrift, publizierter
Aufsatz. Der Essay trägt den Titel: „The rise of U.S. nuclear primacy“ [4] – zu
Deutsch: Der Aufstieg nuklearer US-Vorherrschaft. Die beiden Autoren, Keir A.
Lieber und Darley G. Press, stellten sich darin die Frage, ob China oder Russland
im Falle eines nuklearen Überraschungsangriff durch die USA in der Lage
wären, mit einem Zweitschlag zu reagieren. Um zu ermitteln, wie sehr sich
das nukleare Gleichgewicht seit dem Ende des Kalten Krieges verschoben hat, ließen
die Autoren im Computermodell einen US-amerikanischen Überraschungsangriff
auf Russland simulieren. Sie benutzten dabei die Methoden, die im Verteidigungsministerium
seit Dekaden verwendet werden. Das Ergebnis war, dass die russischen Verteidigungskräfte
weitgehend radarblind sind und selbst einen von U-Booten im Pazifik aus gestarteten
Angriff wahrscheinlich erst bemerken würden, wenn die ersten Raketen Moskau
erreichen. Selbst wenn ein Überraschungsangriff darauf verzichten würde,
zuallererst die Radaranlagen und die Kommandozentralen auszuschalten, wären
Lieber und Press zufolge die USA in der Lage, etwa 99 Prozent der russischen
Atomraketen im Erstschlag zu zerstören. Das verbliebene eine Prozent der
russischen Atomkapazität, das Moskau in einem Zweitschlag noch abfeuern
könnte, würde nach Ansicht der Autoren durch den Raketenschild neutralisiert
werden.
Dieser Artikel führt vor Augen, worin die eigentliche Funktion des Raketenschilds
besteht: Er soll den USA die Fähigkeit sichern, einen Atomkrieg zu führen,
ohne selbst von Gegenschlägen getroffen zu werden. Wäre diese Fähigkeit
erst einmal erworben, so ließe sie sich als geopolitisches Druckmittel
einsetzen, um nationale Interessen durchzusetzen. So könnte eine absolute
nukleare Überlegenheit etwa dazu dienen, einen Machtverlust auf wirtschaftlichem
oder finanzpolitischem Gebiet auszugleichen.
Mini Nukes und Bunker Busters
Dass es sich dabei um mehr als nur eine pessimistische Befürchtung handelt,
zeigen noch andere Aspekte der amerikanischen Rüstungsanstrengungen. So
entwickeln die USA derzeit Atomwaffen mit begrenzter Sprengkraft. Diese sogenannten
Mini Nukes werden wiederum zu speziellen bunkerbrechenden Waffen, sogenannten
Bunker Busters, weiterentwickelt. Das Besondere dieser Waffen ist, dass sie mit
hoher Geschwindigkeit auftreffen und sich einige Meter in die Erde eingraben
können und auf diese Weise im Idealfall unterirdisch explodieren.
Offiziell begründet man die Entwicklung dieser neuen Generation von Atomwaffen
mit dem Ziel, nur auf diese Weise tief unter der Erde befindliche Bunkeranlagen,
wie etwa im Iran, mittels der entstehenden Druckwelle zerstören zu können.
Doch diese Begründung ist zweischneidig. Zum einen hat man damit indirekt
zugegeben, dass die schon öfters von investigativen Journalisten aufgedeckten
Pläne, in einem möglichen zukünftigen Iran-Krieg Atomwaffen einzusetzen, [5]
durchaus ernstzunehmen sind. Und zum anderen besitzt nicht nur der Iran derartige
Bunker; auch entscheidende Kommandostrukturen der russischen Nuklearstreitkräfte
befinden sich in unterirdischen Bunkeranlagen. [...]
Um die Weltherrschaft
Es stellt sich die Frage, warum der Kalte Krieg trotz des Sieges des Kapitalismus
offensichtlich in eine zweite Runde geht. Oder sollte gar, jedenfalls in der
US-amerikanischen Rezeption, der alte „Kalte Krieg“ niemals aufgehört
haben?
