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Grossalbanien – Lüge oder Wunschtraum?
Neue Zürcher Zeitung 17. März 2004


Heftige Kontroversen um die Zukunft Kosovos

Im Prozess der Bildung von Nationalstaaten auf dem Balkan sind die Albaner verschiedentlich zu spät gekommen und leben heute über fünf Länder verteilt. In der Diskussion über die Zukunft Kosovos stellt sich Belgrad gegen eine Unabhängigkeit und warnt vor einem Großalbanien. Die Albaner bestreiten vehement derartige Absichten.


Im eisigen Wind weht der schwarze Doppeladler auf rotem Grund am Gebäude der albanischen Botschaft auf dem Zagreber Hauptplatz. Sowie alle andern Botschaften in Kroatiens Hauptstadt hissen auch die Albaner ihre Flagge. Die Albaner? Die Albaner Albaniens natürlich. Auch die Albaner Kosovos betrachten denselben Adler auf rotem Grund als ihr Wahrzeichen. Ihr Wappentier erlebt seit dem Abzug der Serben in der ehemaligen serbischen Provinz eine enorme Verbreitung, auf Fahnen, Feuerzeugen und Friedhöfen. Ob aber in Zagreb und andern Hauptstädten jemals ein weiterer schwarzer Doppeladlerauftauchen wird, jener eines unabhängigen Kosovos, ist völlig offen. In Serbien besteht die Befürchtung, dass die albanische Nationalflagge in Zukunft für einen neuen Staat wehen könnte, ein Großalbanien nämlich, das sich über sämtliche albanischen Siedlungsgebiete in Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kosovo, Montenegro und natürlich Albanien erstreckt. Einer solchen zweifellos blutigen Entwicklung würde, so die Behauptung in Belgrad, mit einer Unabhängigkeit Kosovos Tür und Tor geöffnet.


Konditionelle Unabhängigkeit für Kosovo

Eine vor kurzem erschienene Studie der in Brüssel domizilierten Expertengruppe International Crisis Group hat sich des Themas des Panalbanismus eingehend angenommen.* Der gut fundierte und sehr lesenswerte Bericht kommt zum Schluss, die Behauptung, wonach alle Albaner im Grunde ihrer Herzen nach einem Großalbanien trachteten, treffe eindeutig nicht zu. Eine Propagandalüge also? Die ehemaligen Rebellen in Kosovo wie auch ihre Schwesterorganisation in Mazedonien hätten sich zwar ursprünglich einer panalbanischen Rhetorik bedient und die entsprechenden nationalen Insignien verbreitet. Ihr politischer Erfolg habe sich aber erst dann eingestellt, als sie sich konkret um Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung in den Regionen ihrer Herkunft gekümmert hätten. Die in den vergangenen Jahren mit sporadischen Anschlägen in Kosovo und Mazedonien in Erscheinung getretene Albanische Nationalarmee, die klar großalbanische Ziele propagiert, wird als Randphänomen bezeichnet. Seit der strafrechtlichen Verfolgung von Führern dieser schattenhaften Organisation, unter anderem in der Schweiz, sei diese Bewegung bedeutungslos geworden. Es fragt sich allerdings, für wie lange. Dies hängt nach Meinung der Crisis Group vom Erfolg der internationalen Bemühungen ab, die Albaner Mazedoniens entsprechend dem Ohrid-Abkommen in den dezentralisierten Staat zu integrieren und in Kosovo eine taugliche Lösung zu finden. Als einzige gangbare Möglichkeit dafür wird eine konditionelle Unabhängigkeit der ehemaligen serbischen Provinz stipuliert. Praktisch bedeutet dies, dass die rund zwei Millionen Kosovo-Albaner erst nach glaubhafter Einhaltung umfassender Minderheitenrechte und anderer rechtsstaatlicher Prinzipien einen eigenen Staat bekommen sollen. Der in Belgrad für das Kosovo-Dossier zuständige Koordinator, Covic, hat den Bericht wegen dieses Punktes umgehend scharf kritisiert und der Crisis Group vorgeworfen, sie schüre mit dem Vorschlag Spannungen. Einer der Autoren wies in einer Belgrader Zeitung die Kritik einer Förderung Großalbaniens mit dem Argument zurück, dass in Albanien kein Mensch an einer Vereinigung mit Kosovo interessiert sei. Stimmt das?