Auch hinsichtlich dieser Frage finden sich Anhaltspunkte bei Brzezinski. Das
Russland-Kapitel seines Hauptwerks „Die einzige Weltmacht“, fällt
durch eine sehr polemische Überschrift auf. Er bezeichnet Russland als „Das
schwarze Loch“. Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion gesteht Brzezinski
Russland kaum noch das Recht auf einen eigenen geopolitischen Einflussbereich
zu. Das Bemühen, auf der Basis wirtschaftlicher Kooperationen und militärischer
Zusammenarbeit Einfluss in einigen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu bewahren,
wird von Brzezinski als „geostrategische Wunschvorstellung“ (S. 142)
verworfen. Dagegen entwirft er das Bild eines zukünftigen Russlands, das
seine Bestrebungen nach geopolitisch selbständigem Handeln weitgehend aufgegeben
hat und sich stattdessen in Fragen der Sicherheitspolitik der Nato und in Fragen
der Wirtschaftspolitik dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank
unterordnet. Die Tatsache, dass russische Außenpolitiker Belarus, die Ukraine
und andere ehemalige Sowjetrepubliken als ihre natürliche Einflusssphäre
ansehen, bewertet Brzezinski unterschiedslos als „imperiale Restauration“ (S. 168)
oder „imperialistische Propaganda“ (S. 288). Versuche,
in Zukunft eine geopolitisch bedeutende Position zurückzuerlangen, nennt
er „nutzlose Bemühungen“ (ebd.). An einer Stelle schlägt
Brzezinski sogar eine Spaltung Russlands in drei oder vier Teile vor: „Einem
locker konföderierten Russland – bestehend aus einem europäischen
Russland, einer sibirischen Republik und einer fernöstlichen Republik – fiele
es auch leichter, engere Wirtschaftsbeziehungen mit Europa, den neuen Staaten
Zentralasiens und dem Osten zu pflegen“ (S. 288 f.). Die
unverhohlene Arroganz, mit der sich Brzezinski 1997 über Russland äußerte,
zeigt, dass er dem ehemaligen Gegner im Kalten Krieg allenfalls die Rolle einer
Kolonie bzw. eines Dritte-Welt-Landes zuordnet.
Andererseits spiegeln diese Äußerungen aber auch Russlands reale Stellung
nach einer ganzen Serie wirtschaftlicher Rezessionen wider. Diese erreichten
1998 mit der Abwertung des Rubels ihren vorläufigen Höhepunkt. Russland
war seinerzeit hoch verschuldet und musste einen Teil seiner wirtschaftspolitischen
Souveränität, ganz wie ein Land der „Dritten Welt“, an
den IWF und die Weltbank abgeben. Brzezinski beendete denn auch sein Kapitel über
Russland mit den Worten: „Tatsächlich besteht das Dilemma für
Russland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde
genommen geht es ums Überleben.“ (S. 180)
„Politik der Schwächung“
Mittlerweile hat sich gezeigt, dass Russland – allen Prognosen
amerikanischer Außenpolitik zum Trotz – überlebt hat und
seine geographische Ausdehnung zu bewahren vermochte. Russland ist nicht länger
jenes „schwarzes Loch“, in dem ausländische Mächte nach
Belieben schalten und walten können.
Dieser Entwicklung trägt Brzezinski in seinem jüngsten, 2007 erschienenen
Buch „Second Chance“ (Zweite Chance) kaum Rechnung. Nach wie vor
befürwortet er eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Und nach wie vor bewertet
er das russische Bemühen, Einfluss in der Ukraine zu bewahren, als Imperialismus. [6]
Dabei war die Ukraine über 200 Jahre lang mit Russland verbunden. Nahezu
20 Prozent der Ukrainer sind Russen; hinzu kommen zahlreiche Bürger „gemischter“ Herkunft.
Und schließlich wird in weiten Teilen des Landes russisch gesprochen.
Doch die US-amerikanische Politik war von Anfang an auf die Schwächung des
einstigen Rivalen gerichtet. Dies zeigt auch die Wirtschaftspolitik des Westens
gegenüber Russland nach dem Fall der Berliner Mauer. Wie Naomi Klein in
ihrem jüngsten Buch nachzeichnet, hatte die Russland vom Westen aufgezwungene ökonomische
Schocktherapie vor allem den Sinn, das Land in einen billigen und von ausländischem
Kapital abhängigen Rohstoffexporteur zu verwandeln. [7] Einen besonders
deutlichen Ausdruck fand diese von Washington betriebene „Politik der Schwächung“ in
Brzezinskis Idee einer Drei- oder Vierteilung des Landes. Der Grund für
diese Politik ist vermutlich in der geographischen Lage Russlands zu suchen.
In „The Grand Chessboard“ findet sich eine Karte, auf der Brzezinski
das „eurasische Schachbrett“ darstellt. Darin ist der Doppelkontinent
in vier Regionen – oder, um bei der Schachmetapher zu bleiben – in
vier Figuren eingeteilt. Die erste Figur auf dem eurasischen Schachbrett umfasst
etwa die heutige Europäische Union, die zweite China einschließlich
einiger angrenzender Staaten, die dritte den Nahen und Mittleren Osten einschließlich
Teile Zentralasiens. Doch die mit Abstand größte Figur – die
Brzezinski die mittlere Region nennt – stellt Russland dar.
Der geopolitische Theoretiker Harold Mackinder hatte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts
eine ähnliche Einteilung vorgenommen. [...] Ebenso wie Mackinder im
Hinblick auf das britische Empire sieht auch Brzezinski knapp 100 Jahre
später den Machtkampf um die Vorherrschaft Eurasiens als die Schicksalsfrage
jedes herrschenden Imperiums an. Denn ebenso wie das britische Empire haben auch
die USA eine geographische Lage, die eher abseits der sogenannten „Welteninsel“ (Eurasien)
angesiedelt ist. Die USA müssen als nicht-eurasische Nation ihre Weltmachtposition
auf einem Kontinent durchsetzen und verteidigen, auf dem sie nicht zu Hause sind.
Sie könnten somit leichter als andere Staaten aus Eurasien verdrängt
werden. Dies wiederum zwingt die US-Außenpolitik zu einer umso größeren
und gewissermaßen präventiven Einflussnahme auf dem asiatischen und
europäischen Kontinent.
Russland ist somit in den Augen US-amerikanischer Geopolitiker die entscheidende
Figur auf dem eurasischen Schachbrett. Die Überwindung der ideologischen
Konkurrenz bedeutete nicht, dass auch die geographische Rivalität überwunden
wurde. Im Gegenteil, Russland ist aufgrund seiner geographischen Lage aus Sicht
der amerikanischen Geopolitiker so privilegiert, dass wahrscheinlich schon deshalb
eine präventive Schwächung Russlands ins Auge gefasst wurde.
Im Kampf um Europa
Die USA sind die größte Macht außerhalb Eurasiens. Wollen
sie den eurasischen Kontinent dominieren, so geraten sie automatisch in einen
Interessengegensatz zu Russland. Dabei ist Russland weit davon entfernt, die
stärkste Macht auf dem eurasischen Kontinent zu sein. Wirtschaftlich wird
Russland nie mit China und Europa konkurrieren können. Allerdings ist das
Land durch seine geographische Position im Zentrum der eurasischen Landmasse
und seinen Rohstoffreichtum langfristig in der Lage, eurasische Kooperationen
zu begründen.
So könnten etwa vertiefte Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und der
EU letztere in die Lage versetzen, eine transatlantische Orientierung durch eine
kontinentale zu ergänzen. Dies wiederum würde einen erheblichen Unabhängigkeitsgewinn
Europas gegenüber den USA bedeuten. Für eine zunehmende Ostorientierung
der EU spricht auch, dass russische und europäische Interessen langfristig
komplementär sind. Von russischer Seite besteht eine große Nachfrage
nach europäischer Technologie, während es Europa mittel- und langfristig
schwer gelingen wird, seine Energieversorgung ohne russische Vorräte sicherzustellen.