Bei einem in den Medien in Pristina und Tirana als historisch taxierten, doch von der Weltöffentlichkeit nicht beachteten Besuch des albanischen Ministerpräsidenten Nano in Kosovo Anfang März hielt sich der Gast aus Tirana peinlichgenau an die international geltende Sprachregelung, wonach Kosovos Zukunft gemäß der Resolution 1244 einzig und allein vom Uno-Sicherheitsrat geregelt werden kann. Auf den von Präsident Rugova vorgebrachten Wunsch, Kosovos Bemühungen um Unabhängigkeit international zu unterstützen, ging er nicht näher ein. Hingegen unterstrich Nano den Willen einer verbesserten wirtschaftlichen Zusammenarbeit und betonte die Bedeutung der geplanten direkten Straßenverbindung, welche von Pristina über Prizren nach Tirana und den Hafen von Durres führen soll. Bis zum Systemwechsel in Tirana vor dreizehn Jahren verlief zwischen Albanien und Kosovo eine hermetisch abgesicherte Grenze, nachdem sich Enver Hoxha im Jahre 1948 von seinem Mentor Tito losgesagt und mit Stalin überworfen hatte. Währen des Zweiten Weltkriegs waren alle albanischen Siedlungsgebiete unter deutscher und italienischer Besetzung während vier Jahren vereinigt.


Gegensatz zwischen Tosken und Gegen

Die Begründung für Tiranas Ablehnung einer Vereinigung mit Kosovo wird in der Studie unter anderem mit dem latenten Gegensatz zwischen Tosken und Gegen, den beiden großen Bevölkerungsgruppen Albaniens, erklärt. Das Siedlungsgebiet der Tosken liegt im Süden Albaniens. Etwa vier Fünftel von ihnen sind Muslime, die übrigen orthodoxe Christen. Auch die im Norden lebenden Gegen sind überwiegend muslimisch. Eine Minderheit ist römisch-katholisch. Der kommunistische Widerstand gegen die Achsenmächte war von Tosken dominiert, auch Enver Hoxha stammt aus der südlichen Stadt Gjirokaster. Seine Partisanen waren 1945 widerspruchslos bereit, die damals bereits mehrheitlich von Albanern, allerdings Gegen, besiedelte Provinz Kosovo den Serben zuzugestehen. In den folgenden Jahrzehntenwaren die Tosken in Albaniens Politik in mancherlei Hinsicht tonangebend, was sich unter anderem in der Kodifizierung des toskischen Dialekts zur Nationalsprache niederschlug. Führende albanische Linguisten widersprechen allerdings dieser Sichtweise.

Es lässt sich nicht verbergen, dass auch die heutige politische Landschaft Albaniens seit dem Systemwechsel in zwei Lager gespalten ist; im Norden dominieren Berishas Demokraten, im Süden und im Zentrum Nanos Sozialisten. Dieses demographische Gleichgewicht würde sich in einem Großalbanien unweigerlich zuungunsten der Tosken verändern, da die albanische Bevölkerung Kosovos gegischen Ursprungs ist. Allein schon darum seien panalbanische Bestrebungen in Tirana höchst unpopulär, lautet die Beweisführung der ICG-Studie. Wie in andern Nationalbewegungen auf dem Balkan spielt auch bei den Albanern die Diaspora eine sehr wichtige Rolle, hauptsächlich aus finanziellen Gründen; allein in Deutschland und in den USA halten sich je etwa 400 000 Albaner auf, in der Schweiz sind es etwa 160 000. In diesen Gemeinschaften sei die Idee des Panalbanismus weit stärker verankert als in den albanischen Siedlungsgebieten, schreibt die Expertengruppe. Der Einfluss der Diaspora könnte längerfristig steigen, wenn Kosovos Status auf die lange Bank geschoben werden sollte.


* Pan-Albanism: How Big a threat to Balkan Stability? Europe Report Nr. 153. Einzusehen unter www.crisisweb.org
 17. März 2004