In ganz ähnlicher Weise könnte ein Bündnis zwischen Russland und
China, welches sich bereits in der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) herausbildet,
langfristig ein zweites weltwirtschaftliches Zentrum in Asien begründen.
Dies würde es den USA erschweren, ihren Einfluss im Nahen Osten und in Zentralasien
zu wahren. [...]
Die geographisch begründeten Interessengegensätze zwischen Russland
und den USA erklären die amerikanische Russlandpolitik seit dem Fall der
Berliner Mauer. Der neue Kalte Krieg erweist sich als die Fortsetzung des alten,
insofern dieser nie wirklich aufgehört hat. Der Kalte Krieg wurde fortgesetzt,
weil die USA mit dem Fall der Berliner Mauer nur eines ihrer beiden geopolitischen
Ziele erreicht haben. Das erste Ziel war zweifellos der Sieg des Kapitalismus über
den Sozialismus. Doch das zweite Ziel – dies wird erst jetzt im Zuge
der aktuellen Politik der USA deutlich – war die unangefochtene Vormachtstellung
der USA in Eurasien, um die Welt in eine post-nationalstaatliche Ordnung unter
US-amerikanischer Hegemonie zu überführen.
Die neuen Konkurrenten der USA
Doch dieser Traum amerikanischer Allmacht, den Brzezinski 1997 wie selbstverständlich
als legitim voraussetzt, ist in den letzten Jahren zunehmend unrealistisch geworden.
Durch den rasanten Aufstieg nicht nur Russlands, sondern auch Chinas und Indiens
rückt er in immer weitere Ferne. [...] Bereits zehn Jahre nach Brzezinskis
außenpolitischer Analyse sind die USA mit der Erschöpfung ihrer imperialen
Kräfte konfrontiert. Wie soll es dem Land erst möglich sein, einen
fremden Kontinent gegenüber einem selbstbewussten Russland und erstarkten
China zu dominieren? Die napoleonischen Kriege und der Zweite Weltkrieg sind
zudem Beispiele dafür, dass auch schon in der Vergangenheit alle Versuche,
vom Rande Eurasiens in sein – russisches – Zentrum vorzustoßen,
stets gescheitert sind. Wie werden sich die USA verhalten, wenn auch sie von
diesem Schicksal eingeholt werden?
Das hängt davon ab, ob es sich bei den von Brzezinski 1997 formulierten
Zielsetzungen um solche handelt, die pragmatisch fallengelassen werden können,
wenn sie sich als unrealistisch erweisen – oder ob es sich um Ziele
handelt, die so sehr mit der Identität des Landes, seinen Institutionen
und seiner politischen Führungselite verwachsen sind, dass sie letztlich
weder relativiert noch aufgegeben werden können.
Geht man vom günstigsten Fall aus, so würde dies bedeuten, dass die
US-Geopolitiker erkennen, dass die 1997 von Brzezinski formulierten Ziele sich
als nicht erreichbar erwiesen haben. Und dass die europäischen Politiker
einsehen, dass eine Neuauflage dieser Pläne in Gestalt einer transatlantischen
Zusammenarbeit letztlich nicht im europäischen Interesse liegt.
In den nächsten fünf Jahren könnte der US-Dollar seine Position
als vorherrschende Weltwährung einbüßen. Damit aber verlören
die USA auch einen erheblichen Teil ihrer Seignioragevorteile (Münzprägegewinne,
d.h. vom Staat bzw. von der Notenbank erzielte Erträge, die durch Geldschöpfung
entstehen – d. Red.), die wiederum die finanzielle Basis ihrer enormen
Rüstungsausgaben bilden. Viele der militärischen Basen außerhalb
der USA könnten dann nicht länger finanziert werden. Fortan müssten
sich die USA ihre Weltmachtposition mit eurasischen Konkurrenten wie China, Russland
und Europa teilen. Es wäre gut möglich, dass sie ihren Einfluss in
Zentralasien – infolge ihrer vergangenen Politik in dieser Region – gänzlich
verlieren. Umso absurder mutet es an, dass ausgerechnet jetzt, da die sogenannten
BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) ein enormes Wirtschaftswachstum
generieren, die Nato erstmals ein weltweites Gewaltmonopol für sich beansprucht. [...]
Die Welt des 21. Jahrhunderts wird voraussichtlich nicht mehr in demselben
Maße von den Vereinigten Staaten geprägt werden, wie dies im letzten
halben Jahrhundert der Fall war. In dem Maße, in dem unterschiedliche Kontinente
und Kulturkreise sich über ein übernationales Rahmenwerk der geopolitischen
Ordnung der Zukunft einig werden müssen, entsteht auch Raum für alternative
Entwürfe.
An die Stelle einer von den USA dirigierten Globalisierung könnte ein Prozess
der offenen Aushandlung zwischen ungefähr gleich starken Mächten treten.
Dadurch wäre der Westen weit mehr als bisher mit seiner eigenen Außenwahrnehmung
konfrontiert. Die heute noch allgemein akzeptierte Vorstellung vom „guten
Abendland“ dürfte erheblich ins Wanken geraten, wenn die Ausbeutung
der „Dritten Welt“, die Praxis des Schuldenimperialismus und die
Unterstützung von Diktaturen einmal Gegenstand einer geschichtlichen Erinnerung,
ja möglicherweise sogar gerichtlichen Aufarbeitung werden würde.
Die neue Vorkriegszeit
Doch vielleicht ist genau dies die Zukunftsprognose, gegen die letztlich Brzezinskis
Plan, einer US-Vorherrschaft in Eurasien gerichtet ist. Und möglicherweise
gilt dies nicht nur für Brzezinski, sondern für weite Teile der amerikanischen
Elite. Einiges spricht dafür, dass der Glaube an die legitime Vorherrschaft
der USA so eng mit dem Identitätsgefühl ihrer Elite verflochten ist,
dass auch das offensichtliche Scheitern dieser Politik in der Ära Bush
nicht zu einer neuen Orientierung führen wird. Der in Brzezinskis jüngstem
Buch „Second Chance“ entworfenen Plan durch eine vertiefte amerikanisch-europäische
Zusammenarbeit die Vorherrschaft über Eurasien zu erlangen, deutet darauf
hin. [8] Dies scheint der letzte Strohhalm zu sein, nach dem die USA – ob
unter Barack Obama oder John McCain – greifen könnten, um die
Einsicht abzuwehren, dass die Vorherrschaft des Westens über ganz Eurasien
weder politisch noch wirtschaftlich und erst recht nicht militärisch durchsetzbar
ist.
Welchen Verlauf würde die Geschichte nehmen, wenn die amerikanischen und
europäischen Geopolitiker – ungeachtet der neuen Machtverteilung – tatsächlich
am Plan der Vorherrschaft über Eurasien festhalten würden? In diesem
Fall müsste es zu einem Zusammenstoß verschiedener Großmächte
kommen – ob in Form eines kalten oder heißen Krieges.
Da ein neuer Kalter Krieg sich nicht im Gleichgewicht des Schreckens, sondern
in einer militärischen und technologischen Asymmetrie vollziehen würde,
wäre damit auch die Gefahr der Auslösung eines heißen Krieges
ungleich höher. So könnten sich etwa die Inhaber eines Raketenschildes
in falscher Sicherheit wiegen und den Krieg im Zuge einer diplomatischen Krise
auslösen. Umgekehrt könnte die unterlegene Seite – die über
keinen Raketenschild verfügt – den Krieg präventiv beginnen,
sofern sie davon überzeugt ist, dass die andere Seite dies ohnehin langfristig
plant. Der präventive Kriegsbeginn würde als asymmetrischer Ausgleich
für das nicht vorhandene Raketenschild fungieren.
Doch ein Zusammenstoß verschiedener eurasischer Akteure könnte sich
auch in Gestalt eines Stellvertreterkrieges ereignen. Der Ort eines solchen Zusammenstoßes
wären mit hoher Wahrscheinlichkeit die ölreichen Regionen des Nahen
Ostens und Zentralasiens. Wenn die durch Peak Oil hervorgerufene Energiekrise
erst einmal begonnen hat, dürften diese Regionen endgültig ins Fadenkreuz
aller Mächte geraten. [...]
Würde die geopolitische Konkurrenz in der Region zwischen Irak, Iran, Afghanistan,
Pakistan und einigen ehemaligen Sowjetrepubliken ähnlich ausgetragen werden
wie im vergangenen Jahrhundert auf dem europäischen Balkan, wären die
menschlichen Verluste kaum abzuschätzen. Auf dem eurasischen Balkan konkurrieren
weit mehr Mächte miteinander als einst auf dem europäischen Balkan.
Die wichtigsten Akteure sind Russland, die USA, die Türkei und der Iran.
In den letzten Jahren ist zudem der Einfluss Chinas, Indiens, Pakistan und der
EU immer spürbarer geworden. Insgesamt erstreckt sich der eurasische Balkan über
ein Gebiet, das mehrere hundert Millionen Menschen umfaßt. Der amerikanische
Historiker Niall Ferguson hat sogar die These vertreten, dass ein solch grenzübergreifender
Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan wahrscheinlich ist und letztlich
einen neuen Weltkrieg darstellen würde. Ferguson kommt zu dem Schluss, dass
die dann zu erwartenden Opferzahlen jene des Zweiten Weltkriegs übersteigen
könnten. [9] Die Veröffentlichung von Fergusons Artikel in der
vom Council on Foreign Relations herausgegebenen Zeitschrift Foreign Affairs
zeigt, dass der berühmteste außenpolitische Think-Tank der USA einen
ausufernden Bürgerkrieg auf dem eurasischen Balkan als eine Möglichkeit
ansieht, mit der zu rechnen ist.
Würde eine mächtige Koalition aus verschiedenen Staaten, ähnlich
wie die Nato 1999 in Jugoslawien, schließlich als friedensstiftende Macht
in einen solchen Konflikt eingreifen, so wäre sie nicht nur in der Position,
die Grenzziehungen des Nahen Ostens und Zentralasiens neu zu bestimmen. Eine
solche Koalition wäre dann auch in der Lage, die direkte militärische
Kontrolle über einen beträchtlichen Teil der weltweiten Öl- und
Gasvorräte auszuüben. Eine solche „friedensstiftende Koalition“ wäre
der eigentliche Gewinner in einem solchen Krieg. Denn die Kontrolle dieser Energiereserven
stellt einen so bedeutenden geopolitischen Machthebel dar, dass, wer immer ihn
besitzt, wohl auch der maßgebliche Hegemon des 21. Jahrhunderts sein
würde.
Europa als Zünglein an der Waage
Die Grundsatzentscheidung darüber, welchen Verlauf die Geschichte im
21. Jahrhundert nehmen wird, dürfte jedoch weder bei den USA noch bei
Russland liegen. Die Interessen beider Staaten sind zu eindeutig und programmatisch
zu festgelegt, als dass sie sich ernsthaft zwischen grundsätzlich verschiedenen
Alternativen entscheiden können.
Russland wird sein Interesse, die ehemaligen Sowjetrepubliken als seine natürliche
Einflusszone anzusehen, vermutlich nie fallenlassen. Umgekehrt scheinen die USA
wenig gewillt zu sein, ihre Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent kampflos
aufzugeben. Die Entscheidung in diesem „great game“ muss deshalb
bei einem geopolitischen Akteur liegen, der von verschiedenen Entwicklungsmöglichkeiten
profitieren könnte und somit wirklich vor einer Wahl steht. Die einzige
geopolitische Macht, auf die diese Beschreibung zutrifft, ist Europa.
Das von Brzezinski vorgelegte geopolitische Konzept amerikanischer Vorherrschaft
im 21. Jahrhundert erweist sich in jeglicher Hinsicht abhängig von
europäischer Kooperation. Ohne eine von der EU unterstützte Osterweiterung
der Nato erwiese sich der Plan, ein von den USA dominiertes transeurasisches
Sicherheitssystem zu schaffen, als unrealistisch. [...]
Europa ist somit für die Vereinigten Staaten ein unverzichtbarer Partner.
Europas eigene Interessenlage unterscheidet sich dagegen in wichtigen Punkten
von der amerikanischen. Seiner eigenen geopolitischen Lage nach kann Europa sowohl
atlantische als auch eurasische Kooperationen eingehen. Seinen eigenen Interessen
am nächsten käme eine Politik, die sich sowohl nach Westen als auch
nach Osten orientiert. Eine derartige Ostorientierung der EU versuchen die USA,
nicht zuletzt auch durch einen neuen Kalten Krieg zu verhindern – unter
Instrumentalisierung der osteuropäischen Staaten. Sollte es Brüssel
nicht gelingen, den Regierungen Polens und Tschechiens die Stationierung amerikanischen
Radar- und Abschussanlagen auszureden, so stellt sich die Frage, welchen politischen
Sinn und Zweck die Europäische Union eigentlich noch hat.
Brzezinskis geopolitische Analysen besitzen zwar eine Eigenlogik mit hoher Überzeugungskraft.
Doch dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Prämissen
falsch sind. Eurasien als Schachbrett zu betrachten ist auf den ersten Blick
eine originelle Idee. Doch wie so viele Ideen, die Geschichtsmächtigkeit
beansprucht haben, erweist sie sich bei genauerer Betrachtung als geistig leer
und politisch verheerend. Die Welt ist im 21. Jahrhundert multilateral eng
miteinander verflochten und damit klein und zerbrechlich geworden. Geopolitische
Machtspiele, die die Logik eines Schachspiels auf Kontinente übertragen,
werden dieser neuen Situation nicht gerecht. Es ist daher erforderlich, die geopolitische
Logik an sich zu relativieren und in Zweifel zu ziehen.
Statt den geopolitischen Machtkampf bis zum Äußersten zu treiben,
kommt es heute darauf an, der geopolitischen Logik eine Denkweise entgegenzusetzen,
die sich auf die Zivilisation als ganzes bezieht. Viel wichtiger als die Frage,
ob das 21. Jahrhundert ein amerikanisches, europäisches oder chinesisches
sein wird, ist die Frage, auf welchen Prämissen wir das Leben der menschlichen
Gattung begründen wollen. Die USA der Ära Bush haben mit Guantánamo
und der Grünen Zone in Bagdad ihre Vorschläge bereits eingereicht.
Es bleibt zwar abzuwarten, ob sie unter seinem Nachfolger, wer auch immer dies
sein wird, zu einer zivilisierenden Korrektur in der Lage sein werden. Sollte
jedoch das Streben nach globaler Vorherrschaft von den USA weiter verfolgt werden,
muss Europa reagieren. Als unabdingbarer Partner der USA verfügt nur die „alte
Welt“ über die Möglichkeit, den amerikanischen Plänen die
Unterstützung zu entziehen. Und Europa sollte dies im Interesse der Zivilisation
auch tun.
Fußnoten:
- Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft,
Berlin 1997, S. 307 – Dieses Werk im folgenden mit Seitenzahl
im Text. [back]
- Rede von Wladimir Putin auf der Konferenz für Sicherheitspolitik in
München am 10. Februar 2007, dokumentiert in: Blätter für deutsche
und internationale Politik, 3/2007, S. 374 (auch in jW v. 14. Februar 2007
- d. Red.) [back]
- Zbigniew Brzezinski, Second Chance, New York 2007 [back]
- Keir A. Lieber und Darley G. Press, The Rise of U.S. Nuclear Primacy, in:
Foreign Affairs, 2/2006, S. 42-54 [back]
- Seymour M. Hersh, The Iran Plans, in: The New Yorker, 17. April 2006 [back]
- Vgl. Brzezinski, Second Chance, New York 2007, S. 189 [back]
- Naomi Klein, Die Schockdoktrin, Frankfurt a. M. 2007, S. 303 – 364 [back]
- Vgl. Brzezinski, Second Chance, a.a.O., S. 186-188 [back]
- Niall Ferguson, The Next War of the World, in: Foreign Affairs, 5/2006 [back]
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